Progressive Regression und die Verwaltung des Status quo

Kulturkampf Ob es um die Selbstbestimmung von inter und trans Personen geht, um sexuelle Selbstbestimmung oder das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche: Die Kämpfe darum werden global als Kulturkämpfe zwischen Progression und Regression ausgetragen.

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In der zeitdiagnostischen Beobachtung (gesellschafts-)politischer Entwicklungen oder Phänomene lässt sich vieles leicht unter Stichworte wie „Progression“ und „Regression“, „Emanzipation“, „Backlash“ und so weiter subsumieren. Der Begriff „Entwicklung“ kann dabei deterministisch als Ausdruck einer Fortschrittsgeschichtsschreibung ausgelegt werden, oder – eher in meinem Sinne – lediglich als Ausdruck der unvermeidlichen Prozesshaftigkeit, in der Ereignisse aufeinanderfolgen. Dass wir gegenwärtig eine – besonders auf liberale und demokratische Errungenschaften bezogen – Regression erlebten, ist eine verlockende und oberflächlich einleuchtende These, aber auch leicht angreifbar. Das Festhalten an Erzählungen vom bigger picture, in dem letztendlich (trotz einzelner Rückschritte im Kleinen) eine vielleicht langsame, aber dennoch progressive und emanzipatorische Entwicklungstendenz zu erkennen sei, ist aber vermutlich auch nicht uneingeschränkt überzeugend. Gesellschaftspolitische Liberalisierungsprozesse schreiten zweifellos (über lange Zeiträume) voran, auch wenn das aus Sicht diskriminierter und marginalisierter Personen, die für die (formale) Durchsetzung von Rechten, die seit der Aufklärung als universelle Versprechen in „westlichen“ Kulturkreisen kursieren, natürlich zu langsam sein muss und kein Trost für die eigene Ausgeschlossenheit sein kann. Jedoch sind Gegenbewegungen stark und sichtbar.

Zudem stehen so viele weitere große Themen zur Debatte, die womöglich zunehmend verhärtete Fronten aufeinanderprallen lassen. Schließlich, so scheint es, werden quasi nur noch existenzielle Zukunftsfragen verhandelt. Es geht um Klima, Migration, Krieg und Frieden, Rohstoffe, Energieversorgung, und nebenbei muss man sich auch Sorgen um den Fortbestand der ein oder anderen etablierten liberalen Demokratie machen – abgesehen von den Pathologien bezüglich Repräsentation und Legitimation, die diese Systeme kennzeichnen. Sowieso hängen all diese Dinge auf die ein oder andere Weise zusammen und – ob wir wollen oder nicht – all das hängt dann auch noch mit dem Wirtschaftssystem zusammen; immer geht es auch um Kapitalismus, Kapitalismen und Alternativen.

Tagespolitik im Zusammenhang zu beobachten und einzuordnen ist lästig, aber immer einen Versuch wert und zweifellos wichtig, um über die Zeit, in der wir leben und die Zeiten, in denen andere leben werden, nachzudenken. Und schließlich geht es ja auch darum, etwas zu verändern (auch wenn wir uns nur unwahrscheinlich einigen können, was und wie verändert werden sollte). Bei einer exemplarischen und willkürlichen Zusammenstellung einiger Themen und Ereignisse der letzten Tage oder Wochen sehe ich weder Progression noch Regression, sondern das übliche Verwalten des Status quo, ob in Deutschland oder in der großen Weltpolitik. Das Verwalten des Status quo, mit einigen Lichtblicken und einigen Ernüchterungen. Aber auch diese Beobachtung ist es wert, im Folgenden grob skizziert zu werden.

