Gekommen, um zu bleiben

Asylstreik Vor einem Jahr schlugen Flüchtlinge in Berlin ihr bisher größtes Protestlager auf. Nun ist ihre Situation schlimmer denn je
Ausgabe 40/2013
Gekommen, um zu bleiben

Foto: Jennifer Osborne für der Freitag

Am Oranienplatz kündigt sich ein neuer Winter an. Die Schlote der kleinen Zeltstadt in Berlin rauchen, am Infozelt sitzen einige Aktivisten mit Wollmützen. Vor dem Camp hängen frischbemalte Transparente neben ausgeblichenen. „No border, No nation“ kann man auf zerschlissenem Stoff lesen. Vor einem Jahr entstand hier nach einem 600 km langen Flüchtlingsmarsch das sogenannte Oraniencamp, das schnell zum Symbolbild für bundes- und europaweite Proteste gegen die Asylbedingungen für Flüchtlinge wurde. Erstmalig hatten Asylsuchende in Deutschland öffentlichkeitswirksam begonnen, sich selbst für ihre Rechte zu organisieren.

Ein Jahr später ist die Situation im Camp jedoch schwieriger denn je. 100 Menschen leben hier mittlerweile, vor einem Jahr waren es 40. Die Spenden sind aufgebraucht, es fehlt an Lebensmitteln. „Am 7. Oktober soll der Strom abgestellt werden, weil die Rechnungen nicht mehr bezahlt werden können“, erzählt ein Unterstützer des Protests. Wenn das Camp den Winter nicht übersteht, wäre auch das ein Zeichen für die Asylproteste bundesweit.

Fehlendes Interesse

Das Ergebnis der Bundestagswahl hat gezeigt, dass vielen Bürgern das Interesse oder Verständnis für die Probleme von Flüchtlingen in Deutschland fehlt. Angela Merkel soll vor allem eines: die Probleme fernhalten und den Wohlstand sichern. Vor einem Jahr schon sprach der damalige Innenminister Friedrich von den Asylbewerbern als „Überforderung“. Die Chancen, dass den Flüchtlingen bundespolitisch Verbesserungen zugestanden werden, stehen nun noch schlechter. Umso wichtiger wäre es deshalb, dass der Protest nicht wieder von der Agenda verschwindet.

Das wird schwierig, denn die Arbeit der heterogenen Bewegung ist komplex und läuft nicht konfliktfrei. Zerwürfnisse gab es etwa über die Fragen, inwiefern es legitim ist, dass bestimmte Gesichter der Bewegung sich in den Medien darstellen oder ob der Hungerstreik am Brandenburger Tor im vergangenen Winter ein zu drastischer Schritt war. Zudem besetzen linke Gruppierungen aus der Unterstützerszene den Protest immer wieder mit eigenen Themen. Auf dem No-Border-Camp vergangenen Sommer in Köln kam es über die Auslegung der Critical Whiteness Theorie zum Streit. Teilnehmende Flüchtlinge wurden von Aktivisten über ihre nicht „herrschaftssensible Sprache“ belehrt – und fühlten sich verständlicherweise vor den Kopf gestoßen.

Ohnehin stellt die politische Arbeit viele Flüchtlinge vor existenzielle Probleme. Etwa, weil sie für ihre Aktionen die Flüchtlingsheime verlassen und damit ihre Residenzpflicht verletzen – dadurch verlieren sie ihren Anspruch auf Sozialleistungen.

Zersplitterung der Protestgruppen

Es ist ein Dilemma: Der Protest muss gegen gesellschaftliche und politische Strukturen kämpfen, um eine langfristige Verbesserung der Flüchtlingspolitik zu erreichen. Damit Flüchtlinge dezentral untergebracht werden können, muss etwa zunächst ausreichend bezahlbarer Wohnraum vorhanden sein. Der Alltagsrassismus, den die Flüchtlinge immer wieder beklagen, macht diese Suche nicht einfacher. Gleichzeitig kämpfen Flüchtlinge für die Verbesserung ihrer persönlichen Situation. Niemandem ist es zu verdenken, wenn der Kampf für ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen wichtiger wird als die Debatte über den Kapitalismus. Die Kraft der Bewegung leidet unter diesem Spagat.

Organisiert werden die vielfältigen Aktionen von unterschiedlichen Gruppierungen. In Kreuzberg haben Aktivisten eine Schule besetzt, eine Anti-Deportationsgruppe organisiert Aktionen an Flughäfen, in Hamburg haben Lampedusa-Flüchtlinge in der St. Pauli Kirche Zuflucht gefunden. In München, Wien oder Stuttgart gibt es weitere Camps. Zwar stehen alle miteinander in Kontakt, die Bewegung hat durch ihre Ausdifferenzierung in der öffentlichen Wahrnehmung jedoch an Schlagkraft verloren. Das große Medienecho ist versiegt.

Viele Aktivisten sind ausgebrannt, überlastet. Sie hoffen noch immer auf politische Unterstützung, doch außerhalb der Kommunalpolitik gab es bisher kaum Reaktionen. Als der ehemalige Kreuzberger Bezirksbürgermeister Frank Schulz vor einigen Monaten einen runden Tisch organisieren wollte, erntete er vor allem Absagen, auch von der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung, Maria Böhmer. Inzwischen wird im Berliner Senat zumindest diskutiert, den Aktivisten ein Haus bereitzustellen. Der Innensenator Frank Henkel droht schon länger mit der Schließung des Camps. Was kann man tun? Die Ausdifferenzierung der Protestformen hat da vielleicht auch ihr Gutes – denn irgendwo geht es immer weiter.

Der digitale Freitag

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Geschrieben von

Juliane Löffler

Onlinerin beim Freitag. Quelle: Papier

Juliane Löffler

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