Krisenpolitik und die simple Kompliziertheit

Pandemie In Coronazeiten nehmen Debatten über autoritäre Tendenzen zu – häufig undifferenziert. Reden wir über das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit in liberalen Demokratien

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Differenzierte Kritik, bitte
Differenzierte Kritik, bitte

Foto: John Macdougall/AFP/Getty Images

Dieser Tage wird dem Staat als politischer Ordnungsinstanz und seinem Agieren in breiten Teilen der Öffentlichkeit eine ungewöhnliche Aufmerksamkeit geschenkt. Was er darf und was nicht – das steht zur Debatte, wenn über das richtige Vorgehen in der COVID-19-Pandemie gestritten wird. Beschränken wir unseren Blick – der Einfachheit halber – auf Deutschland, so ist eine zunehmende und merkwürdig unsicher entschlossene Spaltung zu vernehmen.

Polarisierte Unsicherheit

Einerseits offenbart sich das enorme Potenzial ohnmächtiger Ergebenheit. Was der Staat, also die Landesregierungen, beschließt (und somit vorschreibt oder verbietet, einschränkt), wird bereitwillig umgesetzt; jegliche Kritik wird zornig abgeschmettert und teilweise offenkundig eine noch härtere Gangart gewünscht, ja gefordert. Manch eine*r wünscht sich mehr Entscheidungsbefugnisse für und Disziplinarmaßnahmen von den Landesherren (zumeist sind es Herren) oder – was soll dieser Föderalismus – der Bundeskanzlerin, die ja vielleicht doch noch eine oder viele Amtszeiten machen könnte. Einige Verhaltens- und Argumentationsmuster, die sich nun ans Licht wagen, erinnern unangenehm an Paradebeispiele für den autoritären Charakter, wie Erich Fromm ihn in den 1930er Jahren konzipierte und wie wir ihn beispielsweise in Heinrich Manns Der Untertan verfolgen können. Es ist verblüffend, wie virulent dieses Gebaren auch in linken, in linksradikalen Kreisen ist. Anmerken möchte ich an dieser Stelle, dass es sich hier nicht um einen generellen Vorwurf gegenüber Menschen handelt, die vernünftigerweise die Maßnahmen befolgen, Abstand halten und Mund- und Nasenschutz tragen; Vorsicht ist wichtig. Die Diagnose autoritärer Gelüste bezieht sich auf die leider verbreitete Fetischisierung und Pervertierung von Schutzmaßnahmen.

Andererseits wächst auch die plumpe Ablehnung jeglicher Einschränkungen und Vorsichtsgebote. Das meint nicht nur die Bereitschaft zur Verharmlosung des Virus und die Enervierung über Einschränkungen. Wut und Zorn auf die politisch Lenkenden dieser Welt wachsen und werden – wie es sich in den letzten Jahren so etabliert hat – in kruden Querfrontformaten, die sich schnell als rechtsradikal und verschwörungstheoretisch entpuppen, auf die Straßen getragen, aber natürlich vorrangig in diverse Blogs und Social-Media-Kanäle. Nicht alle gehen soweit wie der rechtsradikale Verschwörungsphantast Xavier Naidoo und zweifeln daran, dass es Viren überhaupt gibt, aber in jedem Fall sollen doch böse Pläne der Regierungen dahinterstecken, im Idealfall ist das Virus menschengemacht (China, USA, Bill Gates, wer auch immer). Auch hier findet sich zunehmende Zustimmung in linken Kreisen, so ist die Expansion restriktiver Maßnahmen, die umfangreiche Einschränkung bürgerlicher Freiheiten, gerade besorgniserregend, wenn man den Staat in erster Linie als Repressionsapparat zur Durchsetzung von Kapitalinteressen begreift und sich ein wenig mit der schleichenden Erosion von Demokratien und dem Entstehen autoritärer Staaten (in Ungarn hat Orban mit seinen Maßnahmen die Gunst der Stunde mal wieder genutzt) befasst. Die Anwendung so mancher theoretischer Versatzstücke auf diese Situation erweist sich aber nicht als angemessen, da Annahmen, dass Corona als Vorwand zur Abschaffung von Demokratie und jeglicher Freiheiten benutzt wird, Fragen bezüglich des Verhältnisses von Staat und Kapital aufwerfen. Auch offenbart sich in intellektualistischen Debatten um Corona – um eine marxsche Floskel zu adaptieren – das Elend der Philosophie, gerade wenn in die Jahre gekommene Männer (besonders Giorgio Agamben und seine Suche nach dem Ausnahmezustand) ihre Theorien und Gedanken jetzt in philosophischen Schnellschüssen auf tagespolitische Entwicklungen anwenden wollen und dabei konsequente Realitätsverweigerung betreiben.

