Von Klimakatastrophen und dem Parteiensystem

Zukunft der Linken Die neue Polarisierung im Parteiensystem findet zwischen den Grünen und der AfD statt. Potentiale für die politische Linke sind aber außerhalb der Parlamente zu finden

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Außerparlamentarischer Aktivismus mit Potentialen für die Linke: Extinction Rebellion
Außerparlamentarischer Aktivismus mit Potentialen für die Linke: Extinction Rebellion

Foto: Adam Berry/Getty Images

In der Bundesrepublik gab es eine wirklich unumstößliche Gewissheit, die das Demokratieverständnis in diesem Lande prägte: Es gibt zwei Volksparteien – Union und SPD. Für Regierungsbildungen durfte manchmal die FDP herhalten, dann tatsächlich mal die Grünen und wenn die beiden Volksparteien das Spiel der Mehrheitsfindung pervertieren wollten, nannte man es Große Koalition. Ja, auch jetzt wird noch von einer Großen Koalition gesprochen, die es jedoch nicht mehr gibt. Auch wenn VertreterInnen der SPD es nicht einsehen wollen: Nein, sie sind nicht mehr das, was einmal eine Volkspartei genannt wurde und nein, sie werden es auf absehbare Zeit nicht sein können. Sie können maximal Juniorpartner in Koalitionen sein. Sie wurden ersetzt, sind aufgegangen in zwei andere Parteien: Die Grünen und die AfD – die neuen Gegenpole im deutschen Parteiensystem: die neuen Volksparteien.

Der Aufstieg der Grünen

Jede Zeitung und Zeitschrift hat es in den letzten Monaten bemerkt: Die Grünen haben bundesweit einen bemerkenswerten Aufstieg hingelegt. Bei der letzten Bundestagswahl erreichten sie (nur) 8,9% der Stimmen. Anschließend bewahrte Christian Lindner (FDP) die machthungrigen Grünen (damals um Cem Özdemir) vor einer Regierungsbeteiligung. Ein Bündnis aus Union, FDP und Grünen stand bevor, aber die FDP ließ die Verhandlungen öffentlichkeitswirksam scheitern, was führende Grüne sehr erboste. Die Grünen sollten der FDP (der sie mittlerweile in vielerlei Hinsicht ähneln) dankbar sein, denn der Aufstieg, der für die Grünen folgen sollte, wäre ihnen in Regierungsverantwortung niemals gelungen. In Sonntagsfragen stehen sie momentan zwischen 21 und 24% auf Bundesebene, kurz hinter CDU/CSU – ihrem künftigen Partner in einer neuen Großen Koalition, die es nach der nächsten Bundestagswahl geben wird (allzu spekulativ ist diese Mutmaßung nicht). Sie sind an acht Landesregierungen beteiligt, in verschiedensten Konstellationen; in Sachsen und Brandenburg wird man auch nicht um eine Regierungsbeteiligung der Grünen herumkommen.

Wer diese Grünen sind, weiß man mittlerweile sehr gut und so ist es beachtlich, dass sie weiterhin als grüne, also ökologische Partei wahrgenommen werden, als Partei, die Sensibilität und Lösungen für ökologische Fragen biete. Sie sind längst von einer (ganz ganz früher) radikal-ökologischen Bewegung zu einer elitären Wohlstandspartei geworden. Ihr Milieu sind HochschulabsolventInnen, Menschen in urbanen Räumen, mit solidem bis hohem Einkommen, sie arbeiten im öffentlichen Dienst, sind Beamte, studieren. Es sind die Profiteure unserer Gesellschaft und des Bildungssystems, die zu den Grünen gehen und bei ihnen bleiben. Und das Ökologische ist definitiv nicht mehr Dreh- und Angelpunkt der Partei. Es geht um Jobs, um die deutsche Wirtschaft, um modernen Lifestyle, aber alles mit gutem Gewissen. Es geht um Systemerhalt mit Öko-Anstrich. Sie sind die Partei des Kosmopolitismus, des progressiven, weltoffenen Neoliberalismus, die allerdings weiterhin als Partei der Neuerung inszeniert werden – nicht nur von sich selbst.

Seit Ende 2018 führen Annalena Baerbock und Robert Habeck die Partei. Sie gibt der Partei den Touch des Aufbruchs, er spielt den Besonnenen, der sich vor allem gerne selbst reden hört. Gemeinsam forcieren sie eine inhaltsleere, rein machtpolitische Ausrichtung der Partei. Und das mit großem Erfolg. Sie sind DIE neue bürgerliche Volkspartei, an der niemand vorbeikommt. Dabei profitieren sie von Entwicklungen, die es in ganz Europa oder sogar auf der ganzen Welt gibt.

