Die Netzwerke der freiwilligen Helfer

Westbalkan Abseits von Schleppern, Korruption und Gewalt gegen Flüchtende organisiert sich ein großes Netzwerk aus der Zivilbevölkerung – teils gegen den Willen der Politik
Die Netzwerke der freiwilligen Helfer

Foto: Jean-Marie Schlömer

András Léderer hat die Augen weit aufgerissen, wie jemand, der zu viele schockierende Dinge gesehen hat und die Lippen zu einem kleinen, festen Strich zusammengezogen. "Welcome to Hotel Keleti", sagt der 31-jährige Ungar, schnaubt auf und macht eine ausladende Geste Richtung Bahnhof Keleti.

Immer wieder riegelt die Polizei derzeit den Bahnhof ab, lässt dann wieder willkürlich Menschen in die Züge steigen, setzt Pfefferspray gegen die Flüchtenden ein, die hier festhängen und protestieren. Ob sie weiterreisen dürfen oder ohne Verletzungen das Land verlassen, ist ein Lotteriespiel. Seit zweieinhalb Monaten kommt András Léderer jeden Tag hierher und hilft. Er verteilt Essen, Decken, Medikamente, Informationen. Seine eigene Familie hat in den letzten Wochen einmal für eine halbe Stunde gesehen – als sein Vater Geburtstag hatte. Léderer ist Koordinator in der ungarischen Initiative Migration Aid, ein freiwilliges, ehrenamtliches Hilfsnetzwerk, in dem rund 1.500 Mitglieder aktiv sind, 10.000 Mitglieder zählt die Facebookgruppe.

András Léderer studierte Friedens- und Konfliktforschung in England und kehrte vergangenen Sommer nach Ungarn zurück. Seitdem arbeitet er als freier Übersetzer

Foto: Facebook

MigAid zeigt eine Geschichte abseits von Misshandlung und Korruption, abseits der Polizei, der Behörden und illegalen Schlepper. Es ist die Geschichte einer zivilgesellschaftlichen Bewegung entlang des Westbalkans, von der mazedonisch-griechischen Grenze bis in den Norden Ungarns. Von Menschen aus der lokalen Bevölkerung, die sich wehren gegen die mangelnde Unterstützung ihrer Regierungen und gegen die unmenschliche Behandlung, der die Flüchtenden auf ihrer Reise ausgesetzt sind. Es gibt eine Vielzahl dieser Netzwerke, die sich vor allem über Facebook-Gruppen organisieren, und sie sind dort, wo Polizei und Behörden nicht helfen können oder wollen, wo Ärtzte ohne Grenzen und UNHCR nicht ausreichen für die vielen Menschen.

Wer sein Handy verleiht, macht sich strafbar

Besonders in Ungarn, dem einzigen EU-Land der Westbalkan-Route, haben Freiwillige die größten Schwierigkeiten, denn hier müssen sie illegal arbeiten. Ein Gesetz verbietet die Beihilfe für den illegalen Aufenthalt von Flüchtlingen. Doch weil die Flüchtlinge nach ihrer offiziellen Registrierung nur 24 Stunden Zeit haben, Asyl zu beantragen, das Land zu verlassen oder unterdessen von den überforderten Behörden erst gar nicht mehr registriert werden, haben die meisten von ihren keine Papiere oder keinen offiziellen Status. Schon wer ihnen den Weg erklärt, das Handy leiht oder eine Landkarte gibt, macht sich strafbar. Ganz zu schweigen von Essenausgabe, der Verteilung von Spenden oder Unterbringung. "Wir machen das trotzdem", sagt Léderer. „Sollen sie uns doch für Menschenschmuggel verurteilen, wenn wir Karten verteilen. Es wird lächerlich klingen, wenn die Presse darüber berichtet."

