Die Mauer steht noch

Reportage Unsere Autorin hat die Aktivisten auf dem Weg zum bulgarisch-türkischen Grenzzaun begleitet
Ausgabe 46/2014
„Bolzis hoch!“: beim Dorf Lessowo in Bulgarien
„Bolzis hoch!“: beim Dorf Lessowo in Bulgarien

Foto: Ruben Neugebauer

Um ihre Friedfertigkeit zu zeigen, haben rund 100 Menschen auf einem Hügel die Hände in die Luft gehoben und bewegen sich langsam auf eine Kette schwer bewaffneter Polizisten zu. Zwischen ihnen nur ein dünnes Absperrband aus Plastik, um sie herum malerisch die dünn besiedelte Landschaft des südwestlichen Bulgariens, die Bäume in herbstlichem Gelb. „Say it loud, say it here, refugees are welcome here“, singen sie, die Kameras der Fotografen klicken und wie bestellt bricht nun auch noch die Sonne durch die Wolken.

Tatsächlich wird hier, an der europäischen Außengrenze, gerade eine der drängendsten Fragen ausgefochten: Wie durchlässig soll die Grenze Europas sein? Jenes Kontinents, der vor zwei Jahren mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Es geht um Wohlstand, Humanität und Freiheit. Und die zwei Fronten, die sich an diesem Novembernachmittag nur wenige hundert Meter von einer meterhohen Stacheldrahtmauer entfernt gegenüberstehen, vertreten die zwei Pole: Junge, aufgeklärte und von der Globalisierung geprägte Bürger, deren Empörung über die europäische Asylpolitik in zivilen Ungehorsam umgeschlagen ist. Und Staatsvertreter, für die die Verteidigung einer auf Nationalitäten und Staatsgrenzen beruhenden Ordnung existenziell ist. Frei nach dem Credo: Wirtschaftliche Freiheit ja, persönliche nein. Es ist der 9. November, und vor genau 25 Jahren entschieden die Bürger der DDR den Kampf um vergleichbare Fragen für sich, indem sie die Berliner Mauer zu Fall brachten.

Von Rastplatz zu Rastplatz

Dieser 9. November in Bulgarien wird wahrscheinlich nicht in die Geschichtsbücher eingehen. Aber die gesellschaftlichen Grundsätze, die hier verhandelt werden, sind dieselben wie damals. Dass all das Potenzial hat, eine öffentliche Diskussion zu entfachen, hat das Künstlerkollektiv Zentrum für Politische Schönheit erkannt. Vor etwa zwei Wochen demontierten sie vorübergehend mitten im Berliner Regierungsviertel das Denkmal für die Mauertoten der ehemaligen innerdeutschen Grenze: 14 weiße Sperrholzplatten, deren Verschwinden erst bemerkt wurde, als das Kollektiv selbst, Tage später, darauf aufmerksam machte. Es war der Start ihrer Kampagne „Erster Europäischer Mauerfall“, mit der sie den Blick weg von der Freude über eine gefallene Mauer hin zu der Sorge über den Aufbau einer neuen Mauer an den europäischen Außengrenzen lenken wollten. Eine, an der mindestens 30.000 Flüchtlinge ertrunken, verblutet, verdurstet sind.

Teil der Aktion war außerdem eine erneute „Friedliche Revolution“: eine Busfahrt mit Freiwilligen an die Grenze Europas, um mit Bolzenschneidern und Metallsägen eine der Stacheldrahtmauern abzureißen, wie sie in Spanien, Bulgarien und Griechenland stehen. Die Aktion wurde sofort zu einem Politikum. Regierungsvertreter waren entsetzt, der Staatsschutz wurde wegen der entführten Denkmalkreuze eingeschaltet. Es handele sich hier um ein Theaterprojekt, betonte das Zentrum für Politische Schönheit immer wieder, nicht um politischen Aktivismus.

An diesem Nachmittag auf dem Hügel klaffen jedoch die Erwartungen der Aktivisten rund um das Zentrum für Politische Schönheit auseinander. „Die Kunstaktion ist jetzt beendet“, ruft Philipp Ruch, künstlerischer Leiter des Zentrums, und geht demonstrativ einige Meter zurück. Wem es jetzt unangenehm werde, der könne sich zu ihm stellen. Und er kehre, wenn, als Mensch zur Gruppe zurück, nicht als Künstler.

Die Leute bleiben vor den Polizisten stehen. Sie sind 40 Stunden mit dem Bus gefahren, haben kaum geschlafen und sich von belegten Brötchen und Müsliriegeln ernährt, haben stundenlang auf einer kleinen Wiese an der serbischen Grenze ausgeharrt, während Grenzpolizisten Bolzenschneider inventarisierten, ihr Gepäck durchsuchten und ihre Pässe einsammeln ließen. Sie haben sich von Rastplatz zu Rastplatz gehangelt, um den guten Willen der erschöpften Busfahrer gebangt, in Flaschen gepinkelt, als das Busklo drohte überzulaufen. Sie haben sich von einem Referenten des bulgarischen Innenministers persönlich über das Strafmaß, das auf ihre Aktion folgen könnte, belehren lassen, die ständige Polizeieskorte der Polizei belustigt kommentiert, und misstrauisch verfolgt, wie rechte Hooligans in Bulgarien gegen sie mobilisierten. Und sie haben sich, endlich am frühen Morgen in der vernebelten Kleinstadt Jambol in Bulgarien angekommen, im Frühstücksaal von Philipp Ruch Mut zusprechen lassen.