Niedergang der SPD und die neue Polarisierung im deutschen Parteiensystem

Der Niedergang der sogenannten Volksparteien ist in ganz Europa zu beobachten, so auch in Deutschland, wo sich die SPD allmählich zwischen Grünen und AfD auflöst. Die neue große und tatsächlich inhaltlich und ideologisch bedeutsame Parteienpolarisierung, also der parteipolitische Antagonismus, ist zwischen eben diesen beiden Parteien zu finden. Vor allem für die SPD ist das das große Dilemma dieser Tage, denn sie verliert einerseits an die Grünen die gut verdienenden, abgesicherten, kosmopolitisch eingestellten Wahlberechtigten aus der Mittel- bis Oberschicht, und andererseits an die AfD ihre ehemalige Kernwählerschaft: die Menschen aus den sozial ausgegrenzten Milieus, aus der unteren Mittelschicht, aus dem Restproletariat und dem Prekariat. Geschaffen hat dieses Prekariat die SPD selbst, durch die Marktliberalisierung des Sozialstaats im Namen der Flexibilisierung. Immer mehr Menschen fühlen sich abgehängt und vergessen – in manchen Regionen besonders. Dabei handelt es sich um traditionelle SPD-Wählerschaft, für die es keinen Grund mehr gibt, diese Partei zu wählen.

Diese traditionellen SPD-Milieus wenden sich der AfD zu, ja tatsächlich. Die anderen Abtrünnigen, die zunehmend als Grünen-Klientel gelten, stehen in Opposition dazu, nämlich die schon genannten gut ausgebildeten kosmopolitisch orientierten Mittel- und Oberschichtsangehörigen. Die SPD hat die Bindung zu ihrer eigenen Klientel verloren, die AfD inszeniert sich erfolgreich als Partei der ArbeiterInnen und unterprivilegierten Teile der Bevölkerung. Auch die Linkspartei bleibt dabei auf der Strecke.

Diskursmächtige Kritik von links an hegemonialen Strukturen gibt es zumindest im Parteienspektrum kaum zu vernehmen; dafür hat sich autoritäre, nationalistische Kritik an kosmopolitischen, universalistischen Eliten etabliert. Es gibt Öffnung gegen Schließung, Schließung nach außen an den Grenzen gegen Zuwanderung, Schließung nach innen gegen kulturelle Diversität. Auch die Unionsparteien werden im Konflikt zwischen Grünen und AfD mittel- bis langfristig aufgerieben.

Der Blick nach Frankreich

Ein exemplarischer Blick nach Frankreich verrät, dass Deutschland mit dieser Entwicklung eher spät dran ist. Nicht nur dort zeitigte sich dieser Weg schon etwas früher. Jetzt gibt es nur noch Macrons République en Marche und Le Pens Rassemblement National. Die Formation des Präsidenten Macron ist so etwas wie ein Zusammenschluss von Grünen und FDP, Le Pens Partei eher so etwas wie die AfD, bloß dezidierter nationalsozialistisch ausgerichtet; der Rest des Parteiensystems ist kaum noch nennenswert.

Der Präsident forciert einen neoliberalen Autoritarismus. Im Aufkommen der Gelbwesten zeigte er dann auch tatsächlich die Bereitschaft zum offen autoritären Umbau des Staates, zum Regieren im Dauernotstand. Frankreich bekam die sozialen Proteste von unten, für eine Politik, die in Deutschland auch mit den Grünen zu erwarten ist. Macron steht wie die deutschen Parteien von der FDP über die Unionsparteien und die SPD bis zu den Grünen für ein autoritär-neoliberales Elitenprojekt namens EU, das für Wohlstand für Privilegierte und das immer krassere Vergessen und Ignorieren der weniger gut situierten Bevölkerungsteile steht. Macron steht für weitere Spaltung der Gesellschaft. Die Gelbwesten in Frankreich sind eine von zwei Bewegungen auf dem europäischen Festland, die derzeit emanzipatives Potential haben. Die andere sind die Fridays for Future (FFF) und die neue Klimabewegung um sie herum. Diese beiden Bewegungen gilt es zu vereinen – für einen radikalen sozialökologischen Gesellschaftsumbau.

Die neue Klimabewegung als Opposition zur autoritären Rechten – und zum Kapitalismus?

Fälschlicherweise werden die Grünen für eine ökologische Partei gehalten und so profitieren sie enorm von FFF und Verbündeten. Ökologisch sind die Grünen dabei eine Partei der individuellen Lösungen – jeder muss nur einen Beitrag leisten, aber Forderungen von gesellschaftlicher Tiefe haben sie nicht. Mit ihrem neoliberalen Kosmopolitismus stehen sie lediglich der autoritären Rechten gegenüber. Und mit den FFF gibt es nun eine Bewegung, die sich vornehmlich aus Teilen der kosmopolitischen, gut situierten Jugend zusammensetzt, sozialisiert in postmodernen, postmaterialistischen Milieus, erzogen mit Nachhaltigkeitsnarrativen, die den rückwärtsgewandten rechten Bewegungen entgegenstehen. So sind sie die wohl vielversprechendste Opposition des globalen Rechtsrucks.

