Bis wir gehört werden

Asylstreik Nachdem der Marsch der Flüchtlinge in Berlin angekommen ist, haben sich an zentralen Plätzen Protestcamps gebildet. Wir stellen einige der Teilnehmer und ihre Ziele vor
Trotz windiger Kälte kämpfen die Asylbewerber für ihre Forderungen
Trotz windiger Kälte kämpfen die Asylbewerber für ihre Forderungen

Foto: Lia Darjes für Der Freitag

Die Protestbewegung der Asylstreikenden ist nun weithin sichtbar geworden. Das hat sich vergangene Woche auch am Besuch der Integrationsbeauftragten des Bundes Maria Böhmer (CDU) am Brandenburger Tor gezeigt. Das Treffen jedoch verlief wie erwartet: Während die Aktivisten auf lokaler Ebene Unterstützung erhalten, wird auf Bundesebene taktiert. Unter Ausschluss der Presse und ohne Rechtsbeistand wurden zehn Asylbewerber ad hoc in die benachbarte Akademie der Künste geladen. Konkrete Zugeständnisse gab es dort aber nicht.

Trotzdem: Diese Erfahrungen sind für die noch junge Bewegung Refugee protest wichtig, sie braucht solche Gespräche, um weiter voranzukommen. Täglich stoßen neue Flüchtlinge hinzu und nach Düsseldorf, Regensburg und Bamberg sind nun auch in Magdeburg und Frankfurt am Main Camps entstanden.

Spontaneität spielt dabei für die Streikenden eine große Rolle. Die Bewegung, erinnert mit ihren öffentlichen Aktionen, der hohen Mobilität und Vernetzung an Occupy. Begonnen hatte alles mit dem Selbstmord von Mohammad Rashepars am 29. Januar 2012 in seinem Würzburger Flüchtlingsheim. Einige seiner Freunde traten daraufhin in Hungerstreik. In der Folgezeit wurde der Marsch der Flüchtlinge nach Berlin organisiert und ein Camp am Oranienplatz errichtet, das inzwischen einer kleinen Zeltstadt ähnelt. Dieser große Zulauf und die Radikalität der Aktionen zeugen von der Dringlichkeit, die sich hinter dem Kampf gegen prekäre Lebensverhältnisse verbirgt.

Die Streikenden organisieren sich selbst

Ende Oktober entschlossen sich am Brandenburger Tor einige für einen Hungerstreik, sie wollten sich einfach mehr Gehör verschaffen. Am Oranienplatz wurde derweil die Finanzierung und Versorgung organisiert. Über Seiten wie refugeetentaction.net oder thevoiceforum.org werden Informationen ausgetauscht und Kontakt gehalten – auch international. Obwohl die Bewegung mit unterschiedlichen Methoden arbeitet, kämpfen alle für ein gemeinsames Ziel: die Abschaffung der Residenzpflicht, keine Unterbringung in Flüchtlingsheimen und einen Abschiebestopp.

Es gleicht einem Kraftakt, die Gruppe aus unterschiedlichen Nationalitäten zu koordinieren und zu organisieren. Das funktioniert mit Hilfe von Unterstützern, bei denen es sich einerseits um ehemalige Flüchtlinge und andererseits um Aktivisten handelt. Die Arbeit läuft nicht zu jeder Zeit reibungslos. Die Entscheidungen werden deshalb immer vor Ort von den jeweils Anwesenden getroffen, am Brandenburger Tor etwa von einem etwa 20-köpfigen Rat, der offen für alle Flüchtlinge ist. Denn, und dies ist das neue und einzigartige Merkmal, die wichtigsten Entscheidungen werden von den Flüchtlingen selbst gefällt: Es handelt sich bei Refugee protest im hohen Maß um eine Bewegung, in der die Betroffenen sich selbst organisieren.

