Eigene Erzählung

Porträt Nadifa Mohamed stört es, dass Somalia nur auf Krieg und Elend reduziert wird. In ihrer Literatur zeigt sie das Leben der Menschen hinter den immer gleichen Medienbildern
Ausgabe 09/2014
Nadifa Mohamed: „Frauen spielen im Krieg eine wichtige Rolle“
Nadifa Mohamed: „Frauen spielen im Krieg eine wichtige Rolle“

Foto: Daniel Seiffert für der Freitag

An einem kleinen Tisch im Speisesaal eines Berliner Hotels sitzt Nadifa Mohamed. Obwohl sie in der vergangenen Woche bereits in Indien und Kolumbien für Buchvorstellungen war, wirkt sie im Gespräch nicht erschöpft, sondern sehr konzentriert. Über ihrem Rollkragenpullover trägt sie eine auffällige Silberkette. Die stamme aus Somalia, sagt sie lächelnd.

Der Freitag: Frau Mohamed, Sie sind als Vierjährige mit Ihren Eltern nach Großbritannien gekommen und haben später in Oxford studiert. Für die Recherche Ihres neuen Buchs sind sie 2008 erstmals nach 20 Jahren in Ihre Geburtsstadt Hargeisa in Nordsomalia zurückgekehrt. Von der idyllischen Eliteuni ins Bürgerkriegsland – war das ein Schock?

Nadifa Mohamed: Zu der Zeit herrschte im Norden Somalias, in Somaliland, kein Bürgerkrieg mehr. Ich hatte also keine Angst, dass mir etwas zustößt. Aber ich war verunsichert. Es war das erste arme Land, das ich kennenlernte, und daran musste ich mich erst gewöhnen. Es war hart, die vielen Straßenkinder zu sehen – und gleichzeitig war es wichtig, denn so hatte mein Vater auch gelebt.

Ihre Familie verließ Somalia 1986, um in London zu leben – zwei Jahre bevor der Bürgerkrieg ausbrach. Wie kam es dazu?

Mein Vater arbeitete und lebte bereits lange in Großbritannien und verdiente Geld als Matrose. Er kam uns etwa alle vier Jahre besuchen. Wenn du aus dem Ausland zurückkehrst, spürst du Veränderungen viel deutlicher. Als er Mitte der Achtziger zu uns kam, merkte er: Dieses Land bewegt sich in keine gute Richtung. Deshalb wollte er uns schnell zu sich nach London bringen. Und er hatte recht.

Sie waren aus einer Diktatur geflohen. Wie erlebten Sie London?

Wir waren ziemlich paranoid und misstrauisch. Wir Kinder dachten anfangs, die Katze aus dem Nachbarhaus, die immer im Fenster gegenüber saß, würde uns ausspähen. Das war aber mehr als eine kindliche Fantasie. Dieses Gefühl, dass man auf der Hut sein musste, hatte ich in Somalia verinnerlicht.

Und die Umstellung sonst?

Alles war eigenartig und neu. Wir lernten Begriffe wie „Garten“. Aber wir wussten nicht, was das war. Wir öffneten die Schränke und fragten uns: Ist das der Garten? Aber wir waren keine Kriegsflüchtlinge, die Hals über Kopf alles verlassen mussten. Wir konnten uns vorbereiten und unser Leben viel selbstbestimmter organisieren. Ich vermisste aber meine Großmutter.

Ein Charakter in der Drei-Generationen-Geschichte Ihres Buchs basiert auf Ihrer Großmutter ...

Ich wollte nach meinem ersten Roman, in dem es vor allem um männliche Figuren ging, über Frauen schreiben. Somalische Frauen können ihre Geschichten immer nur einem westlichen Publikum erzählen, wenn es um Genitalverstümmelung geht. Oder wenn sie Texte darüber schreiben, wie sich Frauen aus muslimischen Kulturen gegen Misshandlungen wehren. Das führt zu einer eingeschränkten Sicht auf ihr Leben. Ich wollte über Frauen im Bürgerkrieg schreiben, und da kam mir schnell meine Großmutter in den Sinn.

Was ist ihre Geschichte?

Sie war bei Kriegsausbruch bereits eine ältere Frau, die nach einem Autounfall gelähmt war und daher in der belagerten Stadt zurückgelassen wurde. Mich interessieren weniger politische Aspekte oder die Perspektiven der Kämpfenden. Ich denke, die sind in gewisser Weise austauschbar. Manche kämpfen aus religiösen Gründen, andere wegen ethnischer Konflikte. Mich interessiert, wie das Leben für diejenigen ist, die versuchen, in diesen Kämpfen zu überleben.

Spielten in Somalia Frauen eine andere Rolle als in anderen Kriegsgebieten?

Es gab Frauen, die kämpften, wenn auch nicht ungewöhnlich viele. Sie wurden von der Regierung missbraucht, um sich auch Legitimation zu verschaffen. In den meisten Bürgerkriegen sind Frauen die Opfer und zugleich verantwortlich für einen Teil der Probleme.