Der Hass auf die Selbstbestimmung der Anderen

Deutschland wird von einer Koalition regiert, die permanent kurz vor dem Auseinanderbrechen steht – besonders aufgrund eines täglich zutage tretenden Spannungsverhältnisses zwischen FDP und Grünen. Nachdem man sich auf einen schwammigen Text für den Koalitionsvertrag einigen konnte, prallen nun ständig ganz unterschiedliche Interpretationen des Textes aufeinander. Umso wichtiger sind da also die Themen, bei denen in der Koalition Einigkeit besteht. Gesellschaftspolitische Themen, bei denen es grob gesagt um Liberalisierungen, um Freiheitsrechte geht, sind der gemeinsame Nenner der Regierung. So wurden nun die nicht sonderlich überraschenden Eckpunkte für das potenzielle „Selbstbestimmungsgesetz“, welches eines Tages das diskriminierende und vom Bundesverfassungsgericht teilweise für verfassungswidrig erklärte „Transsexuellengesetz“ ablösen soll, vorgestellt. Das Thema ist bereits lange auf dem Tisch und scheiterte in den vergangenen Legislaturperioden konsequent an CDU und CSU. Also war es selbstverständlich, als sich die „Ampel“-Koalition zusammenfand, dass dieses Thema gemeinsam zügig angegangen werden muss. Mehrheiten im Bundestag gibt es dafür schon lange, aber jetzt auch die entsprechende Regierung, bei der kein Koalitionszwang die erfolgreiche Abstimmung vermiesen kann.

Worum geht es? Namensänderungen und Änderungen von Geschlechtseinträgen sollen in Zukunft einfacher und ohne die bisherigen Schikanen und Hürden möglich sein. Für inter, trans und nicht-binäre Personen kann das eine enorme Erleichterung sein und schaden würde es niemandem. Keine langwierigen Bedenkzeiten und quälenden Untersuchungen mehr, sondern – wie beim Beantragen eines neuen Personalausweises – zum Amt gehen und ändern. Das ist eine formale Erleichterung, die noch keine gesellschaftliche Stigmatisierung und Diskriminierung für die betroffenen Menschen abbaut. Von vielen Dingen wird eine nicht-binäre Person weiterhin ausgeschlossen sein und sie wird immer noch nicht in bestehende Geschlechternormen passen. Die Sorgen und Warnungen von Kritiker*innen, dass eine solche prozedurale Lockerung dazu führen würde, ausgenutzt zu werden, sind ein wenig absurd und weithergeholt. Kritik*innen von einer anderen Seite sind enttäuscht, dass die vorgestellten Eckpunkte sich auf verwaltungsrechtliche Vorgänge beschränken und keine Regelungen zu medizinischen Leistungen beinhalten (wie z. B. kostenlose Transitionsoperationen für trans Menschen). Insgesamt handelt es sich nun einmal um einen Kompromiss, der den Anspruch hat, vermittelbar zu sein und der Öffentlichkeit standzuhalten. Bei aller möglichen Kontroverse können die Eckpunkte zum Selbstbestimmungsgesetz als ausgearbeiteter Gesetzentwurf sicherlich Ende des Jahres durch das Kabinett gehen und vielleicht in einem Jahr in Kraft treten. Wer mehr Selbstbestimmung, Partizipation und Gleichheit will, kann das als Progression feiern.

Gleichzeitig sind die Menschen, um die es in dem Gesetz geht und auch Menschen, die der Geschlechternorm (Mann und Frau) zwar entsprechen, aber nicht einer Sexualnorm (Heterosexualität), enormer Ablehnung und Hass ausgesetzt. Denn auch Rechtsradikalismus, gesellschaftspolitischer Extremkonservatismus und verschiedene religiöse Fundamentalismen haben Auftrieb und erkämpfen sich Sichtbarkeit. Und das ist gefährlich, wie der jüngste Fall aus Oslo zeigt, wo ein islamistischer Anschlag auf einen Queer-Club stattfand, bei dem zwei Menschen getötet und viele weitere verletzt wurden. Nicht ganz zufällig fand auch das im „Pride Month“ statt. Der Hass auf die Selbstbestimmung der Anderen ist selbstbewusst.