Bis zum 15. November soll der Protest am Brandenburger Tor fortgesetzt und eine Einladung in den Bundestag vereinbart werden. Zurück können die Flüchtlinge nach der Verletzung ihrer Residenzpflicht ohnehin nicht mehr. Sie selbst jedenfalls stellen sich auf einen langen Kampf ein: Man werde nicht ruhen, bis die Forderungen erfüllt seien, sagen alle Flüchtlinge, mit denen man spricht. JL

http://imageshack.us/a/img19/3052/portrait2200px.jpgWafa Abdallah, 33, Adam Talal, 39, flohen aus Darfur. Sie wollen ein besseres Leben – für ihre Kinder



Fotos: Lia Darjes für Der Freitag

Bevor wir uns setzen, legt Wafa Abdallah Isomatten auf die Schlafplätze der Kinder. Stühle gibt es im Kinderzelt des Flüchtlingscamps am Oranienplatz nicht, und die Bettwäsche soll nicht schmutzig werden. In einem kleinen Regal liegen Spielzeug und Wickelsachen. Wafa verließ gemeinsam mit ihrem Ehemann und den vier Kindern, die zwischen ein und 14 Jahre alt sind, im Jahr 2003 ihre Heimatregion Darfur, um dem dortigen Bürgerkrieg zu entfliehen. Seitdem versucht Wafa Abdallah irgendwo anzukommen, sie will für sich und ihre Familie ein normales Leben aufbauen. Ihr Weg führte sie über Libyen und Italien nach Deutschland. München, Braunschweig und Bramsche heißen die deutschen Stationen.

Die vergangenen neun Jahre haben für Wafas Familie ununterbrochen Zukunftsängste, Asylheime und Erfahrungen von Alltagsrassismus bedeutet. Dabei die ständige Herausforderung, dieses Leben den Kindern zu erklären. Eine Veränderung ihrer unsicheren Situation ist nicht in Sicht.

Als Wafa Abdallah von dieser Odyssee erzählt, schießen ihr Tränen in die Augen. In Bramsche erfuhr die Familie von der Protestbewegung der Flüchtlinge, dort erhielten sie Zuspruch und ein offenes Ohr. Das tat ihnen gut, da wollten sie mitmachen. „Wir wünschen uns für unsere Kinder die Möglichkeit, eine Schule oder einen Kindergarten zu besuchen. Wir wollen arbeiten, um uns eine Wohnung leisten zu können“, sagt sie. Nun hält langsam der Winter Einzug im Camp. Aus Rücksicht auf die Kinder hat die Familie nicht an dem Hungerstreik teilgenommen, dennoch wollen sie weiter protestieren. So lange, „bis unsere Stimmen Gehör finden“. MM

http://imageshack.us/a/img132/7353/portrait3200px.jpgMina Daliri, 22, kommt aus dem Iran. Sie würde am liebsten ihr Architekturstudium fortsetzen


Nach Aufenthalten in verschiedenen Asylheimen ist es Mina, ihrer Mutter und ihrer Schwester nach langen bürokratischen Kämpfen gelungen, eine Wohnung zugeteilt zu bekommen. Trotzdem ist ihr Status immer noch ungeklärt, und die Familie lebt in täglicher Angst vor einer Abschiebung. Mina war schon in ihrer Heimat Iran politisch aktiv – in welcher Form jedoch, möchte sie nicht erzählen.

Mina ist nach dem schon zehn Tage dauernden Hungerstreik sichtlich geschafft. Trotzdem kann man spüren, dass der Protest ihr Selbstbewusstsein stärkt. Als ein Übersetzer sie zu unserem Interview begleiten will, winkt sie ab und sagt: „Das schaffe ich allein!“

In Diemelstadt/Wrexen, in der Nähe von Paderborn, wo Minas Familie lebt, hatte sie die Möglichkeit, eine Fachhochschule für Gastronomie zu besuchen, um dort ihre Deutschkenntnisse zu erweitern. Aber was soll eine Architekturstudentin schon im Küchendienst? Ihre Mitschüler brachten monatelang nicht mehr als ein „Hallo“ und „Tschüss“ über die Lippen. Aber auch die anderen Bürger in Diemelstadt/Wrexen wollten mit den Asylbewerbern nichts zu tun haben.