Wie meinen Sie das?

Es wird oft ignoriert, dass Frauen eine wichtige Rolle in Konflikten spielen. Ich denke etwa bei Somalia an die Frauen, die als Spioninnen arbeiteten, Frauen, die als lokale Nachbarschaftswachen die Regierung unterstützten. Oder an diejenigen, die Männer zu Vergeltungsschlägen ermutigten. Auf eine viel krassere Art als früher waren Frauen aber auch Opfer. Es gab in den vergangenen zwanzig Jahren immer wieder Massenvergewaltigungen, auch von Kindern. Wenn man so viele schreckliche Dinge sieht, wird man hart. Das ist bei diesen Frauen so. Sie akzeptieren die Gewalt fast als Lebensweise. Trotzdem denke ich, dass Frauen zukünftig in Afrika eine wichtigere Rolle übernehmen müssen.

Warum das?

In vielen Ländern stellten Männer lange Zeit die politische Elite. Sie haben sich an eine bestimmte Art gewöhnt, die Dinge zu managen, die eine Menge Gewalt, Korruption und Zynismus beinhaltet. Frauen werden, weil sie aus dem politischen System ausgeschlossen waren, mehr Menschlichkeit hineinbringen. Natürlich wird es auch korrupte Frauen geben, keine Frage. Aber in der Regel sind sie diejenigen, die nach Konflikten die Trümmer wieder auflesen. Sie sind diejenigen, die sich um ihre Kinder und die Kinder anderer kümmern.

Sie thematisieren auch immer wieder den weiblichen Körper.

Das Verhältnis von Frauen zu ihrem Körper ist sehr merkwürdig, eigentlich überall auf der Welt. Immer geht es um Scham und um Angst. Ich wuchs in London in einer Umgebung auf, in der Frauen sich ständig bemäkeln und sagen, sie seien zu fett. Man wird geradezu ermuntert, Fehler an seinem Körper zu finden. Mehr noch: Frauen finden über die Fehlersuche zusammen. In Somalia ist das genauso, auch wenn die Frauen andere Fehler an ihren Körpern finden.

Welche sind das?

Anders als in Europa, kannst du in Somalia zu dünn sein, um noch attraktiv zu sein. Die Hautfarbe kann eine Rolle spielen, normalerweise, wenn sie zu dunkel ist. Und Frauen sprechen viel über ihre Haare. In Europa ist es wohl mehr die Kleidergröße und wie dein Körper geformt ist. An meiner Universität in Oxford hatten viele Frauen eine Essstörung. Aber immer geht es darum, den weiblichen Körper zu kontrollieren. Das ist auch in Somalia sehr wichtig. Nicht bezüglich des Gewichts, sondern was die Sichtbarkeit betrifft.

Können Sie das beschreiben?

Als Frau muss man sich verhüllen und sicherstellen, dass man sich vor Männern angemessen bewegt. Heute ist Somalia da viel strenger als früher. Ich trage dort einen Hidschāb. Und Fremde auf der Straße kommen zu mir und weisen mich darauf hin, wenn man einen Teil meines Nackens sieht: „Zieh deinen Hidschāb zurecht.“ Es gibt diese ständige Überwachung. Aber in London geht man die Straße lang und jemand ruft einem hinterher fat bitch oder skinny bitch. Diese Nörgelei über weibliche Körper ist universell. Sie äußert sich unterschiedlich, aber sie löst dasselbe Gefühl aus.

Es ist Ihnen wichtig, die Geschichten aus Somalia in Europa nachvollziehbar zu machen ...

Ich möchte die Geschichten vor allem so wirklichkeitsnah wie möglich erzählen. Ich habe sowohl eine somalische als auch eine europäische Leserschaft, und ich weiß, dass ich da eine bestimmte Rolle als Vermittlerin einnehme. Meine Leser sollen Personen kennenlernen, nicht nur Klischees.

Das leisten die Medien, die über Somalia berichten, nur selten. Wie nehmen Sie den westlichen Blick wahr?

Ich habe es satt, immer nur diese Geschichten aus dem Krieg zu lesen, wo die drei schlimmsten Erfahrungen einer Frau aufgelistet werden: „Sie wurde vergewaltigt, hat kein Zuhause mehr und ist nun auch noch vom Täter schwanger.“ Und das war’s. Wenn man Menschen nur auf die schlimmsten Katastrophen in ihrem Leben reduziert, ist das herabwürdigend. Und wenn man die Menschen eines ganzen Landes nur so kennenlernt, hat das einen Effekt auf die Wahrnehmung: Statt sich in sie hineinzuversetzen, werden sie zu den Anderen, die einem unterlegen sind. Das ist gefährlich.

Wie war Ihr eigener Blick auf Somalia, bevor Sie es 2008 erstmals wieder besucht haben?