In der herrschaftskritischen Fixierung auf die liebsten Alpträume wird auf gefährliche Weise missachtet, dass eine Pandemie sehr wohl Einschränkungen des gesellschaftlichen Lebens erfordert, um nicht humanitäre Katastrophensituationen zu provozieren. Wir erleben eine polarisierte Unsicherheit, die man sich immer weniger eingestehen will. Ein differenzierter Blick mit kritischer Haltung ist dabei gar nicht so schwer; die gegenwärtige Situation stellt eine simple Kompliziertheit dar, wie ich etwas unsystematisch in den folgenden Abschnitten erörtern werde.

Zur Normalität

Die Sehnsucht nach Normalität, nach einer Rückkehr zur Normalität ist derzeit groß. Von politischer Seite hören wir es, es geht darum, wieder dahin zu kommen, wo wir waren. Die Wirtschaft drängt auf ein Zurück-zur-Normalität. Aber dann hören wir immer wieder, es wird dieses zurück nicht geben, nein, dieses geschichtsträchtige Ereignis sei zu einschneidend und überhaupt befinden wir uns doch erst am Anfang – nicht absehbar, was noch geschehen wird. Richtig, es gibt kein zurück zur vorigen Normalität. Aber auf Normalität folgt neue Normalität. Und eines müssen wir uns beim berechtigten Wunsch, dass die jetzige Ausnahmesituation nicht die neue Normalität wird, klar machen: Die alte Normalität, die jetzt vermisst wird, ist das Alltagsleben in einer Gesellschaft voller Ausschlüsse und Ungleichheiten; das Leben in einer Gesellschaft, in der für viele der Alltag die Krise ist und umgekehrt Krise Teil des Alltags ist. In der gegenwärtigen virusbedingten Krise zeigen sich diese Ungleichheiten noch stärker, sie werden multipliziert. Welche neue Normalität sich bilden wird und ob sie autoritärer und ungleicher oder freier, demokratischer, oder gar egalitärer sein wird, wissen wir nicht (spekulieren können wir aber selbstverständlich).

Was geschehen wird, was langfristig und auch kurzfristig die Maßnahmen sein werden, ist schwer zu bestimmen, da die Verhältnisse, in denen politische Akteure handeln, verworren und ambivalent sind. Gerade in der gegenwärtigen Situation zeigen die Reaktionen der Staaten (also der Regierungen) innere Konflikte, vor allem in der Bestimmung des eigentlich hervorragenden und wechselseitig konstitutiven Verhältnisses von Staat und Kapital: 1) Der starke Staat kann sich rehabilitieren. Nicht erst seit Corona lassen sich Renationalisierung, Deglobalisierung und eine Erosion des Multilateralismus beobachten. 2) Der Staat ergreift restriktive Maßnahmen, die Wirtschaftsinteressen (die sonst Basis politischer Entscheidungsfindung in kapitalistischen Staaten sind) fundamental entgegenstehen.

