„Oh ja!“

Interview Wie falsche Informationen Sexualität verändern kann und wann Aufklärung politisch wird, weiß die ehemalige Dr. Sommer
Ausgabe 51/2016

Es war nicht nur ein Jugendmagazin – Bravo war über Jahrzehnte der Ort der sexuellen Erziehung schlechthin. Wie geht das heute, da das Internet aus nichts als Exhibitionismus zu bestehen scheint? Jutta Stiehler klärt auf.

der Freitag: Frau Stiehler, Sie haben als Dr. Sommer 16 Jahre lang Jugendliche aufgeklärt. Wie sieht das in der Zeit der Digitalisierung aus – sind Jugendliche heute besser oder schlechter aufgeklärt?

Jutta Stiehler: Sie haben ganz klar mehr Informationen. Sie sind nicht mehr nur auf das angewiesen, was sie in der Schule oder zu Hause erfahren oder was in heimlich gehandelten Heftchen steht. Das heißt nicht, dass die Jugendlichen perfekt aufgeklärt sind. Je mehr Informationen, umso mehr Verwirrung kann auch entstehen.

Können Sie das erklären?

Gerade bei jungen Leuten fehlt oft das Zusammenhangwissen. Ein Mädchen etwa weiß, was ein Kondom ist und wo es das kaufen kann. Aber ist sie emotional in der Lage, wenn sie mit einem Jungen schläft, zu sagen: Ich will, dass du das jetzt überziehst? Es geht um die Anwendbarkeit von Wissen.

Welche Rolle spielt dabei die Digitalisierung?

Sich heute ein eigenes Bild zu machen ist schwierig. Wenn so viele Informationen und Sexualität um uns herum sind, ist es wichtig, seinen eigenen Standpunkt zu entwickeln. Jugendliche wissen zwar grundsätzlich, wie Sexualität funktioniert. Aber ihre Frage ist dann: Wie ist das denn bei mir? Im Medienzeitalter ist das noch mal um einiges wichtiger geworden.

Und was braucht es dafür?

Das fängt zu Hause bei der Kindererziehung an Mit einem gesunden Selbstbewusstsein, damit man sich von fragwürdigen Informationen nicht überrollen lässt. Man kann Kinder und Jugendliche nicht davor bewahren, dass sie sich im Netz fragwürdige Infos holen. Aber man kann ihnen vorher etwas mitgeben, was sie stärkt – und schützt.

Zur Person

Jutta Stiehler, geboren 1957, ist Diplom-Sozialpädagogin, Transaktionsanalytikerin (cta), Heilpraktikerin für Psychotherapie und war von 1998 bis 2014 Dr. Sommer bei Bravo. Nun gibt sie unter anderem Projektseminare für Schülerinnen und Schüler

Heute gibt es viele verschiedene Aufklärungskanäle auf Youtube wie „Fickt euch! Ist doch nur Sex“. Kann das ein Ersatz für eine Instanz wie „Bravo“ sein?

Anfangs war Bravo für Jugendliche oft die einzige Quelle zum Thema Sexualität, das ist jetzt nicht mehr so. Jugendliche können auch zu Hause eher um Rat fragen, weil die heutige Elterngeneration viel aufgeklärter ist. Das hat auch mit dem Vokabular zu tun. Heute kann man Penis sagen statt „da unten“. Das Image von Sexualität ist längst aus der Schmuddelecke raus.

Aufklärungskanäle wollen falsche Vorstellungen der Porno-Industrie korrigieren. Ist das noch immer das Hauptproblem?

Es gibt durch Pornos eine hohe Verunsicherung bei Jugendlichen. Etwa das völlig falsche Frauen- und Männerbild: Die Jungen denken, ihre Penisse sind zu klein und fragen sich, warum sie ihren Samen nicht so weit schleudern können. Und kein Mädchen kann sich mit einer Frau identifizieren, die ununterbrochen Lust auf Sex hat und es scheinbar gut findet, gedemütigt, gequält und benutzt zu werden. Das Mädchen denkt aber: Womöglich muss ich so sein. Aber da habe ich Vertrauen in die Jugendlichen, meistens können sie abstrahieren.

1947 klärte Beate Uhse über die Kalendermethode zur Verhütung auf, 1972 enttabuisierte „Bravo“ Selbstbefriedigung. Worüber muss heute aufgeklärt werden?

In den Schulen findet die biologische und technische Aufklärung statt. Die nehmen ihren Bildungsauftrag anders wahr, sprechen aber die emotionale Seite nicht an.

Was tue ich bei Liebeskummer?

Liebeskummer ist Liebeskummer, der tut in jedem Zeitalter und unabhängig von Informationen weh. Was ganz wichtig ist: Zu erklären, dass jeder seine eigene Sexualität hat und sein eigenes Tempo. Darin müssen Jugendliche bestärkt werden: sich nicht gedrängt zu fühlen, sich abzugrenzen von Erwartungen des anderen. Das Nein ist nach wie vor, vielleicht mehr denn je, ein sehr wichtiges Wort ...