Das war ein anderes Bild als das, was wir in Europa durch die Nachrichten kennen. Ich kannte die Londoner Exil-Community, und ich konnte zwischen den unterschiedlichen Regionen differenzieren, wusste, wo es gefährlich ist, wo nicht. Das Land ist sehr dynamisch. Das ist Menschen außerhalb schwer zu vermitteln. Sie möchten eine Erklärung, wie es dort ist. Wenn man ihnen sagt, das Land verändere sich ständig, müssen sie von ihren Vorstellungen abrücken. Das fällt einigen schwer.

Könnten Sie sich vorstellen, zurückzukehren, um dort zu leben?

Ja. Als ich jünger war, hatte ich diesen Wunsch sehr viel stärker. Jetzt, wo sich das Land stabilisiert, fühle ich nicht mehr so eine starke Verpflichtung. Ich weiß, dass es sich auch ohne mich weiterentwickeln wird. Ich denke aber, es geht vielen Auswanderer-Kindern so: Sie fühlen eine starke Verantwortung für den Ort, von dem sie kommen.

Sie sagen, das Land stabilisiere sich. Aber Deutschland hat gerade entschieden, Soldaten zu Ausbildungszwecken nach Somalia zu entsenden, um die schwache Übergangsregierung zu stützen.

Meine Theorie ist, dass sich Somaliland schon vor längerer Zeit stabilisiert hat, weil es nicht diese Aufmerksamkeit aus dem Ausland hatte. Als Anfang der Neunziger ausländische Truppen nach Südsomalia entsandt wurden, um bei der Hungersnot zu helfen, war es ein Ort der Hölle. Doch sie machten alles nur noch schlimmer und finanzierten die Konflikte noch auf verschiedene Arten. Somaliland hatte keine Peacekeeping-Soldaten. Deshalb mussten die Menschen zusammenkommen und Übereinkünfte schließen. Ich sehe nicht, wie das jetzt in Südsomalia funktionieren soll. Es gibt zu viele Parteien. Die Golfstaaten sind involviert, die USA, Großbritannien, die Türkei – es ist sehr verfahren.

Intervention ist keine Lösung?

Ich glaube nicht mehr daran. Es ist immer wieder versucht worden, und die Situation ist jedes Mal schlimmer geworden. Wenn man aber 50 Millionen Dollar reinpumpt und sagt: „Gebt das aus, wie ihr wollt, aber tut, was wir euch sagen“, kann man als armes Land dieses Angebot kaum ablehnen. Die Somalier müssen dem dennoch widerstehen – es bringt sie nicht weiter. Ein paar Leute stecken sich zehntausende Euro in die Taschen, und die Anderen leiden unter entsetzlicher Armut.

Und in Südsomalia ist die Situation weiter katastrophal. In Mogadischu werden Menschen auf offener Straße erschossen.

Die Menschen wissen aber auch, dass man keine Lösung für sie von außen herbeizaubern kann.

Das Gespräch führte Juliane Löffler

Geschichten von Gewalt und Überleben

Nadifa Mohamed wurde 1981 in der nordsomalischen Stadt Hargeisa geboren. Als sie viereinhalb war, floh sie mit ihrer Mutter, ihrem Vater und ihren vier Geschwistern vor dem sich abzeichnenden Bürgerkrieg nach London. Dort ging sie zur Schule und studierte später Geschichte und Politik in Oxford. Sie wollte eigentlich Diplomatin werden. Eher zufällig ent-stand aus ihrer Arbeit bei einer Filmfirma ihr erster Roman Black Mamba Boy, in dem sie sich mit der Biografie ihres Vaters, eines Matrosen, auseinandersetzte. Das Buch wurde mit Preisen ausgezeichnet. Ihr nun erschienener zweiter Roman Der Garten der verlorenen Seelen (C.H. Beck) spielt 1987/88 und zeichnet die Geschichte von drei Frauen in den Vorwehen und während des Ausbruchs des Somalischen Bürgerkriegs nach. Ausgelöst wurde dieser Krieg durch den Sturz des seit 1969 herrschenden Diktators Siad Barre. Anfang der Neunziger scheiterte die Bildung einer handlungsfähigen Regierung. Hinzu kamen ein komplexes Geflecht aus Clanstrukturen und der Kampf um Landbesitz, dazu die Machtansprüche teils islamistisch geprägter Rebellengruppen sowie die Folgen einer Intervention ausländischer Truppen. Internationale Aufmerksamkeit erregte Somalia während der großen Hungersnot Anfang der Neunziger und der folgenden UN-Intervention 1992, die von einer US-Sondereinheit unterstützt wurde. Die „Schlacht von Mogadischu“, in der die Situation zwischen US-Soldaten und Aufständischen 1993 eskalierte, markierte einen Wendepunkt. Die USA zogen schnell ab. Heute gilt Somalia als Failed State. Die mittlerweile eingesetzte Übergangsregierung ist faktisch machtlos. JL


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Geschrieben von

Juliane Löffler

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