„Ich würde mir wünschen, dass Frau Böhmer einen Tag mit uns im Asylheim leben würde. Dann würde sie verstehen, warum wir gegen diese Heime protestieren. Wir waren dort vollkommen isoliert.“ Den Umgang mit Asylbewerbern empfindet Mina als willkürlich: „Es kommt offenbar immer darauf an, in welchem Heim man landet und welchen Bearbeiter man zugeteilt bekommt. Wenn man nicht selbst aktiv wird, befindet man sich in einer isolierten Warteposition mit unsicherem Ausgang.“ MM

http://imageshack.us/a/img407/6756/portrait1200px.jpgHatef Soltani, 25, hat im Iran Theaterregie studiert. Das Camp gibt ihm Freiheit zurück

Hatef war von Anfang an bei der Protestbewegung dabei. Vor drei Jahren kam er als politischer Flüchtling in die Türkei, seit Mai lebt er in Berlin und begleitet seitdem die Organisation der Asylproteste. „Stop Deportation“ steht auf seinem T-Shirt, nun klingelt häufig sein Telefon. Hatef wollte nicht mehr auf der Couch bei Freunden und Bekannten schlafen, ein eigenes Zimmer kann er sich nicht leisten. Neben einem Stipendium für einen Deutschkurs bekommt er vom Jobcenter monatlich nur 29 Euro. Deshalb ist er schon länger im Camp am Oranienplatz.

Der Protest gibt ihm ein Stück Freiheit und Autonomie zurück. Inzwischen ist er der wichtigste Ansprechpartner innerhalb der achtköpfigen Mediengruppe. Für die Theatergruppe, die es im Camp auch gibt, bleibt kaum Zeit. Die Arbeit mit der Presse ist für ihn wichtiger, auch wenn sie nicht immer einfach ist. „Jedes Wort, das du äußerst, hat eine Bedeutung für die ganze Bewegung“, sagt Hatef. Als der Protestmarsch stattfand, wurde etwa fälschlicherweise berichtet, es handele sich um eine iranische Protestbewegung. Hatef ist deshalb skeptisch gegenüber Journalisten. „Alle fragen nach dem kalten Wetter und zu wenige nach unseren Forderungen oder unserer Organisation. Zum Beispiel danach, wie wir hier alle Zelte aufgebaut haben.“ Das wachsende Medienecho sieht er trotzdem optimistisch. Die Bewegung werde weiter wachsen. „Heute werden zwölf neue Leute im Camp erwartet“, sagt er und lächelt. JL

http://imageshack.us/a/img843/6421/portrait4200px.jpgDirk Stegemann, 45, lebt in Berlin. Er unterstützt die Bewegung und lernt dabei jeden Tag dazu

Es dauert eine Weile, bis Dirk Stegemann Zeit hat. Er balanciert einen Laptop auf den Knien, drückt ein Handy ans Ohr. Vor dem Verwaltungsgericht wurde gerade erstritten, dass im Camp nun endlich auch Sitzunterlagen verwendet werden dürfen. Vorher mussten die Menschen auf dem Boden sitzen, das hatte die Polizei so verfügt. Stegemann gibt weiter: „Matten sind okay.“

Er hat am Brandenburger Tor geschlafen, sich aber am Hungerstreik nicht beteiligt. „Ich bin in einer anderen Situation,“ erklärt er. Geboren in Neubrandenburg, hat er im Gegensatz zu vielen hier einen gesicherten Status. Er kann einspringen, wenn es um den Kontakt zu Behörden geht. Er war es, der den Protest am Brandenburger Tor als Versammlung gemeldet hat. Seit Jahren sei er gegen Rassismus und soziale Ausgrenzung aktiv; vor den Leuten, die hier für ihre eigenen Belange und das Recht aller auf Asyl streiten, habe er „großen Respekt“.

Auf die Frage nach dem Gespräch mit Maria Böhmer seufzt er. Den Menschen sei keine Zeit gegeben worden, sich zu beraten: „Die wurden reingeholt und vier Stunden plattgeredet.“ Stegemann versucht sich vorzustellen, wie enttäuschend das gewesen sein muss. „Wenn man Verfolgung erlebt hat und hofft, hier würden endlich Grundrechte garantiert.“ Er selbst habe im Camp vor allem eines gelernt: „Einfach mal zuzuhören.“ FS

Eine Reportage-Serie über das Leben des jungen Iraners Hatef aus diesem Beitrag erscheint immer dienstags online auf freitag.de. Darin erfahren Sie mehr über seine aktuellen Erfahrungen im Flüchtlingscamp und sein Leben davor

Mehr Informationen über die aktuelle Lage des Protestes und Camps gibt es auf:

refugeetentaction.net

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