Grenzen einreißen

Politische Schönheit Statt sich über entwendete Mauerkreuze zu empören, sollte die Politik sich den Problemen des europäischen Asylrechts stellen, zeigt die Aktion "Europäischer Mauerfall"
Die Teilnehmer der Aktion "Erster Europäischer Mauerfall" auf dem Weg zur bulgarischen Außengrenze nahe dem Dorf Lessowo
Die Teilnehmer der Aktion "Erster Europäischer Mauerfall" auf dem Weg zur bulgarischen Außengrenze nahe dem Dorf Lessowo

Foto: Ruben Neugebauer

Seit das Zentrum für Politische Schönheit mit seiner Kunstaktion „Erster Europäischer Mauerfall“ begonnen hat, dreht sich die Debatte immer wieder um Kunst- und Nicht-Kunst, Zynismus und Würde, Staatsschutz und Diebstahl. Ja, man kann das vorübergehende Verschwinden kritisch sehen. Schließlich sind davon auch die Angehörigen der Mauerfalltoten betroffen, für welche die Aktion ein merkwürdigen Beigeschmack haben könnte. Und ja, man kann sich fragen ob die Mauertoten der DDR wirklich instrumentalisiert werden sollten, um auf die Mauertoten der Zukunft aufmerksam zu machen, oder ob es dafür nicht auch andere künstlerische Lösungen gegeben hätte. Worum es aber eigentlich geht, ist der zweite Teil der Aktion: Die größtenteils durch Crowfunding finanzierte Reise an die Europäischen Außengrenzen, wo in den letzen 25 Jahren rund 30.000 Menschen verblutet, verdurstet, ertrunken sind.

Empörte Politiker wie der Berliner Innensenator Frank Henkel täten gut daran, ihren gekränkten Narzissmus über vierzehn entwendete Mauerkreuze – mitten vor ihrer Nase, und ohne, dass sie es über Tage hinweg bemerkten – hintenanzustellen und dafür mit ihrer Arbeit zu beginnen: Über die Zukunft der europäischen Flüchtlingspolitik nachzudenken. Seit zwei Jahren ist mit den Asylprotesten in Hamburg, München und vor allem Berlin klar geworden, dass dringend neue Lösungen gebraucht werden für eine Welt in die wirtschaftlichen Grenzen immer weiter einreißen – und Menschen für sich dasselbe Recht beanspruchen. Es handelt sich dabei um kein Randphänomen sondern es mehren sich die Stimmen dafür, dass Europa sich öffnen muss statt neue Mauern zu errichten. Meterdicke Stacheldrahtzäunen mögen vorübergehend die physischen Realitäten verändern – gesellschaftliche Entwicklungen lassen sich dadurch nicht aufhalten. Auch dies ist ein Gedanke, der Teil des 9. Novembers sein sollte.

Die Reise an die bulgarische Außengrenze im Südosten des Landes nahe der türkischen Grenze hatte deshalb einen Signalcharakter, den es nun zu diskutieren gilt, statt sich weiter hinter Debatten um die eigene Geschichte zu verschanzen. Die bereits seit dem 7. November andauernde Reise der Aktivisten ist mehr als ein Theaterprojekt. Es ist eine Aufforderung an die Bundesregierung, ihre Asylpolitik zu überdenken.

Dass die Teilnehmer der Aktion es am 9. November nicht gelang, bis an den bulgarisch-türkischen Grenzzaun vorzudringen, ist deshalb nicht als Scheitern der Aktion zu werten. Bereits an der bulgarischen Grenze hatte der Referent für Internationale Zusammenarbeit des bulgarischen Innenministern die Teilnehmer in den Bussen über mögliche rechtliche Konsequenzen belehrt. Das Demonstrieren in der 300-Meter-Sperrzone vor dem Grenzzaun könne bis zu mehrjährige Haftstrafen nach sich ziehen. Dass umgekehrt eine Stacheldrahtmauer errichtet wird, dessen Beschaffenheit derart brutal ist, dass Menschen verbluten weil sie sich an ihm die Arterien aufschlitzen, ist die Kehrseite für jene, welche von der anderen Seite der Mauer kommen.

„Uns war klar, dass wir es mit dieser Aktion nicht schaffen werden, die europäischen Außengrenzen abzubauen. Wir betreiben eine Politik der kleinen Nadelstiche. Ich denke, die Message ist angekommen“ resümiert Philipp Ruch, Künstlerischer Leiter des Zentrums für Politische Schönheit, nach der Aktion nahe der bulgarischen Außengrenze in dem Dorf Lessowo. Nachdem ein Teil der Teilnehmer der Aktion bereits über Sofia und Istanbul zurück nach Deutschland gereist ist, fährt die restliche Gruppe mittlerweile über Griechenland und Mazedonien zurück. Rechte Gruppen hatten in Bulgarien gegen die Teilnehmer mobilisiert und sie hatten nach einer enormen Medienaufmerksamkeit kein Hotel mehr gefunden, dass sie aufnahm.

Die Reportage zur Aktion "Erster Europäischer Mauerfall" erscheint in der kommenden Printausgabe des Freitag

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Geschrieben von

Juliane Löffler

Onlinerin beim Freitag. Quelle: Papier

Juliane Löffler

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