Ihr Ansatzpunkt ist nämlich tatsächlich ein unumgänglich universeller: Die Klimakatastrophe ist eine existentielle Bedrohung für Millionen von Menschen und bedeutet eine Destabilisierung der Ökosysteme. FFF fordert die Einhaltung des Pariser Klimaabkommens und die Eindämmung der Erderwärmung auf unter 1,5° Celsius. Für Deutschland fordern sie den Kohleausstieg bis 2030 und 100% erneuerbare Energien bis 2035. Das sind alles wahrlich keine radikalen, systemumstürzlerischen Forderungen. Etwas radikaler sind die Forderungen zur Reduktion der Treibhausgasemissionen: bis Ende des Jahres sollen die Subventionen für fossile Energieträger beendet werden und 25% der Kohlekraftwerke abgeschaltet werden. Eine Forderung, die potentiell vor allem für Geringverdiener problematisch ist, ist die Forderung einer CO2-Steuer. Aber letztlich ließe sich diese natürlich auf hohe Einkommen begrenzen – ein Diskussionsthema, das hier nicht weiter ausgeführt wird. Insgesamt ist der Maßstab – nämlich das Pariser Abkommen – kein großer Grund zur Sorge bei den kritisierten Eliten. Progressiv und emanzipatorisch dagegen sind die Proteste selbst, dieses enorme Organisierungspotential und das Mittel des Streiks.

Radikaler in jeglicher Hinsicht ist die extinction rebellion, die die Ausrufung des Klimanotstands fordert. Sie setzt auf zivilen Ungehorsam und will vor allem Entscheidungsstrukturen schaffen, z.B. BürgerInnenversammlungen, die zu basisdemokratischer, partizipativer Entscheidungsfindung beitragen würden. Und unmissverständlich heißt es: „Wir sind bereit, persönliche Opfer zu bringen. Wir sind bereit, uns verhaften zu lassen und ins Gefängnis zu gehen.“ Ähnlich geht auch Ende Gelände vor. Ja, es zeigt sich eine radikale Opposition zur autoritären Rechten. Aber in Teilen zeigen sich auch Ansätze, die über Reformen in unseren kapitalistischen Gesellschaften hinausgehen.

Nötig ist eine Verbindung der Wahrnehmung der Klimakatastrophe und der Wahrnehmung struktureller Ungleichheiten und Eigentumsverhältnisse. Nicht ein verändertes Konsumverhalten rettet die Möglichkeit einer lebenswerten Erde, sondern andere Produktionsverhältnisse, eine andere Gesellschaftsstruktur. Klimakämpfe und Wohnungskämpfe gehören zusammen. Und das Potential dazu haben die FFF zweifellos.

Die Notwendigkeit einer Vereinnahmung von links

Der SPD und auch der Linkspartei mangelt es an Analysefähigkeit, um dem Rechtsruck zu begegnen. Besonders die SPD hat das Gespür und Verständnis für ihre ehemalige Klientel und deren Belange verloren und deshalb wandern diese zur AfD. Das Verhalten der Menschen wird nicht mit sozioökonomischen und soziokulturellen Verhältnissen erklärt, sondern durch Empörung, Moralisierung und Distanzierung ersetzt. Links ist das nicht. So hat sich eine Traditionspartei selbst ihres Sinns entfremdet; sie versteht quasi nicht mehr, warum es sie gibt, also können sie auch nicht mehr analysieren. Wer sich selbst für überflüssig erklärt, sollte keine nostalgische Unterstützung im Überlebenskampf erhalten. Denn es gibt immer andere Optionen.

So wie die rechtsautoritären Entwicklungen Symptom und Folge struktureller Defizite im demokratischen Repräsentationssystem sind, so gilt es, den Aufbau linker, also emanzipatorisch-progressiver Antworten zu unterstützen. Ein linkes, sozialökologisches Bündnis ist möglich. Die großen Erzählungen, die wir brauchen, setzen unbedingt beim Klimanotstand an und umfassen radikale Kritik an den Produktionsbedingungen. Wir brauchen eigentumslose Zustände, in denen der gemeinsam produzierte Reichtum frei und demokratisch genutzt wird. Kein Teil der Bevölkerung darf durch exkludierende Eigentumsverhältnisse aus dem Raster fallen. Wir brauchen Post-Wachstums-Gesellschaften. Und das heißt: FFF ist zu radikalisieren, vor allem inhaltlich.

Mittelfristig wird sich auch zeigen, dass die Grünen keine Verbündeten und keine Bezugsgröße für die Bewegung sind. Sie sind eine Partei der Utopien, ja. Aber ihre Utopien führen ins Leere, nicht in die befreite Gesellschaft: Sie versprechen, dass dem Klimawandel, der Erderwärmung, der Zerstörung der Lebensgrundlagen etwas entgegenzusetzen ist, ohne radikalen Wandel, ohne Umsturz des Wirtschaftssystems; individuelles Verhalten ist Ausgangspunkt partei-grüner Veränderung. Ja, das ist utopisch!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Julius Wolf

Über Politik, Gesellschaft, Emanzipation und Antiemanzipatorisches.

Julius Wolf

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden