Feminismus also. Gibt es derzeit nicht größere Sorgen? Der IS zerlegt den Nahen Osten, Europa knirscht unter der Frage, wie mit den Menschen auf der Flucht umzugehen ist, in Deutschland ziehen Rassisten zu Tausenden durch die Großstädte. Und jetzt soll über Feminismus debattiert werden? Halt, stopp. Bevor die feministische Leserschaft verzweifelt und die maskulistische applaudiert, lassen Sie mich ein wenig ausholen. Diese Frage wurde kürzlich bereits gestellt, auf einer feministischen Konferenz des Gunda-Werner-Instituts in Berlin. Die Soziologin Sabine Hark stellte sie, mit einem Augenzwinkern. Denn unter Feministinnen und Feministen ist die Antwort klar. Natürlich muss weiter debattiert werden, gerade jetzt.
Die Strukturen von Sexismus und Rassismus sind die gleichen – es geht um „Entrechtung, Entwürdigung, Gewalt“, um es mit den Worten der Wissenschaftlerin zu sagen. Also darum, dass manche Menschen weniger Macht haben als andere. Und da gibt es bei Frauen wie bei Geflüchteten viele Überschneidungen, erst recht global betrachtet. Es geht um gesellschaftliche Außenseiter, die, sobald sie Rechte einfordern, zu einem Störfall werden. Es geht um gesellschaftliche Grenzen: Wer ist dabei, wer muss draußen bleiben? Um Menschen, denen pauschale Vorwürfe gemacht werden (faul, dumm, gefährlich, fanatisch, unverständlich, hysterisch). Menschen, die als die Abweichung von der Norm gelten.
Als die Frage also gestellt wurde (der Saal war voll, die Stimmung gut), haben viele laut gelacht. Ich nicht. Weil ich vor wenigen Wochen dieselbe Frage hatte, als ich von einer Recherche über die Fluchtroute auf dem Westbalkan zurückkam – und an meinem sicheren, im Trockenen stehenden Schreibtisch zum Tagesgeschäft zurückkehren sollte. Ist jetzt die Zeit für feministische Debatten? Das fragte ich mich. Da draußen bricht gerade die Welt auseinander. Da sterben schutzbedürftige Menschen, weil sie versuchen, nach Europa zu kommen. Und ich soll ein Manifest über Cyberfeminismus lesen? Absurde Vorstellung.
Gemacht habe ich es trotzdem. Der Alltag ist unerbittlich, und die Welt bleibt nicht stehen, weil es anderswo brennt. Das Gefühl, auf einem Nebenschauplatz zu kämpfen, ist seitdem schwächer geworden. Ganz verschwunden ist es nicht. Es ist schwer, die großen strukturellen Zusammenhänge zu sehen, wenn die Realität dir ins Gesicht springt. Aber es spricht auch nichts dagegen, an verschiedenen Fronten gleichzeitig zu kämpfen.
Kommentare 10
Es darf nicht nur, es muss an verschiedenen Fronten gleichzeitig gekämpft werden. Und das kann auch bedeuten, Zeichen gegen Sexismus zu setzen wo das vonnöten ist.
Wenn sie jetzt noch erkennen, dass Feminismus nicht identisch mit dem Kampf gegen Sexismus ist, sie im Gegenteil in diesem Blog selbst ein paar üblen SexistInnen Plattform geboten haben, bin ich ganz bei Ihnen.
:)
Dass viele Rechtsaußen feministische Standpunkte vertreten (Kopftuch-Verbot, Burka-Verbot, Abwertung von Hausfrauen), zeigt die Nähe von Rassismus und Feminismus. Unsere tolerante, offene, sozialliberale Gesellschaft zu schützen, ist die Aufgabe jener, die sich für echte Gleichstellung und gegen Diskriminierung einsetzen.
ich hoffe schwer, dass die Antwort auf der Konferenz nicht nur darin lag, Parallelitäten zwischen Rassismus und Sexismus aufzuzeigen, sondern auch auf intrinsische Verbindungen und unangenehme Fragen (für Feminist_innen) hinzuweisen. Flüchtende Menschen haben ein Geschlecht und eine sexuelle Orientierung. 'Die feministische Debatte' - falls es die so gibt - muss sich darum sorgen, nicht eine Debatte der weissen Bio-Deutschen zu sein...
