Flucht aus nächster Nähe

Dokumentation Die BBC hat 100 Flüchtenden Kameras in die Hände gedrückt, um ihre Erlebnisse aufzuzeichnen. Herausgekommen ist ein bewegender Dreiteiler
Ausgabe 29/2016

Es gibt Dinge, die erst begreifbar werden, wenn man sie mit eigenen Augen sieht. Die so drastisch sind, dass sie wirklich etwas auslösen, weil es unmöglich ist, nur stumm zuzuschauen. Wer einmal Flüchtende auf dem offenen Meer in einem sinkenden Schiff gesehen hat, weiß das. Die Angst in ihren Augen, das Klatschen des Gummiboots gegen die viel zu hohen Wellen, die Schreie der Kinder – es sind schwer beschreibbare Szenen. Szenen, ähnlich existenziell wie Flüchtende, versteckt in einem dunklen Lastwagen zwischen hoch gestapelten Paletten. Oder das eigene Kind mit Behinderung durch strömenden Regen schiebend, über ein Matschfeld nahe der ehemals grünen Grenze bei Ungarn. Es gibt einige Menschen, die diese Szenen miterlebt und gesehen haben: Schmuggler. Freiwillige Helferinnen und Helfer, Journalistinnen und Journalisten. Und die Flüchtenden selbst, natürlich. Die meisten Menschen jedoch kennen diese Situationen höchstens aus Erzählungen.

Die BBC ist nun mit der Dokumentation Exodus: Our Journey to Europe angetreten, das zu ändern. Rund 100 Flüchtenden waren Kameras in die Hand gedrückt worden, um ihre Flucht aus ihrer eigenen Perspektive aufzuzeichnen. Herausgekommen ist ein bewegender Dreiteiler, in dem neben die verwackelten Bilder Interviews mit den Protagonisten gestellt werden, die während oder nach ihrer Flucht den BBC-Reportern von ihren Ängsten, Hoffnungen und Erlebnissen erzählen. Selbstverständlich hatten nicht alle die Nerven oder die Kraft, in den drastischen Momenten ihrer Flucht eine Kamera laufen zu lassen.

Für andere war die Dokumentation hilfreich: eine Art Objektivierung der eigenen Situation, um sich zu beruhigen, wie Regisseur James Bluemel im Making-of erzählt. Einer von ihnen ist der syrische Englischlehrer Hassan Akkad, eine der Hauptfiguren des Films. Wie man ihn an der Außenseite eines sinkenden Schlauchboots im ägäischen Meer hängen sieht, seine Tränen der Erschöpfung in einem Zimmer in Griechenland, von dem aus er mit dem Schmuggler verhandelt, später seine Tränen der Erleichterung in einem Flugzeug nach London – näher dran geht es kaum. Das kann niemanden kaltlassen.

Auch wenn all diese Situationen tausendfach erlebt, erzählt, fotografiert und vielleicht auch gefilmt wurden (eine France24-Dokumentation vom Herbst 2015 etwa ist mit vergleichbaren Bildern aufgebaut, und auf Facebook finden sich in geschlossenen Gruppen massenhaft solche Videos) – Exodus könnte eine neue Qualität in der Berichterstattung erreichen. Nicht nur weil die Dokumentation grandios recherchiert und aufbereitet ist. Sondern weil das Medium BBC eine Reichweite und Autorität mitbringt, mit der alle Facebook-Posts dieser Welt nicht mithalten können. Exodus gehört zu jenen Produktionen, von denen man sich wünscht, dass jeder Mensch sie sieht – weil unvorstellbar ist, dass die Flüchtlingskrise dann in dieser Form existieren würde. Die Dokumentation zeigt das Ausmaß an systemischer Grausamkeit in seiner ganzen Absurdität.

Dass die Entscheidung, einen EU-Türkei-Deal zu schließen, anstatt Fluchtwege zu sichern, Menschenleben zerstört, ist bekannt, aber für viele abstraktes Wissen. Exodus macht es lebendig. Man möchte hoffen, dass die Dokumentation politisch Verantwortliche erreicht, denen das Gefühl für ihre Entscheidungen offenbar verloren gegangen ist. Ein frommer Wunsch: Möge Exodus ihnen ein wenig davon zurückgeben.

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Geschrieben von

Juliane Löffler

Onlinerin beim Freitag. Quelle: Papier

Juliane Löffler

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