Die ungarische Regierung bietet den Flüchtenden keinerlei Hilfe an. Kein Wasser, keine Unterbringung, keine Informationen. Am Bahnhof Keleti gibt es eine kleine Versorgungsstation, an der rund um die Uhr Spenden verteilt werden. Einige der Menschen, die hier arbeiten, wurden bereits von ihren Arbeitgeber gekündigt, als diese sie auf Fotos in der Zeitung entdeckten. Niemanden hält das ab, trotzdem jeden Tag hierher zu kommen.

Am Samstagabend um 22.15 Uhr kommt ein Zug mit 240 Menschen aus dem Flüchtlingscamp Kiskunhalas an. Léderer weiß längst Bescheid. Über Facebook ist er landesweit mit anderen Aktivisten vernetzt, die sich ständig über die Ankunft und Anfahrt der Züge informieren. Eine Freiwillige im Norden von Ungarn sitzt von morgens bis abends nur am Computer, um Informationen weiterzuleiten, erzählt er.

Zwei Brötchen und etwas Wasser

Die Geflüchteten steigen erschöpft aus dem Zug. Im dem geschlossenen Camp in Kiskunhalas, in dem sie zwei Tage bis zur ihrer Registrierung warteten, bekamen sie täglich zwei kleine Brötchen und etwas Wasser. Etwas mehr für die Kinder? Eine Frau aus Syrien verneint.

Schnell haben sich die Aktivisten um die Gruppe verteilt. Ein arabischer Übersetzer ruft den Menschen in der ersten Reihe zu: "Langsam, langsam". Die Gruppe setzt sich in Bewegung, zügig schreiten die kräftigeren Männer voran. „Die Situation wäre so einfach zu lösen“, sagt Léderer resigniert. MigAid hat sogar Busse, welche die Flüchtenden transportieren könnten. „Aber die Polizei spricht nicht mit uns. Kein Wort“. Der Aktivist kann darin nur die kalkulierte Eskalation durch die Regierung sehen. So, meint er, können sie hart durchgreifen, wenn die Situation mit den erschöpften und wütenden Menschen sich verschärft. Und Ministerpräsident Orbán hat medienwirksame Bilder gegen die vermeintliche Bedrohung durch die Flüchtenden. Seine Umfragewerte liegen derzeit niedrig. Die ungarischen Helfer sehen in seiner Flüchtlingspolitik vor allem ein innenpolitisches Kalkül.

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    Am Bahnhof Keleti verteilt ein Mann, der hier als "Baba" bekannt ist, Essen an die Kinder

    Foto: Xinhua/imago

Am Bahnhof Keleti treffen wir auch Rosa*. Sie ist der Kopf der sogenannten Safe Houses, eines Subnetzwerkes, das jede Nacht bis zu hundert Flüchtlinge unterbringt. Helfer fangen die besonders Bedürftigen – Alte, Kranke, Frauen, Kinder, Familien – bereits am Bahnhof ab und bringen sie an geheimen Orte, einen Keller, ein Souterrain, Privatwohnungen, eine Disco. Sechs Safe Houses betreut Rosa, alle zentral in Budapest gelegen. Sie selbst bringt jede Nacht bis zu 37 Menschen unter. Drei bis sechs Jahre Haft stehen auf die Unterbringung illegaler Flüchtling. Hat sie keine Angst? Um sich selbt nicht, sagt sie, aber um ihre Familie und ihre Gäste. Aber in einer Welt, in der Flüchtende bei Wind und Wetter in offenen Bahnhofshallen schlafen müssen, wolle sie nicht leben. Rosa ist Sozialarbeiterin mit vier erwachsenen Töchtern. Auch sie helfen bei der Unterbringung in den Safe Houses.