Ach, ja. Mit jeder neuen Krise müssen die Sachwalter der bis dahin noch unerledigten alten Krisenthemen um ausreichendes Gehör im Medien-Diskurs bangen. Wir sollten uns daran gewöhnen, dass Probleme in dieser Gesellschaft schon lange keiner grundsätzlichen Wurzelbehandlung mehr unterzogen und damit gelöst werden. Daran glauben nur noch die radix-kahlen Sonntagsspaziergänger, die sich selbst für das Volk halten.
Man darf allerdings gespannt sein, mit welchen Tricks die Geheim-Statistiker-Truppe aus den Propagandaministerien in Bund und Ländern uns bald vorrechnen wird, dass der Strom der Flucht-Migranten nur halb so groß ist wie - sagen wir mal - der Strom aus Atom- und Braunkohlekraftwerken. Vorbild Arbeitslosenstatistik und Energiewende. Ich würde zunächst mal - par ordre du mufti - den Ausstieg aus der Flüchtlingskrise verfügen und anschließend sämtliche Hilfsorganisationen verpflichten, die Flüchtlingszelte und Dixi-Klos nach EnEV2016 wärmezudämmen. Gleichzeitig ergeht eine Anweisung an sämtliche Meldebehörden und Aufnahmeeinrichtungen, Flüchtlinge mit Erkältungssymptomen und diejenigen, die gerade auf einem Dixi-Klo sitzen, aus der Asylbewerberstatistik heraus zu rechnen. Hierzu stellen die Aktienhändler der Republik ihre beste High-Frequency-Trading Software zur Verfügung. Die reagiert in Millisekunden auf jeden Hustenanfall oder Toilettengang. Wo rechnergesteuert innerhalb kürzester Zeit Hunderte von Millionen verbrannt werden können, dürfte es kein Problem sein, im Hokus-Lokus-Sputibus-Verfahren die Statistik um Hunderttausende von Flüchtlingen zu bereinigen und diese virtuell über die Grenzen zu verschieben. Dann heißt es auch hier: Die Flüchtlinge sind nicht weg, sie gehören nur jemand anders.
Und schon hat man den Kopf wieder frei für all die anderen ungelösten Fragen und Probleme, wie zum Beispiel sexuelle Gewalt gegen Frauen. Mit etwas Geschick lässt sich durch leichte Umformulierungen der Problemthemen und -gruppen demonstrieren, dass ohnehin alles mit allem zusammenhängt: Sexuelle Gewalt gegen Flüchtlingsfrauen, sexuelle Gewalt gegen nicht deutschstämmige Frauen, sexuelle Gewalt gegen arbeitslose Frauen, sexuelle Gewalt gegen allein erziehende, altersarme oder aus überteuerten Großstadtwohnungen per Mietpreisexplosion herausgegenderte Frauen. Undsoweiter und so fort. Völker hört die Signale, auf zum letzten Geschlecht, sei es nun männlich, weiblich oder reiner Sachzwang.
Aber mal im Ernst: Muss man den Teilnehmern an der größten Völkerwanderung der Nachkriegsgeschichte nicht dankbar sein, dass ihre Verzweiflungsmärsche neben der Ausplünderung und Destabilisierung ganzer Kontinente durch Schurkenstaaten jeglicher Couleur auch alle Dauerbaustellen dieser Republik schmerzlich in Erinnerung ruft, die zu umfahren uns dank der medialen Navigationssysteme allzu leicht gemacht wird? Nicht dass ich für alles eine Lösung hätte. Aber vielleicht reicht es erstmal, den kompletten Aufgabenzettel der Klassenarbeit wieder in Erinnerung zu rufen, statt immer nur mit der Aufgabe a) anzufangen und beim Klingeln ein leeres Heft abzugeben.
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Vier von fünf Sternchen von mir. Ich hätte auch fünf Sternchen geben können, aber ich will ja meckern und weiter in der Wunde bohren. Gerade hier.
|| Natürlich muss weiter debattiert werden, gerade jetzt. ||
Natürlich muss weiter debattiert werden. Volle Zustimmung! Gerade jetzt. Gerade jetzt..??! Gerade jetzt. Warum gerade jetzt..??
Gute Frage, oder..? Vielleicht weil dieser Tage an jeder zweiten Ecke zu lesen steht, dass dieses Land sich verändern / ein anderes werden wird. Aber nirgends steht, was damit gemeint sein könnte. Ist es ein Versprechen..? Ist es eine Drohung..?
|| Die Strukturen von Sexismus und Rassismus sind die gleichen – es geht um „Entrechtung, Entwürdigung, Gewalt“ ... ||
Ja. Manche bezeichnen Sexismus sogar als eine spezielle Art des Rassismus. Ich auch. Und es gibt rassistische Nicht-Biodeutsche in diesem Land. Für ein älteres, kosovarisches, muslimisches Ehepaar, das ich kenne, sind Z-Wörter z.B. irgendwie keine Menschen. Dafür kommen mein Freund und ich vollumfänglich gut mit denen klar.
