Zum Stand der Flüchtlingspolitik in Europa

Abschottung In den Debatten um europäische und nationale Lösungen der angeblichen Flüchtlingskrise fehlen zunehmend erträgliche Perspektiven

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Mehr fällt Europa nicht ein
Mehr fällt Europa nicht ein

Foto: Win McNamee/Getty Images

Man könnte meinen, diese „Flüchtlingskrise“, von der seit Jahren gefaselt wird, erreiche einen neuen Höhepunkt, betrachtet man die einträchtige Berichterstattung in Fernsehen und Zeitung sowie die thematische Schwerpunktsetzung im politischen Betrieb, wie sie über die politischen Kommunikationsforen in die Außenwelt getragen wird. So fern ab der Realität es heute ist, von einer „Flüchtlingskrise“ zu sprechen, so unangemessen war es vor zwei oder drei Jahren: Es entwickelte sich eine Aufnahmekrise, basierend auf der Überforderung und Engstirnigkeit in quasi jedem Land der Europäischen Union, da es offenbar undenkbar schien, dass notleidende Menschen an anderen Orten auf diesem Planeten Zuflucht suchen könnten. Von humanitären Krisen kann gesprochen werden angesichts des anhaltenden Massensterbens, nicht nur an den Außengrenzen der EU, sondern auch viel weiter entfernt in den Wüsten Afrikas. Humanitäre Krisen, die politisch verursacht sind und deren Behebung keine Rolle spielt. Dieser Umstand führt womöglich zur Einsicht in eine Systemkrise, die auf dem ignoranten, inhumanen Zustand fußt, der unsere Gesellschaften kennzeichnet: Wohlstandssicherung im Inneren sei nur durch Abgrenzung nach außen möglich.

In diesem Jahr ist die Zahl der über das Mittelmeer Flüchtenden deutlich gesunken, wie die Internationale Organisation für Migration verkündete: Waren es 2016 noch 231.000 bis zum Juli, sind es in diesem Jahr circa 46.000 Menschen gewesen. Aber dennoch geht das Massensterben weiter. Und welche politischen Lösungen werden verhandelt? Strenggenommen keine.

Die „europäischen“ und „nationalen Lösungen“, die debattiert werden, befassen sich ausschließlich mit der effektiveren Steuerung von Migration, genauer: mit Migrationsvermeidung. Es geht um Sammellager und Abschiebungen, die gerne auch Rückführungen genannt werden, um eine weniger negative Konnotation zu erhalten. Die neuste Entwicklung ist die Installation einer protofaschistischen Regierung in Italien, die sich weitgehend damit befasst, Seenotrettung zu bekämpfen und damit der EU einen Teil der praktischen Durchsetzung des Grenzregimes abnimmt. Und in Deutschland eskalierte zuletzt ein großer Streit zwischen den Positionen der Bundeskanzlerin Angela Merkel und des Innenministers Horst Seehofer. Der populistische Dauerwahlkampf, in dem Flucht konsequent kriminalisiert wird, ist mittlerweile in Deutschland angekommen. Die Unterschiede zwischen den verhandelten Positionen bestehen nur darin, wo abgeschoben und abgeschottet werden soll.

Während nationale Regierungen sich in Nationalismus und Rassismus überbieten wollen, wird das Asylrecht auf europäischer Ebene längst untergraben und dieser Prozess wird mit der Aushandlung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) vorangetrieben: Es geht um die Auslagerung der Verantwortung für Asylanträge. Fluchtgründe sollen gar nicht mehr geprüft, sondern Rückführungen in angeblich sichere Drittstaaten forciert werden, es sollen mehr Lager entstehen, ob nun in Deutschland oder an den Außengrenzen (Hotspots in Griechenland und Italien). Wir können eine vollständige Entrechtung flüchtender Menschen und die Verfestigung menschenunwürdiger Unterbringungspraktiken beobachten. Die Einstufung „sicherer Drittstaaten“ wird erleichtert und die Deals mit Drittstaaten sollen vermehrt werden. Es gibt Debatten um verschiedene Formen restriktiver Migrationspolitik. Seehofer möchte Abschottung an der deutsch-österreichischen Grenze, woran schon zu erkennen ist, dass es primär um Stimmungsmache und Wahlkampf geht. Schließlich sollte der Innenminister wissen, dass Deutschland auch zu anderen Ländern Grenzen hat und somit keine effektive Abschottung stattfinden kann. Merkel lokalisiert die Grenzen anders: Sie weiß, dass Abschottung an den EU-Außengrenzen mehr Sinn ergeben könnte, zumal das große Leid und Massensterben von ihrer Regierungsverantwortung ferngehalten werden. Einig ist man sich, dass keine unerwünschten Menschen kommen sollen.

Bei CSU und AfD sieht die Wohlstandssicherung so aus, dass die Mauern (auch physisch) zwischen Menschen und Ländern gestärkt werden und alle, die daran partizipieren wollen, abgewiesen werden, auch mithilfe einer Militarisierung der Grenzen. Was nicht an den nationalen Grenzen erledigt werden kann, soll Frontex an den Außengrenzen der EU machen, natürlich mithilfe der Küstenwachen der Außengrenzstaaten. Die sollen ruhig auf Boote schießen, die versuchen, das Mittelmeer zu überqueren. Jedoch wird langfristig auch das nichts daran ändern, dass Menschen die Festung Europa erreichen, jedoch ohne die Illusion der Dankbarkeit.

Angela Merkel und die Befürworter europäischer Lösungen setzen eher auf die Türsteherfunktion anderer Staaten wie der Türkei oder Libyens: Diese bekommen Geld, damit sie dicht machen. Die grausamen Bilder bleiben so weit entfernt. Das läuft aber letztlich auf nichts anderes hinaus, als die Forderungen des CSU-/AfD-Lagers.

Gäbe es denn auch andere Möglichkeiten? Man könnte sich als EU und ehemalige Kolonialmächte aus Afrika zurückziehen, auf Ausbeutung verzichten, Schulden erlassen; man könnte sich um konsequente und menschenwürdige Umverteilung, ja, auch global kümmern. Man könnte also anders gesagt sich tatsächlich um Fluchtursachenbekämpfung kümmern. Soziale Missstände global und auch hierzulande beseitigen wäre ja mal was. Und ja, auch das ist eine realpolitische Position, keine Utopie. Aber darauf deutet dennoch nichts hin. Im parteipolitischen Spektrum wird eine solche Perspektive nicht geboten. In repräsentativen Demokratien herrscht Wettbewerb; es werden kurzsichtige einfache Lösungen angeboten, und am besten bieten alle circa das Gleiche an, denn das sind die Leute gewohnt, das kommt gut an. Die gesellschaftlichen Narrative sind stark verengt. Erträgliche Perspektiven bietet niemand.

Was wäre denn eine linke, emanzipatorische, systemkritische oder zumindest humanistische Perspektive? Das Minimum, die Basis müsste die Forderung offener Grenzen sein und die konsequente Ablehnung von Nichteinreise-Regelungen und Abschiebungen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Julius Wolf

Über Politik, Gesellschaft, Emanzipation und Antiemanzipatorisches.

Julius Wolf

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