„Ein schillernder Irrsinn“

Interview Was passiert mit ertrunkenen Flüchtlingen? Die Künstlerin Hannah Hurtzig weiß es. Sie forschte über den Tod im Meer
Ausgabe 28/2017

In einer Halle der Hamburger Kulturfabrik Kampnagel liegen Leichen aufgebahrt. Bei genauerem Hinsehen erkennt man die Verwesung, faulendes Fleisch, Einschusslöcher. Über ihnen stehen Maskenbildnerinnen und schminken die Körper, bei denen es sich in Wahrheit um Komparsen eines Leichencastings handelt. Dazwischen schwirrt die Künstlerin Hannah Hurtzig umher. Sie arbeitet mit ungewöhnlichen Konzepten von Wissensvermittlung, mit Videos, Expertengesprächen und Musik, in die man sich beliebig per Audiokopfhörer zuschalten kann. In ihrer neuen Installation spürt sie dem Tod nach – und der Frage, was eigentlich mit den ertrunkenen Geflüchteten im Mittelmeer passiert.

der Freitag: Frau Hurtzig, Ihre Installation heißt „Die Stillgestellten“. Wer ist damit gemeint?

Hannah Hurtzig: Mich haben zwei Bilder beschäftigt. Erstens die überfüllten Flüchtlingsboote, in denen Menschen die Balance des Schiffes nicht in Gefahr bringen dürfen. Einzelpersonen müssen sich auf dieser wagemutigen Fahrt wie ein großer Frachtblock verhalten, damit sie es hinüber schaffen. Das zweite Bild setzt beim Westen und seiner Idee einer nicht enden wollenden Optimierung des menschlichen Körpers an: bei den Kryonikern.

Kryoniker lassen ihre Leiche einfrieren.

Sie leugnen den Tod und glauben, dass ihre in Stickstoff eingefrorenen Körper zu einem späteren Zeitpunkt mit fortgeschrittener Technik reanimiert und wieder an das Leben angeschlossen werden können. Es gibt tatsächlich Fabrikhallen mit technischen Tanks und reichen Menschen darin, etwa in Ohio. Menschen, die stillgestellt werden, um zu überleben, und Menschen, die stillgestellt sind, damit das System überlebt – das ist der Rahmen der Narration. Es geht um die Situation stillgestellter Leben, die noch Forderungen haben.

Beim Festival „Theater der Welt“ in Hamburg wurde für Sie noch eine Frage im Zusammenhang mit den Flüchtenden wichtig: Wenn die Menschen über Bord gehen und im Ozean ertrinken, auf welchen Boden sinken sie?

Sie sinken eben nicht in eine blaue Unendlichkeit, sondern sie kommen an auf nationalstaatlichem Territorium. Die Freiheit der Meere ist Geschichte. Hier kommt die Festlandsockelkommission ins Bild. Es handelt sich um eine der UNO unterstehende Kommission und um die größte Landvergabe auf dem Planeten, die derzeit ohne demokratische Kontrolle und Wissen der Öffentlichkeit stattfindet.

Zur Person

Hannah Hurtzig war künstlerische Leiterin von Kampnagel und Dramaturgin an der Volksbühne in Berlin. Seit 2004 arbeitet sie mit der von ihr gegründeten Mobile Academy an alternativen Formen der Wissensvermittlung

Das müssen Sie genauer erklären.

In New York sitzen 21 Menschen ohne Handys in einem abgesicherten Raum und entscheiden anhand geologischer Daten über die territorialen Grenzen. Über Vermessungen des Meeresbodens wird entschieden, welcher Staat wie viel Küstengebiet als Territorium beanspruchen kann. Letztlich geht es dabei um ökonomische Interessen, etwa fossile Rohstoffe. Viele Mitglieder der Kommission sind jedoch Geologen aus den antragstellenden Ländern.

Was weiß man über sie?

Niemand kennt die tatsächlichen Namen der Mitglieder und sie haben absolutes Sprechverbot. Die Filmemacher Max Mönch und Alexander Lahl haben darüber eine Doku gedreht und führen in der Installation ein Expertengespräch zu dem Thema. Frankreich etwa hat aus der Kolonialzeit viele Inselgruppen und beansprucht deshalb Gebiete unter dem Meer, die dreimal so groß sind wie die französische Landmasse. Und es gibt diese kleine Insel in Japan, Okinotorishima, die droht, im Meer zu versinken. Dort werden nun künstlich wachsende Korallen angesiedelt, denn wenn die Insel untergeht, verliert Japan den Anspruch auf das Territorium. Diese Realitäten klingen märchenhaft, und sie brauchen eine große Konfabulation auf der Bühne, um ihren schillernden Irrsinn zu entfalten.

Und was bedeutet das für die Körper der toten Geflüchteten?

Die Theoretikerin Christina Sharpe erklärt, dass die Körper gar nicht tief genug sinken, um auf dem Boden anzukommen. Der Grund sind Mikroorganismen, die den Körper schon im Sinkflug zersetzen. Das hat uns zu den Waterbabies gebracht.

