Ohne Ballettschuh

Bühne Was ist Tanz? Der Choreograph Alessandro Sciarroni spielt beim Festival "Tanz im August" mit dem Genre und entwickelt eine ungewöhnliche Formensprache
"UNTITLED" von Alessandro Sciarroni
"UNTITLED" von Alessandro Sciarroni

Foto: Andrea Pizzalis

Wo verlaufen die Grenzen zwischen Tanz, Theater und Performance? Diese Frage bringt den Tanz in eine Zwickmühle: Einerseits ist Abgrenzung notwendig nicht nur für die Selbstvergewisserung des Genres, sondern auch für die kulturpolitische Unterstützung durch Fördergelder. Anderseits steht der Tanz, will er mehr Aufmerksamkeit generieren, unter dem Druck, sich progressiv zu geben und dafür anderen Kunstformen zu öffnen.

Dass die neue Leiterin des Festivals Tanz im August, Virve Sutinen, sich mit dem diesjährigen Programm auch abseits der etablierten Pfade bewegt, ist deshalb – auch ohne große internationale Koproduktionen – richtig. Die Förderung durch den Hauptstadtkulturfonds mit 400.000 € ist zwar ein knappes, aber für das Festival existentielles Budget. Wohl auch deshalb fragte nach dem Eröffnungsabend etwa die Berliner Zeitung, wie die experimentelleren Formate dem regierenden Bürgermeister in Berlin bekommen würden.

Was auch immer Wowereit in der Dunkelheit des Saales dachte – das Publikum beklascht die Erfrischungen begeistert. So etwa auch die zwei Stücke des Italieners Alessandro Sciarroni, welche am Mittwochabend im Hebbel am Ufer zu sehen waren. In "UNTITLED_I will be there when you die" hat der Choreograph und Performer vier Jongleure (Lorenzo Crivellari, Edoardo Demontis, Victor Garmendia Torija, Pietro Selva Bonino) auf die Bühne geholt, welche rund 50 Minuten lang: jonglieren. Was dabei entsteht, ist jedoch weit von Zirkuskunst oder Spektakelkultur entfernt. Sciarroni hat ein poetisches Bewegung- und Hörspiel geschaffen.

Ruhig stehen die vier Perfomer barfuß in dem weißen Bühnenraum, wie auf einem Tennisplatz ist nur nur das gleichförmige Klatschen zu hören, wenn die Hohlkörper in ihre Hände fallen. Immer mehr Jonglierkegel nehmen die vier Männer auf, weben ihre Bewegungen ineinander, bis ein fast meditativer Rhythmus entsteht, der immer wieder wechselt zwischen laut und leise, schell und langsam, gleichklingend oder komplex. Der feine Sound klingt durch den Saal wie Regentropfen. Die Keulen sausen wie fliegende Fische weit über den Köpfen durch den Raum, tauchen auf und ab – mit dem Auge ist der Fokus kaum zu halten und so entwickeln die Objekte eine tänzerische Eigendynamik. Sciarroni erweitert dieses Bild mit Sound- und Lichteffekten. Ein DJ nimmt live die Geräusche der Jonglierkegel und den keuchenden Atem der Performer auf und legt sie in Soundschleifen übereinander.

Später kommt eine Beleuchtung hinzu, die einen magentafarbenen und ein grünen Schatten an die Wand hinter die Performer wirft. Als die Jongleure schließlich beginnen, sich ihre Kegel untereinander zuzuwerfen, entsteht aus Körpern, Material und Sound eine raumspannende Installation, die haarscharf durchchoreographiert ist. Es ist eine fast schon psychedelische Bewegungspoesie.

Ähnlich entrückt geht es im anschließenden Stück „Joseph“ weiter. Sciarroni sitzt mit dem Rücken zum Publikum vor seinem Computer und blickt in die Kamera, der Bildschirm wird groß an die Bühnenwand projiziert. Als er aufsteht, schiebt er seine Hand vor die Computerkamera. Riesig, wie Leonardo Da Vincis „Erschaffung Adams“ schiebt sich die filigrane Hand des Italieners in den Bühnenraum. Es entsteht so ein ein dreifacher, gleichsam sakraler Bildraum: Sciarroni als analoge Figur, Sciarroni auf seinem kleinen Computerbildschirm und die überlebensgroße Projektion im Bühnenraum.

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Foto: Rosaria Filipetti

Wie groß ist unsere Macht durch die digitale Abbildung?, scheint Sciarroni zu fragen. Seine Antwort fällt spielerisch aus. Er schaltet Photo Booth ein, eine Standardsoftware von Apple, mit der man über die Webcam Fotos von sich selbst aufnehmen kann und die eine Palette von Verfremdungseffekten und Filtern zur Verfügung stellt.

Sciarroni tanzt sich durch das Programm. Wie in einem Spiegelkabinett dreht, verdoppelt und verzerrt sich sein Körper. Ungläubig stehen sich zwei Sciarronis selbst gegenüber. Sein Mund wird zu einem monströsen Schlund mit unendlichen Zahnreihen, sein Arm flutscht wie ein Gummiband durch den Saal. Unvermittel setzt sich Sciarrosi vor seinen Computer und beginnt, Freundschaftsanfragen auf Facebook zu beantworten. Das Publikum lacht. Wie sehr digitale Selbstdarstellung mit der eigenen Bildproduktion verbunden ist, wissen die meisten wohl aus eigener Erfahrung.

Danach verbindet sich Sciarroni mit dem Chatprogramm Chatroulette, einer Art internationaler Speeddating-Plattform. „Can I dance for you?“, schreibt er dem Nutzer Elias Und: „I will put my costume, ok?“. Er schmeißt sich in ein Batmankostüm, stellt einen Song, in dem um ein „Bad Girl“ geht, an und führt vor dem verdutzten Nutzer einen kleinen Superhero-Tanz auf. Am Ende schaltet Sciarroni das Licht ein, das Publikum winkt in die Kamera, verunsichert winkt Elias in die plötzliche sichtbare Liveperformance zurück. Es ist ein altbewährter Trick mit großem Unterhaltungsfaktor. Bewegung wird hier zu einer kleinen Sozialstudie, welche die Frage nach Selbstdarstellung und Sichtbarkeit stellt. Dass Tanz die Kraft hat, diese Fragen zu verhandeln, lässt sich vielleicht wirklich besser mit Chatroulette zeigen als mit einem Ballettschuh.

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Geschrieben von

Juliane Löffler

Onlinerin beim Freitag. Quelle: Papier

Juliane Löffler

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