Ich hätte andere Beispiele, aber das soll's jetzt sein, um zu erklären, warum ich es schade finde, dass auch dieser Text um den heißen Brei herum schreibt.
|| es spricht auch nichts dagegen, an verschiedenen Fronten gleichzeitig zu kämpfen ||
Nein, dagegen spräche nichts. So es denn mehrere Fronten gäbe. Aber die gibt es nicht. Es gibt nur eine. Vermutlich habe ich über dieses schreckliche "Rücken-an-Rücken-Prinzip" im Kampf um Gleiche Rechte für alle!! noch nicht genug geschimpft. Denn es stimmt einfach nicht, dass die Feinde aus mehreren Richtungen kommen. Sie kommen aus genau einer.
Wenn man mal kurz überlegt, was (die Pirinçcisierung) Pegida(s) und eine Allahu-Akbar-Hetzjagd auf jemanden, der ein bisschen Papier im Klo runterspült strukturell gemeinsam haben, dann kommt man da quasi automatisch drauf.
Ein Kommentar, in dem der Begriff feministische Religionskritik nicht vorkommt. Denn: warum auch..? Wonnich. Verändert sich das Land halt. Vorwärts immer.
|| Es ist schwer, die großen strukturellen Zusammenhänge zu sehen, wenn die Realität dir ins Gesicht springt. ||
Mir geht es genau andersrum. Nie zuvor war mir das große, irgendwie allumfassende Motiv von Entrechtung, Entwürdigung, Gewalt so klar vor Augsen, wie dieser Tage. Da hat Chefe mal einen wirklich (wirklich!) guten Text geschrieben. Bitte weitersagen! ;o)
LG!
Ein P.S., weil's mir gerade einfällt.
Ich denke, das ist keine "Relevanz-Falle", sondern eine "Prioritäten-Falle". Denn selbstverständlich geht es nicht um das Ob von Feminismus/Anti-Sexismus, sondern um dessen Rang im furchtbaren, allgemeinen Setting, zu dem neben unerträglichen Szenen und Bildern von Flucht/Not einerseits und Hass/Gewalt andererseits auch eine unerträgliche Hell-Dunkel-Malerei gehört.
Ich kann es auch ganz anders sagen und rufen: Liebe FeministInnen (jedweder Konfession), wenn ihr die Islamismus-Kritik Pegida überlasst, dann... ...! (Satz bitte selbst vervollständigen)
Exzellten Ihre beiden Kommentare.
Genau das gleiche geht mir immer wieder durch den Kopf. Nur das mit der Priorität ist mir nicht so ganz geheuer.
Wer den Kampf um Gleichberechtigung erstmal hinten anstellt, hinter den Kampf gegen Rassismus, der hat meiner Meinung nach schon verloren. Denn wie wir auch in diesem Drama um Flüchtlinge und Kriegsopfer sehen, leiden Frauen und Kinder immer doppelt: Nicht nur durch alles was auch männlichen Flüchtlingen geschieht, sondern von Hand vieler männlicher Flüchtlinge selbst.
http://www.spiegel.de/politik/ausland/fluechtlinge-unhcr-beklagt-sexuellen-missbrauch-von-kindern-und-frauen-a-1059356.html
http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-09/fluechtlinge-unterkunft-sexuelle-uebergriffe
Ach und noch ein link. Diesmal wissenschaftlicher: http://fluechtlingsforschung.net/fluchtlingsfrauen/
"Sonntagsspaziergänger" ist hier natürlich rein metaphorisch gemeint. Präziser wäre es wohl, hier von Montagsspaziergängern zu sprechen.
Mögliche Lösung der Flüchtlingskrise
Ein Mindest-Wohlstand auf dem Niveau eines hiesigen Sozialhilfeempfängers (mit Nahrung, Kleidung, Wohnung, Heizung, Zugang zu sauberem Wasser und medizinischer Versorgung, Strom und Internetzugang) wäre sicherlich heute schon für alle Menschen erreichbar; aber dafür müssten wir die Reicheren und v.a. die Superreichen konsequenter besteuern bzw. teilweise enteignen und das gesamte Land und die Ressourcen weltweit gerecht neu aufteilen.
http://misanthrope.blogger.de/stories/2541406/