Die Liebeshandlung (172 - 404) - Leonard im Lithiumrausch

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Dieser Text ist Teil eines Projekts: Wir lesen gemeinsam Die Liebeshandlung von Jeffrey Eugenides

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Leonard ist krank. Schwerwiegend. Auszug aus einem Telefonat mit seiner Mutter:

Und du benimmst dich immer noch wie ein großes Baby, wenn du krank bist“, sagte Rita. „Ich erinnere mich, wie du dich bei jedem Schnupfen endlos aufregen konntest.“ „Das hier ist kein Schnupfen“. (S. 398)

Leonard ist depressiv, das wussten wir schon. Aber die Eindringlichkeit mit der in dem Kapitel "Ein glänzender Schachzug" seine manische Depression beschrieben wird, ist überraschend präzise und intensiv. Bisher habe ich das Buch gerne, aber auch etwas leidenschaftslos gelesen. Jetzt sitze ich senkrecht auf dem Sofa.

Er klappte das Buch zu und sank auf sein Bett. Ihm war, als würde er gewaltsam ausgeleert, als zöge ein großer Magnet sein Blut und seine Flüssigkeiten hinunter in die Erde. Er weinte wieder, unaufhaltsam, und sein Kopf glich dem Kronleuchter im Haus seiner Großeletern in Buffalo, der zu hoch hing, als dass sie drangekommen wären, und an dem jedes Mal, wenn er sie besuchte, eine Glühbirne weniger brannte. Sein Kopf war ein alter Kronleuchter, der allmählich erlosch. (S. 371)

Sein Kopf fühlte sich an, als sprudelte er über. Wörter wurden darin zu anderen Wörtern, wie Muster in einem Kaleidoskop. (S. 383)

Diese Einblicke ins Leonards kranke Seelenzustände hauen mich um und gehen mir wirklich nah. Warum?, frage ich mich. Natürlich muss ich an Freunde und Bekannte denken, Geschichten, die in meiner Umgebung passiert sind. Dazu gehört auch immer eine gewisse Sprachlosigkeit, die ich den Reaktionen von Leonards Freunden, seiner Mutter und seiner Schwester wiedererkenne. Oft können die Erkrankten ihre Angstzustände, Panikattacken usw. nur schwer erklären. Und umgekehrt können Freunde und Familie sie immer nur bis zu einem begrenzten Grad verstehen oder selbst nur schwer die richtigen Worte zu finden.

Dazu kommt die Scham; psychischen Krankheiten haftet etwas vermeintlich Peinliches an, als trüge der Kranke eine Mitschuld daran. „Reiss dich zusammen“, ist auch bei Eugenides eine häufige Reaktion. Das irritiert mich: ich verstehe psychische Krankheiten wie Leonard als Wirkung, niemals als Ursache. Als etwas, das man behandeln kann wie körperliche Krankheiten (mal unabhängig davon, ab sie geheilt werden können), aber unendlich viel komplexer. Als gesellschaftliches Phänomen statt als Peinlichkeit. Deshalb ist die Heilung mit einer Therapie ein notwendiger Luxus; wer kennt denn niemanden, der mal an einer Depression gelitten hat? Die Heilung durch „In Worte fassen“ passiert natürlich in erster Linie beim Psychologen oder Analytiker, hinter verschlossenen Türen. Deshalb bewundere ich Eugenides Wortkraft, die er hier entfaltet, um ein oftmals wortloses Phänomen zu beschreiben.

Die Worte findet zwar Eugenides, aber niemand in Leonards Umgebung. Seine Therapeuten sind Witzfiguren und dröhnen ihn mit Medikamenten zu. (Eine kurze Recherche klärt mich auf: Lihtium ist das die einzige medikamentöse Behandlung, für die eine suizidverhütende Wirkung eindeutig nachgewiesen ist.) Nebenbei wird mit dem amerikanischen Gesundheitssystem, der Pharmaindustrie und fragwürdigen Behandlungsmethoden abgerechnet.

Du bist nicht mehr über mich versichert. Ist dir das klar? Als du einundzwanzig wurdest, haben sie dich aus meiner Versicherung genommen. Aber mach dir keine Sorgen. Ich bezahle das Krankenhaus. Das tue ich diesmal, obwohl ich nicht in Geld schwimme. […] Ich tue es. Aber sobald du entlassen wirst, musst du dich selber versichern“. Als Leonard das hörte, verspürte er stechende Angst. Er umklammerte den Hörer, ihm wurde schwarz vor Augen. (S. 399. Siehe auch S. 385 und 392 f.)