Ginge es nach der Wirtschaft, hätte es nie Beschränkungen gegeben. Diese Beschränkungen gibt es nur, um größeres Chaos zu vermeiden, da anerkannt werden muss, dass wir es nun einmal tatsächlich mit einer Pandemie zu tun haben. Es gibt Umstände, unter denen ein Staat existenziell leiden kann. Wenn eine Pandemie seine Bevölkerung ergreift, ist eine existenzielle Not für den Staat da. Und so können wir das Ausprobieren autoritärer Qualitäten in liberalen Demokratien beobachten, die dem Narrativ folgen, dass die Bürger*innen ohne Sanktionsandrohungen Verhaltensempfehlungen nicht folgen würden. Ein Extrembeispiel ist Frankreich, das jedoch sowieso ein ausgesprochen autoritatives Modell liberaler Demokratie darstellt und seit Jahren im Ausnahmezustand regiert wird. Diese Restriktionen wiederum können nachhaltig Kapitalinteressen retten oder stärken, denn ohne vitale, produktions- und konsumfähige Menschen ist die Wirtschaft am Ende. Kurz: Es ist kompliziert.

Insofern erscheint es doch nicht überzeugend, umfassende Strategien (schon gar nicht langfristige) hinter dem gegenwärtigen politischen Handeln zu vermuten. Die langweilige Wahrheit des Handelns der Bundesregierung (und traurigerweise auch der Opposition) ist wohl wirklich der Wunsch nach der alten Normalität.

Denormalisierungspolitik

Politik bedeutet in letzter Konsequenz Entscheidungen zu treffen. Die spannende Frage, um die es quasi in jeder Theorie des Politischen geht, ist, wer mit oder ohne welcher Legitimation wie, mit welchen Mitteln über wen bestimmen darf bzw. kann. Genau darum geht es letztlich in den immer wilder werdenden Debatten um das Handeln der Regierungen auch jetzt. Das Vorgehen in dieser Zeit der Pandemie schließt aber an Mechanismen, die sich im 21. Jahrhundert verstetigt haben, an und stellt nichts Neues dar.

Die politischen Narrationen erzählen nur noch von Krisen. Krisen bedeuten Denormalisierung, Krisenpolitik ist also Denormalisierungspolitik. Ab 2008 hatten wir die Wirtschaftskrise (gerne nur „Eurokrise“ oder „Finanzkrise“ genannt), speziell ab 2014 globale Migrations- und Fluchtbewegungen als Krise, zuletzt wurde der Klimawandel im großen Krisenmodus verhandelt und nun die COVID-19-Pandemie. Diese Krisen werden als Ausnahmesituationen verhandelt, die auf bestimmtem politischen Handeln und Nichthandeln basieren und denen mit bestimmten politischen Handlungen begegnet wird. Dies geschieht im Kontext zunehmender gesellschaftlicher Polarisierung, in der Ausdifferenzierung politischer und ideologischer Positionen und Kategorien und in der grundlegenden Herausforderung dominanter liberaler Ordnungsvorstellungen. Politik findet zunehmend in Krisennarrationen statt, die durchaus hart umkämpft sind; es lässt sich ein permanenter Kampf um Deutungshoheit beobachten. Die spätmodernen (westlichen) Gesellschaften, in denen um Ideen und Hegemonie gekämpft wird, sind im Wandel.

Die drei großen Krisennarrative, die die große Politik seit circa 2014 bestimmen (Migration, Klima, Corona), zeigen durchaus verbindende Elemente: Es geht grundlegend selbstverständlich um Fragen von Macht- und Herrschaftsverteilung und -ausübung, es geht um die Zukunft und den Wandel demokratischer und liberaler Ordnungsmodelle und es geht auch ganz wesentlich um grundsätzliche Fragen zum Verhältnis von Freiheit und Sicherheit.

Freiheit und Liberalismus

Alle genannten Krisenerscheinungen zeigen, dass es um so etwas wie universelle Freiheitsansprüche schlecht bestellt ist in der vermeintlich liberalen Ordnung der westlichen Welt. So bedeutet die Freiheit der einen mehr Unfreiheit für andere. Um es mit Karl Marx zu sagen: „Kein Mensch bekämpft die Freiheit; er bekämpft höchstens die Freiheit der andern.“1 Genau das steht hinter den Erzählungen der freien, offenen Gesellschaft. Wenn bestehende Freiheiten eingeschränkt werden, wird dies mit dem Schutz und der Sicherheit aller begründet. In ausdifferenzierten, hierarchischen Gesellschaften sind Freiheit und Sicherheit keine Gegensätze, sondern eng miteinander verwoben, wie die derzeitige Situation zeigt.

