Im Reißwolf

Asyldebatte Ursula Fricker verarbeitet mit ihrem Roman „Lügen von gestern und heute“ die Räumung des Berliner Oranienplatzes
Ausgabe 35/2016

Gut und böse, das ist immer eine Frage der Perspektive. Vor allem, wenn sich alle im Recht fühlen. Was das in der Asyldebatte bedeutet, hat die Schweizer Autorin Ursula Fricker in ihrem Roman Lügen von gestern und heute am Beispiel Berlin aufgeschrieben. Konkret: an der Räumung des Berliner Oranienplatzes, die nun rund zwei Jahre zurückliegt. Der Oranienplatz wurde 2012 zum Zentrum der Berliner Flüchtlingsbewegung – ein Ort, an dem Refugees wie in München und anderen europäischen Städten wie Stockholm oder Wien erstmals begannen, sich selbst politisch zu organisieren, eine Stimme einzufordern und Sichtbarkeit. Am Oranienplatz konnte man wie unter einem Brennglas alle Probleme lokaler Flüchtlingspolitik beobachten. Wer bekommt in dieser Gesellschaft welchen Wert zugemessen? Wer gehört dazu und wer nicht?

Wiedererkennungseffekte

Befeuert wurden die Konflikte in Berlin durch Reibereien mit der Nachbarschaft, widersprüchliche politische Entscheidungen und die Beteiligung der linksautonomen Szene. Die Aktivisten instrumentalisierten die Geflüchteten für ihre politische Agenda, hieß es aus der Politik um Innensenator Henkel; die Politik sei an einer humanen Lösung nicht interessiert und zu nicht mehr fähig als machtpolitischer Taktiererei, hieß es aus dem Umfeld des Oranienplatzes. Dass beides zu einfach gedacht ist, dafür steht nun Lügen von gestern und heute. Ursula Fricker entwirft eine Erzählung um die Figuren Beba, eine Geflüchtete, die als Prostituierte arbeitet, Isa, eine verlorene Mittelschichtsstudentin, die sich in der Flüchtlingsszene radikalisiert, und Innensenator Otten, der für die Entscheidung der Räumung des Camps verantwortlich ist.

Der Roman ist gut recherchiert, und so lassen sich schnell Figuren und Orte wiedererkennen, auch wenn auf Seite null vorangestellt wird: „Dies ist ein Roman. Figuren und Begebenheiten entspringen der Fantasie der Autorin. Eventuelle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder tatsächlichen Begebenheiten sind rein zufällig.“ Das ist natürlich Koketterie. Die Figur Senator Otten wird eindeutig als Frank Henkel erkennbar, der Berliner Bezirksstadtrat Hans Panhoff bekommt, wie tatsächlich 2013 geschehen, als Verhandlungsführer um eine von Flüchtenden besetzte Schule eine Rolle, genau wie die Integrationssenatorin Dilek Kolat, das linke Portal Indymedia wird als Ziggymedia zitiert, sogar einige Refugees und Aktivisten kann man wiedererkennen. Die Rollen damals in Berlin waren klar verteilt. Henkel machte sich in seiner ignorant-konservativen Art unmöglich, Panhoff gab eine schwache Schachfigur ab, er konnte seine Versprechungen am Ende nicht halten, die Aktivisten, Geflüchteten und Unterstützende zersplitterten angesichts realpolitisch unrealistischer Forderungen. Am Ende wurde geräumt.

Fricker steckt diese Eindeutigkeiten in den Reißwolf. Henkel alias Otten wird zu einer privaten Figur. Er weint, er denkt, er fürchtet. Die zunehmende Gewalt und Anschläge der Linksautonomen gegen ihn führen zu Angst und Paranoia. Isa wiederum, die naive Studentin, wird auf ihrem Weg zur Radikalisierung begleitet, der schließlich dramatisch endet.

Warum nun für genau diese eindeutig zuzuordnenden Charaktere Sympathie (Otten) und kopfschüttelndes Unverständnis (Isa) erzeugt werden soll: Es wird nicht recht nachvollziehbar. Etwa weil in der besetzten Schule in der Ohlauer Straße in Berlin 2014, die so auch im Buch angedeutet wird, derart unmenschlich verwahrloste Zustände herrschten, dass die Entscheidung, nicht zu räumen, einem Politiker unverantwortlich erscheinen musste. Diese Erkenntnis hat auch die Figur Otten. Dass es in Berlin durch Henkel aber immer wieder zu aggressivem polizeilichen Vorgehen kam, er sich absolut kompromisslos zeigte und ignorierte, dass die verwahrlosten Zustände vielen Refugees immer noch besser erschienen als Abschiebung, das fehlt. Dass die meisten der verzweifelten und traumatisierten Flüchtenden aus Berlin inzwischen abgeschoben sind, auch. Stattdessen wird Otten in der Erzählung selbst zum Opfer. Umso erstaunlicher ist, dass die merkwürdige Sympathieumkehr im Spektrum der Charaktere für den Leser funktioniert, weil Fricker eine großartige Erzählerin ist.

Moralische Kategorien

Wie sie etwa die Radikalisierung von Isa aus einem gesellschaftlichen Umfeld von Orientierungslosigkeit und Überfluss herleitet: „Irgendwann dachte Isa, muss man sich einverstanden erklären. Gerade wenn alles zu kompliziert ist, um noch durchschaubar zu sein. Man muss endlich Ja sagen, anders hält man es nicht aus.“ Oder wie sich an Isa die ganze Verbohrtheit linker Diskurse zeigt, die leider auch in der Realität nicht wegzudiskutieren ist: „Was haben wir, sagte Isa, noch mit dieser herrschenden Ordnung zu tun, mit diesen moralischen Kategorien dieser Gesellschaft? Alles ist erlaubt, was der guten Sache nützt, restlos alles.“ Oder wie Senator Otten sensibel gezeigt wird und reflektiert: „Im Laufe des Jahres hatte Otten das verloren, was ihn zum Politiker gemacht hatte; die Fähigkeit, sich abzuwenden von allem, was ihn zu sehr zu betreffen drohte. Er ließ sich berühren, ja von was eigentlich? Davon, dass Menschen, wenn man gut zu ihnen war, trotzdem böse sein konnten?“ Empathisch zu sein, dass ist etwas, was man Henkel als Privatperson aus mangelndem Wissen nicht absprechen kann. Trotzdem muss die Frage erlaubt sein, womit er sich diese Aufwertung verdient hat. Oder falls es nicht um ihn als Person geht: Warum er als Folie für Senator Otten dient.

Fricker macht präzise, zeitgenössische Beobachtungen, die teilweise in der Erzählhaltung poetisch und universell werden. Der Roman ist interessant, weil er etwas über linken Politikaktivismus erzählt. Von den Rechten erwartet man in der ganzen Beschränktheit ihres Weltbilds – und das macht dann den Unterschied zwischen Links- und Rechtsextremisus – keine differenzierte Auseinandersetzung, keine Fähigkeit zum Diskurs. Von den Linken schon. Dass es im politischen Kampf um Asylpolitik Grautöne zwischen Realpolitik und Ideologie gibt, ist ein wichtiges Thema. Der Oranienplatz bietet für diese Erzählung eine Folie, die jedoch an ihre Grenzen kommt.

Info

Lügen von gestern und heute Ursula Fricker dtv 2016, 368 S., 21,90 €

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Geschrieben von

Juliane Löffler

Onlinerin beim Freitag. Quelle: Papier

Juliane Löffler

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