Libertäre Neiddebatten

Neoliberalismus Als Reaktion auf Sozialproteste, Streiks und Forderungen nach Vermögensumverteilung wird von politisch-ökonomischen Eliten oft der Vorwurf der "Neiddebatte" geäußert. Wir müssen diese neoliberale Entsolidarisierungsstrategie erkennen.

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Die medialen und politischen Kommentierungen des Zeitgeschehens, von Regierungsentscheidungen und Protestphänomenen verweisen auf eine ganz bemerkenswerte Komponente herrschender Ideologien: Wir erleben allerlei libertäre Neiddebatten.

Ja, die Neiddebatte ist ein geflügeltes Wort, das üblicherweise von den politisch-ökonomischen Eliten in den Raum geworfen und einhellig akzeptiert wird, wenn die Armen oder minderprivilegierten Mitglieder der Gesellschaft die überzogenen Ansprüche und Privilegien der Reichen anprangern oder einfach auf materielle Ungleichverteilungen aufmerksam machen. Der dann hervorspringende Vorwurf des Neides verweist auf die Gültigkeit der Ermahnung, gewisse Leute in gewissen Positionen hätten ihre Privilegien doch mal zu reflektieren.

Wenn die Armen nicht nur arm und devot, sondern auch noch empört darüber sind, dann werden sie als moralisch verkommen dargestellt. Das vermitteln nicht nur Döpfners FDP-Springermedien, sondern auch öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten. Und da stimmen dann gerne auch diejenigen zu, die sich diesem angeblichen Neid lieber anschließen sollten. Tagtäglich erleben wir das, gegenwärtig beispielsweise, wenn es um das „Bürgergeld“, eine Vermögenssteuer, Erbschaftssteuer, 9-Euro-Ticket oder die vielen und für deutsche Verhältnisse begrüßenswert intensiven Streiks geht. Manchmal könnte man meinen, Politik und Medien wünschten sich ein Volk, dessen Glieder kein Selbstwertgefühl hätten und für die Solidarität ein Fremdwort sei. Alles andere käme schon fast an Klassenbewusstsein heran und das wiederum könnte die herrschenden Verhältnisse zumindest in ihrer konstitutiven Ungleichheitsökonomie angreifen. Daher titeln die Zeitungen nun „Wen die Streiks besonders treffen“ und meinen damit, dass die doofen Streikenden uns allen zur Last fallen. Stattdessen würde der Inhalt dieser Artikel in einer Medienlandschaft, deren sozialer Kompass nicht völlig verschoben wäre, darauf verweisen, dass die Streiks besonders die Arbeitgeber treffen, und zwar weil die Arbeitsbedingungen und Löhne die Beschäftigten besonders treffen. Ein 9-Euro-Ticket, dass sich nahezu alle leisten können, wäre begrüßenswert, anstatt Angst davor zu haben, dass sich plötzlich Menschen Mobilität leisten können. Und Mechanismen zur Vermögensumverteilung von unten nach oben wären eine wünschenswerte sozialdemokratische Forderung zur Befriedung der Gesellschaft und Partizipationssteigerung. Aber stattdessen stehen wir mit solchen Forderungen im permanenten Verdacht, es den Reichen einfach zu neiden.

Neid ist eine „Empfindung, Haltung, bei der jemand einem andern dessen Besitz oder Erfolg nicht gönnt und selbst haben möchte“ (siehe Duden). Ich sehe, was andere haben, ich jedoch selbst nicht habe und misgönne es deshalb anderen. Wenn man mir nun vorwirft neidisch zu sein, weil ich eine Vermögenssteuer und höhere Löhne fordere, dann behauptet man, dass ich lediglich das will, was andere haben – losgelöst von jeglichem gesellschaftlichen Kontext. Die ideologische Verblendung hinter dem Neidvorwurf besagt, dass jede*r schon das hat, was ihm*ihr zusteht. Die Neiddebatte hat es sogar in den Duden geschafft, als Debatte „über die als unangemessen, ungerecht empfundene Verteilung von Einkommen, Vermögen und Besitz“.