Bis jetzt hatte ich Leonards Krankheit über weite Teile hinweg mit Befremden aufgenommen und eher als absurd-entrückt verstanden. Bereits in den vorherigen Kapiteln wurde erklärt, wie er kurz vor der Collegeabschlussfeier einen Zusammenbruch hatte. Es war um den Verlauf der Krankheit gegangen, den Madeleine von Leonards Freunden erfuhr:

Genau um diese Zeit, sagte Auerbach, hörte Leonard auf, sein Lithium zu nehmen. Es war nicht klar, ob Leonard es vorsätzlich abgesetzt oder einfach nur vergessen hatte. Aber schon bald ging das mit den Anrufen los. Er rief jeden an. Redete eine Viertel- oder halbe Stunde, ein ganze oder zwei. Zunächst waren die Gespräche mit ihm kurzweilig wie immer. Man freute sich, von ihm zu hören. Zwei- oder dreimal telefonierte er mit seinen Freunden. Dann fünf- oder sechsmal. Dann zehnmal. Dann zwölf-. Er rief von seiner Wohnung aus an. Von sämtlichen Münztelefonen auf dem Campus, deren Standorte er sich gemerkt hatte.

Diese fast absurd anmutenden Verhaltensweisen habe ich vor allem als Ergänzung von Leonards Charakter gelesen – er soll verletzlich, „anders“, einzigartig sein. Leonards düstere Stimmungen waren immer auch Teil seiner Anziehungskraft gewesen. (S. 172) Vielleicht auch verrückt, aber in einem positiven Sinn von wild und unberechenbar. Küchenpsychologisch verrückt. Es gab eine Zeit in seinem Leben, in der er das selbst dachte und seine Krankheit strategisch einsetzte (Unbewusst begann er seine Empfindsamkeiten auszuschlachten. S. 367) - bis zum Kontrollverlust.

Auch Madeleines Reaktionen folgten zunächst dieser merkwürdigen Verharmlosungslogik. Da zickt sie (pardon) während ihres Besuches auf Leonards geschlossener Station wegen einer Zimmerpflanze rum und man kann sich abermals wundern, wie naiv Eugenides seine Protagonistin agieren lässt.

Später aber geht es um ernsthafte Veränderungen in ihrer Beziehung, welche Leonards Erkrankung mit sich bringt. Madeleine ist froh, ihren „großen Bernhadiner“ (S. 267) ganz für sich zu haben, seine Bedürftigkeit ist geradezu reizvoll für sie. Die Machtverhältnisse in der Beziehung haben sich also verschoben (S. 386). Leonard braucht Unterstützung, Madeleine übernimmt die Pflege, Verantwortung und sein Vertrauen. Dieses schwierige Abhängigkeitsverhältnis schafft ein Ungleichgewicht, das der Beziehung zunächst neuen Schwung gibt: Er hatte die Fähigkeit verloren, ein Arschloch zu sein. Jetzt war er verliebt, und es fühlte sich wunderbar und beängstigend zugleich an. (S. 388) Gleichzeitig stellt sie eine Gefahr dar; Madeleine könnte sich überfordert oder unterfordert abwenden, oder aus Pflichtgefühl bei Leonard bleiben obwohl sie nicht mehr verliebt ist (und küsst in ihrer Not Mitchell Nerd Grammaticus).

Leonards Seelenzustände und seine Folgen erwecken ein authentisches Verständnis und analytische Neugier. Ich schwanke zwischen einer zugegeben leicht voyeuristischen Lust am Lesen und erschüttertem Schaudern. Merkwürdigerweise habe ich jetzt erst recht das Gefühl, Leonard ist die einzige Figur, die mir ans Herz wächst – ganz im Gegensatz zu Phyllida. Hier entwickelt sich zunehmend ein round character. Gefällt!

P.S. Witzig trotz Krise

Der von Medikamenten völlig aufgedunsene Leonard im Bad:

Der Beweis, dass Lithium stimmungsstabilisierend wirkte, wurde dadurch erbracht, dass er sich nicht jedesmal umbrachte, wenn er sich nackt im Spiegel sah. (S. 384)

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Juliane Löffler

Onlinerin beim Freitag. Quelle: Papier

Juliane Löffler

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