Wer verfügt über welche Körper? Ein globaler Kulturkampf

Ein anderes brisant debattiertes Thema, bei dem es um Selbstbestimmung und gesellschaftspolitische Öffnungs- bzw. Schließungsprozesse geht, ist das Abtreibungsrecht. Eine Meldung dazu kommt aus den USA, wo die Konservativen zwar schon lange keine gesellschaftliche Mehrheit mehr, aber per Wahlkreiszuschnitten und dank eines zu ihren Gunsten besetzten Supreme Court sehr viel Macht haben. Dort wurde das seit fast 50 Jahren geltende Grundrecht auf Abtreibung (resultierend aus dem Grundsatzurteil „Roe vs. Wade“ von 1973) gekippt. Eine andere Meldung kommt wieder aus Deutschland, wo im Streit um das sogenannte „Werbeverbot“ für Abtreibungen Lockerungen beschlossen wurden: Ärtz*innen dürfen künftig über Angebote informieren – weitgehend illegal bleiben Schwangerschaftsabbrüche jedoch. Gegenwärtig polarisiert dieses Thema (wieder) enorm, auch in Deutschland – das können auch keine Streitereien um Waffenlieferungen an die Ukraine und Sorgen vor Gasknappheit verdrängen. Also blicken wir kurz auf beide Fälle.

Der Supreme Court hat also das Recht auf Abtreibung gekippt und begründete dies damit, dass es keine Verankerung eines solchen Rechts in der Verfassung (von 1787!) gibt. Damit liegt die entsprechende Gesetzgebung nun bei den einzelnen Bundesstaaten, da es kein landesweites Gesetz dazu gibt. Und da die Entscheidung, ob und wie Abtreibungen erlaubt sind, nun bei den Einzelstaaten liegt, haben einige bereits reagiert bzw. werden es noch tun. Besonders schnell war Alabama, wo direkt ein Gesetz zu einem generellen Abtreibungsverbot in Kraft trat. In etwa der Hälfte der Bundesstaaten werden Abtreibungen verboten oder eingeschränkt, wenn die entsprechenden Gesetze nicht bereits verabschiedet wurden. Im Süden und Mittleren Westen kann man generell von Verboten ausgehen, während die West- und Ostküste bei liberalen Regelungen bleiben; New York will „sicherer Hafen“ für Betroffene werden. Die übliche (kulturelle) Spaltung zwischen Landesinnerem und den Küsten verhärtet sich auch an dieser Front.

Tatsächlich hatten bereits einige konservativ regierte Staaten Verschärfungen der jeweiligen Abtreibungsgesetze beschlossen, die gegen das bis vor kurzem geltende Grundsatzurteil zum Grundrecht auf Abtreibung verstießen. Besonders perfide daran ist, dass dies genau in der Erwartung geschah, dass gegen diese Abtreibungsgesetze geklagt werden würde und somit der Supreme Court entscheiden müsste – wie es jetzt geschah (aufgrund einer Klage in Mississippi, wo das erneuerte Gesetz Abtreibungen nach der 15. Schwangerschaftswoche verboten hatte). Und wie der Supreme Court nun entschied, war absehbar. US-Präsident Joe Biden bezeichnet als Reaktion auf die Entscheidung den mehrheitlich – nun ja, wohlwollend gesagt – konservativ besetzten Supreme Court als „extremistisches Gericht“, das die USA in die Vergangenheit zurückversetze. Das Thema wird heiß bleiben. Aktuell kann Biden, auch wenn er es vielleicht wirklich will, kein Gesetz durchbekommen, das Abtreibungen landesweit zu einem Recht machen würde. Und wenn die Republikaner im Kongress stärker werden (was dieses Jahr noch passieren kann), könnten sie im Herbst auch ein Gesetz durchbekommen, dass Abtreibungen generell verbieten würde. Beides geht aktuell nicht.

Mit derlei Entscheidungen des Supreme Court wird es weitergehen, denn Donald Trump nutzte die Chance, die Mehrheitsverhältnisse im Obersten Gericht nachhaltig zu Gunsten einer reaktionären bzw. rechtsradikalen Judikative zu verfestigen – abgesehen davon, dass er insgesamt im dreistelligen Bereich Richter*innenposten neu besetzte.