... und hat bei Gina-Lisa Lohfink eine große Rolle gespielt.

Das Thema sexuelle Gewalt war auch in meiner Beratungszeit ein Riesenthema. Es ist sehr schambesetzt. Das Wichtigste ist, zu vermitteln: Es ist nicht deine Schuld. Und dazu zu ermutigen, sich Hilfe zu holen. Auch das bedeutet Aufklärung: jemanden dazu zu befähigen, selbst aktiv zu werden. Das geht mit individuellen Angeboten.

Wie hat sich das in Ihrer Aufklärungsarbeit im Laufe der Jahrzehnte verändert?

Wir hatten in unserer Beratungszeit immer diesen enormen Vertrauensvorschuss. Einmal hat uns ein Junge wegen einer Hautkrankheit ein Polaroid mit seinem Penis geschickt – das fand ich sehr mutig. Aufklärungsarbeit war für uns Wissensarbeit. Wir haben Fachliteratur studiert und uns gegenseitig auf den neuesten Stand gebracht.

Welche Gerüchte über Sexualität kursieren heute?

Es sind aus meiner Wahrnehmung mit dem Internet tatsächlich weniger geworden, auch schon in den letzten 20 Jahren. Davor gab es eine ganze Menge: dass heiße Bäder eine Abtreibungsmethode sind, oder dass Frauen nicht schwanger werden, wenn sie beim Sex oben sind.

Wie bekämpft man falsche Informationen?

Ich habe als Aufklärerin immer versucht, nicht einfach eine neue Wahrheit dagegenzustellen. Sondern die Ressourcen der Jugendlichen zu aktivieren. Ein Beispiel: Eine häufige Frage war, ob man die Pille nur dann nehmen muss, wenn man Sex hat. Ich habe dann etwas über den Zyklus und den Eisprung erklärt, daraus ergab sich dann im Idealfall die Antwort.

Falsche Vorstellungen halten sich lange. Und manches Wissen braucht lange, um ins Bewusstsein der Mehrheit zu dringen – etwa dass die Klitoris ein ähnlich großer Schwellkörper ist wie ein Penis. Wie muss Sexwissen aufbereitet sein, damit es ankommt?

Das mit der Klitoris ist wirklich nicht neu. Das haben wir schon vor 20 Jahren erklärt. Dass Masturbation das Rückenmark aufweicht, ist eine Vorstellung aus dem 19. Jahrhundert. Auch wir mussten immer wieder publizieren, dass es ein ganz normaler Teil der eigenen Sexualität ist.

Die Webseite „OMG Yes“ hat dazu ein spannendes Videokonzept entwickelt. Anhand von Protagonistinnen wird sehr anschaulich am Körper aufgeklärt, etwa zum Thema Selbstbefriedigung. Ist das eine Art, wie Aufklärungsarbeit heute aussehen muss, damit sie die Menschen erreicht?

Aufklärung muss direkt und praktisch sein und sie darf nicht überfordern. Das meine ich mit dem eigenen Standpunkt. Was mag sie, was mag er – das war auch bei der Bravo ein großes Thema. Dazu gehört auch die Info, dass Mädchen die gleiche Lust und das gleiche Recht haben, zur Befriedigung zu kommen. Nur bitte kein Hochleistungssport. Sex sollte wirklich kein zusätzlicher Stress sein.

Brauchen auch Erwachsene Aufklärung?

Oh ja! Je rigider eine Erziehung ist, umso größer der Bedarf. Im besten Fall schafft man es, Intimität herzustellen, sich selbst und dem anderen nahe zu sein. Klingt toll, funktioniert aber auch nicht immer. Sex muss nicht immer schnell und effektiv sein oder langsam und romantisch. Sex muss gar nichts.

Gleichzeitig gibt es mit der Neuen Rechten auch Widerstände gegen diese Offenheit, besonders beim Thema Homosexualität.

Wir haben viele Jugendliche beim Thema Coming-out unterstützt. Wir haben erklärt, dass Homosexualität nicht besser oder schlechter ist, oder gar ansteckend. Beim Thema Sexualität darf alles sein – solange es anderen nicht schadet.

Muss Aufklärungsarbeit politischer werden?

Nein, aber Aufklärungsarbeit darf keine Rückschritte machen. Ich finde es furchtbar, dass rechte Gruppen in Zukunft möglicherweise mehr zu sagen haben. Und wenn Homosexualität öffentlich angeprangert wird, dann ist es Aufgabe der Aufklärungsarbeit, zu sagen: Das ist falsch. Aufklärung per se ist nicht politisch. Wenn es darum geht, Menschen zu schützen und sexuelle Freiheiten zu wahren: Dann ist sie politisch.

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Geschrieben von

Juliane Löffler

Onlinerin beim Freitag. Quelle: Papier

Juliane Löffler

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