Der sogenannte Neoliberalismus will freie, zügellose Märkte, die von autoritären Staaten verteidigt werden. Die wirtschaftliche Freiheit wird gefördert, während die politische Freiheit minimiert wird – der wirtschaftliche Liberalismus wird gegen den politischen ausgespielt. Und so bedeutet die Freiheit des Liberalismus gegenwärtig eine Verstärkung und Verfestigung von Ungleichheiten und somit für die meisten Menschen mehr Unfreiheit. Diese hierarchische Struktur, die eine Konsequenz der neoliberalen Ordnung ist, harmoniert also hervorragend mit politischen Ideen, die antiliberal und autoritär sind, die auf gesellschaftliche Schließung aus sind, die Rassismus, Antisemitismus, Klassismus und Sexismus fördern. Die dominanten Leitideen der Moderne (Menschen- und Bürgerrechte sowie Demokratie) werden herausgefordert von den negativen Leitideen der Moderne (multiple Ausschlüsse).

Ja, das „rechtliche Gleichheitsversprechen der Aufklärung [wurde] auf den Trümmern sozialer und ökonomischer Ungleichheit errichtet“2 und da steht es noch immer.

Postliberale Demokratie?

Wir erleben in der westlichen Welt, in der vermeintlich liberale Demokratien den Ton angeben, die Entwicklung in eine postliberale, autoritäre Demokratie. Diese Entwicklung erfolgt schleichend im Rahmen der Denormalisierungspolitiken, die den Krisennarrationen folgen. Der Rückgang liberaler Demokratie basiert auch auf den schon eingangs erwähnten Aspekten der Renationalisierung, Deglobalisierung und Erosion des Multilateralismus. Migrationskrise, Klimakrise und Coronakrise veranschaulichen alle drei Aspekte.

Die Frage nach Wahrheit und Lüge bestimmt einen nicht unwesentlichen Teil der öffentlichen Auseinandersetzungen mit diesen Krisen und diese Frage leitet auch den Wandel liberaler, spätmoderner Demokratien mit an. Während Fake News und Alternative Facts tatsächlich nicht nur Kampfbegriffe, sondern reelle Phänomene und Probleme sind, die neue Qualität erlangt haben, sind die auf Faktizität versessenen Gegenbewegungen nicht minder besorgniserregend. Denn diese suggerieren, es gäbe die Möglichkeit ideologiefreier Politik, die auf Fakten basiere, wenn man nur auf die Wissenschaft höre. Die Überhöhung eines unverrückbaren Anspruchs auf die Faktizität und Wahrhaftigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse ist eine missverstehende Ableitung der Aufklärungstradition, die – wenn ich mich an Theodor W. Adornos und Max Horkheimers Darstellungen orientiere – zu gefährlicher Mythenbildung führt und die Schattenseiten der Aufklärung befördert. Ungewollt drückt sich darin der Wunsch nach einem technokratischen, ja autoritären, elitären Umbau des Herrschaftsapparats aus.

Wir müssen uns also zwischen diversen Widersprüchen bewegen. Physical Distancing und die Suche nach Freiräumen (etwa zum Protestieren) gehen momentan miteinander einher. Die Notwendigkeit bestimmter Einschränkungen anzuerkennen geht damit einher, die Politik aufmerksam und kritisch zu begleiten. Und diese kritische Beobachtung und Analyse, ohne in sensationsgeile Verschwörungsphantasien abzudriften gilt grundsätzlich für uns (als politische Menschen). Die Welt ist im Wandel, auf so vielen Ebenen, und die Tendenzen sind besorgniserregend. Also denken wir doch über bessere Versionen der Zukunft nach.

1Marx, Karl (1981[1842]): Die Verhandlungen des 6. rheinischen Landtags, in: MEW Band I, Berlin: Dietz Verlag, S. 51.

2Salzborn, Samuel (2015): Kampf der Ideen. Die Geschichte politischer Theorien im Kontext, Baden-Baden: Nomos, S. 28.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Julius Wolf

Über Politik, Gesellschaft, Emanzipation und Antiemanzipatorisches.

Julius Wolf

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