„Wir wollen unsere Grenze sehen und wir haben das Recht, da zu sein“, sagte er, während sich die Teilnehmer mit Edding die Telefonnummern der bulgarischen Anwälte des Zentrums auf ihre Unterarme schrieben, ihre Müdigkeit mit Orangensaft herunterspülten und wieder in die Busse stiegen. Mit erhobenen Bolzenschneidern sind sie durch das Tor eines verrosteten Zaunes gelaufen, die Überreste des Eisernen Vorhangs, während Ruch mit der bulgarischen Polizei verhandelte und die Gruppe schließlich auf den kleinen Hügel führte. Für sie ist in diesem Moment, nur wenige hundert Meter vom Grenzzaun entfernt, überhaupt nichts beendet. Im Gegenteil, sie sind nun endlich kurz vor dem Ziel angelangt. Eigentlich sollte es jetzt losgehen.

Die Kunst ist ihr Schutzraum. Der Gesang wird schneller und lauter, „Generalprobe“, ruft jemand, die Gruppe geht einen Schritt vor und zuckt gleichzeitig in sich zusammen. Nun dringt auch die Polizei vor. Denn sollte es nötig werden, wird hart durchgegriffen, wurde zuvor über Lautsprecher angesagt. Kaum jemand von den Teilnehmern, jungen Leuten aus dem Sozial- und Kulturbetrieb, Studenten und ein paar Älteren mit einem gefestigten linken Weltbild, hätte gedacht, so weit zu kommen. Nun, wo das Ziel so nah ist, liegt ein großer Abschluss wie zum Greifen in der Luft. Doch gelänge es dieser Gruppe, durch fünf europäische Länder zu reisen und sich mit Geräten aus dem Baumarkt an einem Zaun aus scharfkantigem NATO-Draht zu schaffen zu machen, wäre es für die Staatengemeinschaft ein Fiasko.

Schließlich zieht sich die Gruppe doch zurück und bildet einen Kreis um Philipp Ruch. „Der Möglichkeitsradius ist eng“, sagt er, der Zugang sei dicht und die Polizei nicht zu weiteren Kompromissen bereit. Immer weiter müssen sie die Optionen nach unten handeln, schließlich einigt man sich auf ein Foto mit Bolzenschneidern vor der Polizeikette. Einige Teilnehmer setzen sich enttäuscht auf den Boden, abseits der Szenerie. „Die haben das einfach nicht durchgezogen. Da hat der Schlingensief mit der Flüstertüte gefehlt“, sagen zwei junge Studenten, die auf eigene Faust mit dem Auto aus Berlin angereist sind. Ihnen hat ein würdiger Abschluss gefehlt. Wahrscheinlich wären sie nie so weit gekommen, hätte es sich nicht um eine Kunstaktion gehandelt. Trotzdem ist genau die Idee, Kunst und Leben trennen zu wollen, der Grund dafür, dass sich die Aktion an diesem 9. November nicht verselbstständigt hat, sondern erst einmal nicht mehr als ein Symbol bleibt.

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    Nur wenige Kilometer vor dem kleinen Dorf Lessowo beginnt die bulgarische Grenzregion

    Foto: Juliane Löffler

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    Etwa 300 bis 500 Meter vor dem Mauerzaun aus NATO-Draht hat die bulgarische Polizei das Gelände abgeriegelt. Die Gruppe kommt nicht mehr weiter

    Foto: Juliane Löffler

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    "Die Kunstaktion ist nun beendet", ruft der künstlerische Leiter des ZPS, Philipp Ruch, nachdem er circa 45 Minuten erfolglos mit der Polizei verhandelt hat. Dann stellt er sich abseits der Szenerie

    Foto: Juliane Löffler

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    Polizisten haben sich überall im Gebüsch verteilt, um zu verhindern, dass Splittergruppen sich abseits des Weges zum Grenzzaun durchschlagen

    Foto: Juliane Löffler

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    Auf dem Rückweg zu den Bussen ist die Stimmung deutlich gedämpfter als auf dem Hinweg. Die malerische Landschaft bleibt davon unbeeindruckt

    Foto: Juliane Löffler

Auf dem roten Teppich

Auf dem Rückweg ist die Stimmung gedämpft, die Leute ziehen wie eine Ameisenstraße zurück zu den Bussen. Rechts und links von ihnen waten Polizisten durch die Gebüsche und passen auf, dass niemand ausschert. Das kleine bulgarische Dorf Lessowo stellt ungerührt seine verwilderten Häuser zu einem romantischen Abendhimmel zur Schau. Ganz hinten hält jemand seine Hand zum Victory-Zeichen hoch. Niemand sieht es. Zurück in den Bussen, bricht Geschäftigkeit aus. Fast alle müssen nach Hause, auf sie wartet Arbeit, ein Bett, eine Dusche. Doch die Situation mit den Hooligans ist noch immer unklar, die Aktion ist durch die bulgarische Presse gegangen und die Hotels möchten die Gruppe nicht mehr aufnehmen.

Es geht weiter nach Griechenland, wo ein massives Polizeiaufgebot die Reisenden empfängt, von dort über Mazedonien weiter Richtung Deutschland. Der Rückweg wird nicht einfacher als der Hinweg, zumal sich das Gefühl, etwas erreicht zu haben, noch nicht recht einstellen will. Doch der Schein trügt. Philipp Ruch zieht bereits Lehren für den zweiten „Europäischen Mauerfall“ und in Deutschland ist die Debatte inzwischen größer und schärfer geworden. Spätestens wenn bei ihrer Rückkehr wieder ein roter Teppich vor dem Gorki Theater liegen wird, werden die Teilnehmer wissen, dass die Inszenierung gelungen ist.

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Geschrieben von

Juliane Löffler

Onlinerin beim Freitag. Quelle: Papier

Juliane Löffler

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