"Fuck that"

Ein anderes Netzwerk arbeitet derzeit bei Subotica an der Grenze zu Serbien. Márk Kékesi, ein 35-jähriger Psychologie-Hiwi an der Universität hat Mitte Juli MigSzol in der ungarischen Grenzstadt Szeged gegründet, durch die derzeit die Hauptroute verläuft, über die Flüchtende von Serbien nach Ungarn kommen. Rund 6000 Mitglieder “gefällt” die Gruppe auf Facebook, 250 arbeiten aktiv mit. Auf einem offenen Feld müssen die Flüchtenden hier bei Szeged bis zu 12 Stunden warten, bis sie in das nahe gelegene Camp gebracht werden, um ihre Fingerabdrücke zu registrieren. Er versorgt sie mit Wasser, Essen, überwacht die Situation. Vergangene Woche, erzählt er, kam hier eine Frau, die auf der Flucht ein Kind geboren hatte, mit einer entzündeten Kaiserschnittnarbe an. Erst nachdem er stundenlang mit der Polizei verhandelt hatte, erlaubte diese ihm einen Krankenwagen zu rufen. Mitnehmen durften sie die Frau nicht. Ohne Márk wäre nicht einmal das möglich gewesen. Er bewegt sich, wie alle Aktivistinnen und Aktivisten in einem Graubereich."Fuck that", sagt er. De facto lässt die Polizei ihn ohnehin gewähren, weil sie mit der Situation an der Grenze überfordert und auf seine Hilfe angewiesen ist. Die meisten sprechen nicht einmal Englisch.

Auch in Mazedonien und Serbien gibt es diese Gruppen, sie alle kennen sich und sind über Facebook miteinander vernetzt. Eines der wichtigsten Netzwerke mit rund 30 aktiven Helferinnen und Helfern in beiden Ländern ist Legis. Anders als in Ungarn hat Legis einen funktionierenden Kontakt mit der Polizei. Mazedonien hat zwei Millionen Einwohner, über 1000 Polizisten sind ständig an den Grenzen am Einsatz, sieben Tage die Woche, 12 Stunden am Stück, für ein Gehalt von unter 400 Euro. Diesen Mittwoch kam es erneut zu Unruhen an der Grenze zu Griechenland, weil 4000 Menschen nicht länger in der prallen Mittagssonne ausharren konnten. Ohne die Freiwilligen wäre es wohl noch schlimmer gekommen, das wissen auch die mazedonischen Behörden. Der Gründer von Legis, Jasmin Redzepi, ist inzwischen so bekannt, dass er mit Delegierten und Politikern zusammen Flüchtlingscamps besucht, um über die Situation vor Ort zu informieren.

Am Bahnhof von Tabanovce in Serbien

Durchquert man Mazedonien bis an die Grenze vor Serbien, kommt man nach Tabanovce. Hier warten bereits Legis-Aktivistinnen und Aktivisten, mehrere Züge kommen täglich an. Seit Mazedonien im Juni ein neues Gesetz verabschiedet hat, das den Flüchtenden erlaubt, 72 Stunden lang das Land zu durchqueren und ihnen eine Art Transitpapier ausstellt, hat sich die Fluktuation deutlich erhöht. Auch Legis ist durch seine Kontakte genau informiert, wann Züge mit wie vielen Menschen ankommen.

Als in der Dunkelheit der letzte Zug einrollt, ist der kleine Bahnhof menschenleer. Die Menschen auf der Flucht wissen nicht, dass sie hier aussteigen müssen. "Serbia, Serbia", rufen die Helfenden von Legis in den Zug, verteilen Säfte, Croissants, Wasser und Decken. Der spektakuläre Monduntergang bleibt unbeobachtet, eine Mutter zieht ihrem Säugling hektisch ein paar Socken an, bevor sie aussteigt. Die meisten werden heute Nacht auf den Feldern entlang der Grenze übernachten. Busse gibt es erst am nächsten Morgen wieder. Mit einer Stirntaschenlame begleitet Alexandra Davidovska, eine der Helferinnen, die Menschen bis zum weißen Grenzstein durch die Finsternis. Stolpernd bewegen sich die Gruppen über den steinigen Feldweg, "Seht ihr die Lichter? Da müsst ihr hin", ruft Alexandra, immer und immer wieder auf Englisch oder in gebrochenem Arabisch und deutet in die Ferne Richtung Serbien. Ihre Stimme krächzt heiser.