Wir leben in Gesellschaften, in denen es verpönt sein soll, ein stabiles Gemeinwesen zu fordern, in dem gewisse Gerechtigkeits- und Egalitätsstandards gelten. Aber diejenigen, die – aus welchen Gründen auch immer – zu den wenigen gehören, die viel mehr besitzen als die meisten, die dadurch arm sind und keinen dem gesellschaftlichen Wohlstand angemessenen Lebensstandard pflegen können, wollen das nicht bzw. sollen das nicht wollen. Sie sollen alles behalten und vermehren wollen, was sie aus Erbschaften oder der Arbeitskraft der Armen erhalten. Sie gönnen es der großen Mehrheit nicht, auch ein gutes, materiell abgesichertes Leben zu führen. Sie misgönnen es den Armen. Sie führen – ja, richtig – Neiddebatten und zwar die dominanten, systemstützenden und gesellschaftsspaltenden Neiddebatten. Man gönnt den Armen nicht, dass sie leben. Das ist Produkt neoliberalen Lernens.

Die Angst vor den Massen wird zelebriert und reproduziert und die Ordnungsliebe im Sinne des Schutzes des Kapitals gefestigt. Kapitalismus beruht auf Ungleichheit, Demokratie auf Gleichheit. Diese Spannung ist nicht zu beheben. Die Verteidigung der institutionalisierten Ungleichheit bedarf eines ideologischen Gerüsts, als das sich der Neoliberalismus in den vergangenen Jahrzehnten bewiesen hat. Er ist die herrschende Rationalität (Foucault), nach der gerechtigkeitsfördernde Werte zugunsten markt- und konkurrenzförmiger Denkweisen eliminiert werden. Das Soziale wird verleugnet, wie wir in den Vorwürfen der „Neiddebatten“ beobachten können. Ungleichheit wird normalisiert.

Und Freiheit ist in diesem Sinne dann immer eine marktförmige und egoistische Freiheit, die nichts kennt, als das Individuum, das seine eigene Freiheit gegen alles und jeden durchzusetzen versucht. Freiheit bedeutet dann nur noch das Erreichen der eigenen Ziele und verneint die eigene gesellschaftliche Eingebundenheit, verneint Abhängigkeiten. Die heutige Form der „liberalen Gesellschaft“ ist das, was Hermann Heller 1933 als „autoritären Liberalismus“ bezeichnete und von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey in ihrem Buch „Gekränkte Freiheit“ (2022) so formulieren: „Autoritär ist diese Form des Liberalismus, weil der Staat eine souveräne Entscheidungsmacht gegenüber dem Volk behauptet; liberal bleibt er, weil er jeden staatlichen Interventionismus in ökonomische Angelegenheiten abschafft.“ (Amlinger und Nachtwey 2022, S. 50) Dieses libertäre Freiheitsverständnis kann Freiheit „nicht in sozialen Beziehungen mit anderen abgleichen oder gar einschränken“. Individuelle Freiheit wird verabsolutiert. Amlinger und Nachtwey ergänzen in Bezug auf den daraus hervorgehenden neuen Sozialtypus: „Dies ist jedoch gleichzeitig der Ausweis ihrer autoritären Neigung. Sie werten jene ab, die ein anderes Verständnis von Freiheit vertreten. Durch diese Form der aggressiven Herabwürdigung werden sie zu libertären Autoritären.“ (ebd., S. 338)

Nichts anderes geschieht in all den libertären Neiddebatten rundum Sozialproteste, Streiks und politisch-ökonomische Gleichheitsforderungen. Wir sollten dies erkennen und benennen, anstatt diese Entsolidarisierungsstrategien als legitime Diskurspositionen anzuerkennen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Julius Wolf

Über Politik, Gesellschaft, Emanzipation und Antiemanzipatorisches.

Julius Wolf

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