Einigermaßen zeitgleich fällt in Deutschland der Paragraf 219a des Strafgesetzbuches. Der Bundestag konnte endlich die ersatzlose Streichung des sogenannten „Werbeverbots“ für Schwangerschaftsabbrüche beschließen, das nicht mehr bedeutet als dass nun ein Informationsrecht für Ärzt*innen besteht. Der Weg von einer ungewollten Schwangerschaft bis zur Beendigung, die weiter in hohem Umfang illegal bleibt, ist dadurch wohl nicht so sehr viel weniger schwer. Um das zu ändern, müssten – wie auch von der Linken und Teilen der Regierungsfraktionen gefordert – die Paragrafen 218 und Folgende raus aus dem Strafgesetzbuch. Diese Paragrafen fanden mit der Gründung des Deutschen Reichs 1871 Einzug ins Recht. Seitdem ist geregelt, dass eine Schwangere ihre Schwangerschaft auch auszutragen hat. Eine „Straftat gegen das Leben“ seien Schwangerschaftsabbrüche, die nur schwer erlaubt durchführbar sind. In den ersten 12 Wochen nach Befruchtung sind sie straffrei nach einer Pflichtberatung und Wartezeit und auch bei Lebensgefährdung der Schwangeren oder Schwangerschaft als Ergebnis einer Vergewaltigung sind Abtreibungen nicht verboten. Aber die Erwähnung von Ärzt*innen, dass sie Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, war bislang illegal. Im Januar legte Justizminister Marco Buschmann nun einen Gesetzentwurf vor, der mittlerweile erwartungsgemäß durch das Parlament gegangen ist – ein kleiner Schritt der Lockerung, während anderswo die große Regression zu befürchten ist.

Progressive Regression

Schwangerschaftsabbrüche sind global umkämpft und ein Ausdruck des Kulturkampfs oder eher von Kulturkämpfen. Und ob Schwangerschaftsabbrüche legal oder illegal sind, sagt durchaus auch etwas über den Zustand einer Demokratie aus: Schließlich kann ungefähr die Hälfte der Menschheit potenziell schwanger werden, aber selten bzw. in geringem Umfang entscheiden die Betroffenen selbst mit darüber, ob ein Abbruch erlaubt ist. Und emanzipatorische Kämpfe drücken genau das immer aus: Hier gibt es Defizite in der Entscheidungsfindung, hier sind Menschen von Wesentlichem ausgeschlossen, das sie selbst aber betrifft. Mit diesem Problem hat die Demokratietheorie zu tun, aber auch in unserem Alltag haben wir alle auf die ein oder andere Weise damit zu tun. Die globalen Konflikte drehen sich alle um Verteilung von Gütern, Produktionsmitteln, Geld, um den Zugang zu Ressourcen und Rechten. Es sind Kämpfe, die mit oben vs. unten oder reich vs. arm nicht falsch, aber auch nicht ausreichend beschrieben sind. Verschiedene Spaltungslinien werden in den Sozialwissenschaften und der politischen Publizistik gerne bemüht: Beliebt ist das Bild des liberalen Kosmopolitismus, dem ein autoritärer Kommunitarismus gegenüberstehe. Nicht so sehr anders ist das Bild vom progressiven und regressiven Neoliberalismus, der von einem autoritären Populismus herausgefordert werde. Wäre das emanzipatorische Gegenmodell dazu, dass die Achsen Selbstbestimmung vs. reaktionärer Traditionalismus und Arbeit vs. Kapital vereint, so etwas wie ein progressiver Protektionismus?

Darüber kann und muss noch viel gestritten werden. Und es muss auch am Vorhaben des Verbindens von Kämpfen festgehalten werden, denn emanzipatorische Kämpfe gehören nun einmal zusammen. Es gibt so etwas wie Progression an einigen Stellen, aber immer nur im Rahmen einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, in der von dieser Progression viele Leute (nämlich die Armen) niemals profitieren können. Und die Gruppe dieser Leute wird immer größer – im Sinne einer Regression. Der Status quo wird verwaltet, indem er aufgehübscht wird. Andere sprachen da mal vom Verblendungszusammenhang und ideologischem Schleier. Vielleicht kann man diesen Zustand auch eine progressive Regression nennen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Julius Wolf

Über Politik, Gesellschaft, Emanzipation und Antiemanzipatorisches.

Julius Wolf

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