Jeden Tag von 6 Uhr morgens bis 3 Uhr nachts ist Legis im Schichtdienst am Bahnhof präsent – seit dem letzten Herbst. Alexandra war Schuhdesignerin, bevor sie begann, sich zu engagieren. Gearbeitet hat sie seit Monaten nicht und inzwischen einen Assistenten eingestellt, der ihr Geschäft weiterbetreibt. Nach Hause geht sie nur noch zum Schlafen. Ob sie Márk und András aus Ungarn kennt? Natürlich. Sie selbst ist vor kurzem die gesamte Westbalkan-Route abgereist, um die Zustände in den anderen Ländern mit eigenen Augen zu sehen.

Suppenküche in Belgrad

Die Route entlang des Westbalkan führ weiter in die serbische Hauptstadt Belgrad. Auch hier sind ehrenamtliche Helfer aktiv. Natasha D. gehört zu dem No Boarder Collective. Jeden Samstag organisiert die 46-jährige Künstlerin und Tierrechtsaktivistin zusammen mit anderen Freiwilligen eine Suppenküche mit dem Namen Food not Bombs im Park nahe des Busbahnhofs, in dem die meisten Menschen stranden. Auch Medizin wird hier verteilt, alles durch Spenden organsiert. Seit drei Jahren engagiert sich Natasha in den losen Gruppenverbänden. Ihre Nase läuft, die langen schwarzen Haare hat sie zu einem strengen Flechtzopf zurückgebunden, an der Lederjacke trägt sie einen kleinen Herzanstecker, hinter ihr im Park weht eine blaue Fahne, auf der "Right to travel" steht.

Als eine große Gruppe Männer mit Decken um die Schulter gelegt durch den Park kommt, dreht sie sich um. "In den letzten Monaten hat sich hier nichts verändert, es sind nur mehr Menschen geworden", sagt sie und erzählt, dass sie nicht an die Idee von Grenzen glaubt. "Die Leute hier werden kriminalisiert, und es gibt in Serbien überhaupt keine organisierte Hilfe". Die wenigen Dixi-Klos und der Wassertank, den die Behörden im Park aufgestellt haben, reichen bei weitem nicht aus. "Ich habe große Angst vor dem Winter. Es werden noch mehr kommen", sagt sie und verschwindet wieder im Gewühl.

Auch András Léderer steht an der Essensausgabe am Bahnhof Keleti und macht sich Sorgen. Die Situation könnte jederzeit wieder eskalieren. Und sicher sind die Flüchtenden vor der Polizei nicht, immer wieder hört er von gewaltsamen Übergriffen. Minderjährige werden in der Regel als Volljährige festgestellt, um aufwendige Hilfsverfahren zu umgehen, zu denen die Behörden eigentlich verpflichtet wären. Legen die Kinder Einspruch ein, müssen sie 150 Euro bezahlen, um ein alternatives medizinisches Gutachten einzufordern. Zur Stunde versucht Léderer, zwei Väter zu finden, die in dem Chaos der ungarischen Asylcamps von ihren Familien getrennt wurden, mitsamt aller Ausweise ihrer Familien. Die Frauen und Kinder sind am Bahnhof Keleti, die Männer unauffindbar. Stundenlang könnte András Léderer weiter Geschichten wie diese erzählen. Geschichten der Menschen, die schutzlos Korruption und Gewalt ausgeliefert sind, weil das Asylsystem sie auf ihrerr Suche nach Sicherheit nicht auffängt, sondern nur noch weiter traumatisiert.

*Name von der Redaktion geändert

Das Interview mit Rosa* über die Secret Safe Houses in Ungarn können Sie in der kommenden Ausgabe des Freitag lesen

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Geschrieben von

Juliane Löffler

Onlinerin beim Freitag. Quelle: Papier

Juliane Löffler

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