Die kleine Freiheit

Selbstversuch Aussteigen ist einfach, behauptet der Autor Nicolas Langelier und gibt 25 Tipps. Unsere Autorin fängt mal klein an

Einfach abhauen. Alles anders machen. Aber was, wenn Aussteigerfantasien wahr werden? Der kanadische Kulturkritiker und Autor Nicolas Langelier hat es versucht. Er erzählt in 25 Schritten seine Flucht aus dem Alltag. In seinem Ratgeber Die enthemmte Moderne meistern und den Rest seines Lebens retten beruft er sich auf große Avantgarde-Bewegungen und sucht eine Alternative zum „Irrweg“ der Moderne, der schnellen oberflächlichen Welt. Er flüchtet mit seinem Auto in die Wildnis. Solche Momente der Sinnkrise kennt man auch von sich. Aber kann man aussteigen, und will man das überhaupt? Und ist es eigentlich mutig? Drei Versuche.

Abschotten

Nicolas Langelier: „Genau in diesem Moment sollte Ihr Telefon klingeln. Greifen Sie in ihre Hosentasche. […] Stellen Sie, wenn Sie endlich ihr Telefon zu fassen kriegen, fest, dass es kein Anruf ist, sondern der Warnton für einen schwachen Akku. Aus irgendeinem Grund würden Sie Ihr Telefon in diesem Moment wirklich hassen. Mit einer entschlossenen Bewegung und ohne lange nachzudenken, werfen Sie es mit voller Wucht in bzw. auf den [gefrorenen] See. […] Ihr Telefon schlägt auf dem See auf und zerschellt … Sie fühlen sich umgehend besser.“

2006 brach ich zu einer dreimonatigen Reise nach Südostasien auf. Mit kleinem Rucksack, einer Freundin aus Österreich und ohne Handy. Was das bedeutete, wurde mir am Flughafen in Mumbai bewusst, an dem wir uns verabredet hatten. Nach einer Stunde wirren Suchens überlegte ich, wie ich Sarah erreichen könnte. Und wollte schon per Münztelefon bei ihr zu Hause anrufen, um eine Nachricht für sie zu hinterlassen. Nach einer Weile liefen wir uns auf dem Terminal über den Weg. Der Einstieg in das Leben ohne Verbindung. Die kommenden zwei Wochen hörte ich immer wieder den Klingelton meines Handys und wühlte hektisch in meiner Tasche. Offenbar musste sich auch mein Gehör daran gewöhnen, nicht ständig auf Abruf zu sein. Nach und nach wurde es befreiend, nicht verfügbar sein zu müssen und sich dem Moment widmen zu können. Das machte uns unabhängig von Personen und Orten: ein pflichtloses Vagabundieren.

Sobald ich zurück war, spürte ich mein Bedürfnis nach Vernetzung. Die Abschottung funktionierte nur so lange, bis ich mich wieder nach kontinuierlichen Beziehungen sehnte. Daheim setzte ich als Erstes meine Sim-Karte ein. Welche SMS hatte ich während der Reise verpasst? Enttäuschenderweise waren es nur Nachrichten meines Anbieters. Ich hatte mein Aussteigertum wohl gut kommuniziert.

Ausreißen

Nicolas Langelier: „Sind Sie etwa auf der Flucht? Dazu müssten Sie wissen, wovor, was Ihnen in diesem Moment sehr schwerfallen würde. […] Vergessen Sie nicht: Zu diesem Zeitpunkt dürften Sie keine genaue Vorstellung davon haben, wohin Sie fahren, keinen klaren Gedanken, kein anderes Verlangen, als möglichst schnell diesen einsamen Feldweg entlangzubrausen, von dem im rechten Winkel andere Feldwege abgehen; Bewegung als Substitut für jede Art von Emotionen.“

Meine kleine Schwester ist mutiger als ich. Sie packte vor Jahren eine Reisetasche und fuhr zum Flughafen. Weg. Irgendwohin, auf unbestimmte Zeit. Nicht, weil sie sich dafür einen freien Zeitraum geschaffen hatte, sondern weil sie es in Frankfurt am Main nicht mehr aushielt.

Kaum jemandem Bescheid zu sagen, sich der sozialen Verantwortung zu entziehen und nichts für die Reise zu organisieren – das ist sehr selbstbewusst, vielleicht auch etwas autistisch. Ich bewunderte sie dafür. Und dachte, dass mich wohl vor allem mein schlechtes Gewissen daran hindern würde, spontan alles stehen und liegen zu lassen. Meine Schwester schaute sich am Flughafen die Last-Minute-Angebote an. Sie waren alle zu teuer. Der Ausreißer-Traum überstieg ihr Preislimit (200 Euro). Also setzte sie sich in den Bus und fuhr nach Hause.

Nach einem gescheiterten Fluchtversuch zurückzukehren und seiner Mutter zu sagen: „Das war nix“ – womöglich ist das ja noch mutiger, als sich überhaupt auf den Weg zu machen.

Revolution

Nicolas Langelier: „Für ein paar lange Minuten haben Sie vage Visionen von der Gemeinschaft, die sich hier [im alten Haus Ihres verstorbenen Vaters] bilden könnte: ein Haus voller Leute, die von überallher kommen, um zu diskutieren, sich auszutauschen und die Zukunft zu entwerfen, ein Ort, wo man sich eingesteht, dass Sie und Ihre Zeitgenossen sich wie Idioten benommen haben, dass es an der Zeit für einen Versuch ist, diese Fehler zu beheben und zu erkennen, dass Ihnen Weisheit und Schönheit wichtiger sind als Leere, das Neue und ein permanenter, aber steril gewordener Kontakt. Letztlich beginnen so alle Revolutionen: eine Handvoll Leute setzen sich an einen Tisch und sagen, sie hätten es satt.“

Den Optimismus nächtelanger Diskussionen mit Mao-Heften in der Hand, den ich aus Erzählungen meines Vaters kenne, habe ich nicht geerbt. Meine persönliche Revolution verfolgte ich trotzdem. Ich habe mir einen Sommer lang die Achselhaare stehen lassen, Feminismus reloaded. Es ging nicht um den großen gesamtgesellschaftlichen Umsturz, sondern um die kleine Freiheit. Es ärgerte mich, wenn ich in der U-Bahn blöd angeschaut wurde und wenn ich dann auch noch rot wurde. Aus meiner Vision, körperpolitische Zeichen zu setzen, wurde nach einigen Wochen trotziger Stolz. Wer entscheidet, dass Frauen mit Achselhaaren eklig sind? Es war mein Versuch, mich dagegen zu wehren. Trotzdem war ich froh, als die Tage wieder kühler wurden; heimisch wurde ich unter den vollrasierten Menschen um mich herum jedoch nicht mehr. Trost fand ich auf armpits4august.com, einer Londoner Initiative zum kollektiven Haarwuchs. Zusammen funktioniert Rebellion eben besser.

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Geschrieben von

Juliane Löffler

Onlinerin beim Freitag. Quelle: Papier

Juliane Löffler

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