Mit Leib und Seele

Bühne Acht Stunden Theater ohne Pause - das ist eine Herausforderung. Die Reinszenierung von Jan Fabre bringt nicht nur Darsteller, sondern auch die Zuschauer an ihre Grenzen

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Vordergrund: erschöpfte Zuschauer. Hintergrund: vermutlich erschöpfte Tänzer und Schauspieler, denen man das kaum anmerkt
Vordergrund: erschöpfte Zuschauer. Hintergrund: vermutlich erschöpfte Tänzer und Schauspieler, denen man das kaum anmerkt

Foto: der Freitag

Ich habe Theaterkater. Aber einen von der guten Sorte, bei dem man sich erschöpft aber glücklich fühlt. Grund dafür ist Jan Fabres achtstündiges StückThis is theatre like it was to be expected and foreseen von 1982, was am Freitag und Samstag im HAU in Berlin im Rahmen des Tanz- und Theaterfestivals Precarious Bodies wiederaufgeführt wurde.

Das Festival beschreibt sein Programm mit Mary Douglas Zitat: "Der menschliche Körper ist das mikroskopische Abbild der Gesellschaft" und fragt nach der Verletzbarkeit des Körpers in Zeiten einer prekären Wirtschaftslage, in der Leben und Arbeit von Unsicherheit geprägt sind.

Jan Fabre revolutionierte zu Beginn der Achziger Jahre die Theaterszene und Performancekunst in Belgien und darüber hinaus. Heute kann sein Stück zwar nicht mehr dieselbe skandalöse Sprengkraft haben, wie damals. An nackte Menschen auf der Bühne etwa, ist man gewöhnt. Aber acht Stunden ist noch immer: eine Kampfansage. Ausgerüstet mit Proviant und mit dem festen Entschluss, nicht einzuschlafen, gehe ich aufgeregt zum Hebbel am Ufer.
Der Abend beginnt bild- und wortgewaltig. Die acht Darsteller sitzen in einer Klappstuhlreihe und warten. Füßescharrend und händeklatschend hängen sie in nervösen Bewegungsschleifen fest. Dazu reihen sie wie bei einem Dominospiel Satzfetzen aus Alltagsgesprächen aneinander, in einer Endlosschleife entstehen verzerrte Dialoge über Konsum, Medien und Unterhaltung. "What a beautiful football-field!". Die Stimmen und Bewegungsmuster brennen sich nach und nach in mein Gedächtnis ein, werden mich auch am nächsten Tag noch nicht loslassen. Immer schneller und lauter werden die Wortmassen und die Bewegungen der Darsteller, ekstatisch, fast wie in Trance.
Die Wiederholung bleibt für die kommenden acht Stunden das bestimmende Element der Inszenierung. Das geht an die Substanz - etwa wenn ein Darstellerpärchen eineinhalb Stunden lang mit einen Wettkampf um das abwechselnde An- und Ausziehen ihrer Kleidungsstücke den Kampf der Geschlechter illustrieren (der Mann gewinnt dabei jedesmal, und man fragt sich, warum das insgesamt sehr heteronormative und hierarchische Geschlechtsbild des Stücks nicht konsequenter modernisiert worden ist).

Ohrfeigen und hyperventilieren

Viele Zuschauer verlassen in dieser Zeit den Saal, um eine Pause zu machen. Jeder muss hier mit seinen Kräften haushalten. Zu sehen, wie die Darsteller an ihre körperlichen Grenzen gehen, sich zwanzig Minuten lang ohrfeigen, hyperventilieren, vor Drehschwindel zu Boden fallen, zucken, stöhnen - das löst eigenes körperliches Unbehagen aus. Manchmal muss ich mich schütteln oder den Blick abwenden. Und zwischendurch einen Espresso an der Bar trinken. Noch zwei Stunden, seufzt der junge Kellner um zwölf, und lächelt müde.
Auch ich bin nach sechs Stunden erschöpft. Aber während der Nacht lerne ich den Rhythmus des Stücks kennen, kann manchmal Szenenwechsel erspüren, lerne ruhige, fast zeremonielle Passagen als Ruhephasen zu nutzen. Ich versinke in der Betrachtung von Schildkröten, die mit Kerzen auf dem Rücken über die Bühne kriechen. In der Reihe hinter mir schläft eine Frau nahe des Ausgangs und lässt sich vom permanenten Rein und Raus an den Saaltüren nicht stören.
Um halb zwei bin ich vollgepumt mit Fabres ästhetisierter Bilderwelt voll nackter Körper, Licht und Schattenspielen, voll mit auditiven Eindrücken, Stimmen und Schreien, Geflüster, Musik, dem Rauschen von Bunsenbrennern, kunsttheoretischem Diskurs, der immer wieder eingespielt wurde. Die letzte Szene ist angelehnt an den Anfang des Stücks, als schließe sich ein Kreis und es könne wieder von vorne losgehen. Das schafft hier vermutlich niemand mehr.
Stattdessen verabschieden sich die Darsteller, lächeln ermattet und verschwitzt während der minutenlangen Standing Ovations. So viel Zeit muss jetzt noch sein.

Jan Fabre, This is theatre like it was to be expected and foreseen

Regie: Jan Fabre, Musik: Guy Drieghe, Kostümbild:Pol Engels, Regieassistenz: Miet Martens, Renèe Copraij, Performer: Maria Dafneros, Piet Defrancq, Melissa Guerin, Carlijn Koppelmans, Georgios Kotsifakis, Lisa May, Giulia Perelli, Gilles Polet, Pietro Quadrino, Merel Severs, Kasper Vandenberghe, Kostüme: Katarzyna Mielczarek, Technik: Thomas Vermaercke, Produktions-leitung: Helmut Van den Meersschaut

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Juliane Löffler

Onlinerin beim Freitag. Quelle: Papier

Juliane Löffler

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