Wer oder was sind Waterbabies?

Aquautopische Wesen. Es handelt sich um eine „critical fabulation“, wie Saidiya Hartman sagt, eine kritische Fabulation, die aus dem Afrofuturismus kommt und aus der elektronischen Technomusikszene der 1990er Jahre. Im transatlantischen Sklavenhandel wurden Menschen ins Meer geworfen, etwa im Massaker auf dem Sklavenschiff Zong 1781. Da ist dokumentiert, dass 133 Menschen lebend über Bord geworfen wurden, weil das Trinkwasser knapp war. Das hat auch eine juristische Dimension, denn die Menschen wurden als Fracht deklariert, weshalb es nie einen Mordprozess gab. Die Waterbabies sind die Föten der schwangeren versklavten Frauen. Sie können, so die Erzählung, aus der wässrigen Raumkapsel des Mutterleibs in das ozeanische Milieu übergehen und dort überleben, weil ihre Lungen nie lernen mussten, Luft zu atmen. In dem Musikalbum The Quest des Elektromusik-Kollektivs Drexciya wird angekündigt, dass die Waterbabies auftauchen und in die Städte kommen werden, vielleicht um Rache zu üben, oder um uns etwas zu erzählen, was wir wissen müssen.

Und das wäre?

Das Milieu der Waterbabies ist nicht national oder territorial, doch sie greifen die Gegenwart mit black noise an. Das ist keine Landessprache, sondern auf Wasserschallwellen reisender Sound. Sie erinnern daran, dass die Moderne und speziell die moderne Logisitik nicht ohne den Sklavenhandel denkbar sind. Also: stapelbare Körper, die man als Fracht deklariert, möglichst effizient zu lagern. Und so landet man bei Containern – übrigens ist Containertransport auch immer Transport von Stillgestelltem – und beim Hamburger Hafen, dem thematischen Rahmen von Theater der Welt.

Die toten Geflüchteten aus dem Mittelmeer sind der Ausgangspunkt Ihrer Arbeit, werden darin aber nicht sichtbar. Warum?

Dieses Thema ist schwer auf die Bühne zu bringen. Wer repräsentiert da wen? Wir versuchen, das Milieu zu beschreiben, in dem die Toten leben, statt uns über einzelne Erzählungen anzunähern. Wir sprechen nicht über die Flüchtlingspolitik in Deutschland. In der Installation treffen Fakten auf Fiktionen, Geschichte auf Tagespolitik, der philosophische Diskurs auf den Optimismus der Reeder, um einen narrativen Raum zu öffnen.

Das klingt sehr abstrakt.

Ach nein. Es ist ein öffentlicher Denkraum, in dem das Konkrete und die Realität ihre Auftritte haben, mit all ihren tödlichen Details. Wir zeigen fünf Stationen parallel, Gespräche, Filme und Musik, zu denen man sich über ein Headset zuschalten kann. Es ist eine Art szenischer Essay, der uns erlaubt, journalistische Fakten, wissenschaftliche Ausführungen, Fabulationen und improvisierte Momente miteinander zu inszenieren.

In einer Zeit, in der Wissenschaftlerinnen und Künstler als Elite diffamiert werden: Wen möchten Sie mit Ihrer Arbeit erreichen?

Dieser grassierende phobische Anti-Intellektualismus nervt gehörig. Wir bauen Wissenschaftlern und anderen Experten eine öffentliche Bühne, auf der sie genau so kompliziert und abwägend reden, wie sie müssen. Die Inszenierung gibt ihren Sprechakten aber einen anderen Dreh. Eines unserer Ziele ist es, bestimmte Berufsgruppen wieder mit der Theorie und der Philosophie zu verbinden. Bei einer älteren Arbeit, Die Untoten. Life Science & Pulp Fiction, konnten sich zum Beispiel Krankenschwestern den Besuch des inszenierten Kongresses als Fortbildung anerkennen lassen. Wir haben auch ein Kartenspiel mit „Last Minute Exercises“ veröffentlicht zum täglichen Gebrauch. Praxis und Theorie sind keine Gegensätze, wie man weiß. Sie informieren sich.

Wie hilft das Nachdenken über die Toten den Lebenden?

Momentan wird darüber geredet, wie man die Grenzkontrollen verschärfen, bessere Abwehr- oder Integrationsmaßnahmen finden kann. Das erfasst das Ausmaß nicht. Die Toten sind schon da, sie haben die Grenzen überquert, die Katastrophe ist schon passiert. Nicht in einem fatalistischen Sinn, dass man nichts mehr tun kann – eher so, wie Heiner Müller es benennt: Der Dialog mit den Toten darf nicht abreißen, bis sie die Zukunft herausgegeben haben, die mit ihnen begraben wurde.

Info

Ein Teil der Stillgestellten wird im Herbst in Berlin in der Serie Das Milieu der Toten gezeigt, die die Mobile Akademie in Zusammenarbeit mit dem Humboldt Forum veranstaltet

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Geschrieben von

Juliane Löffler

Onlinerin beim Freitag. Quelle: Papier

Juliane Löffler

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