Wer heute auf den Debütroman von Karl Ove Knausgård schaut, den überkommt kurz Ruhe. Graue, schneebedeckte Berge sind darauf, eine stille, gleichförmige Seenlandschaft, wie das Cover einer CD mit Meditationsmusik. Der Inhalt aber ist nicht ruhig. Als der Roman 2015 in Schweden erschien, löste er eine mittelgroße literaturkritische Explosion aus. Ob man die auch hier befeuern will, jetzt, da der Roman auf Deutsch vorliegt, ist eine andere Frage. Aber der Reihe nach.
Karl Ove Knausgård schrieb 1998 sein Debüt Aus der Welt, er wurde damals in Norwegen als literarische Sensation gefeiert. Knausgård, erfolgreicher Schriftsteller, geliebt, verehrt und bekannt dafür, das eigene durchschnittliche Männerleben und seine gefühlte Unzulänglichkeit auf 4.000 Seiten und in sechs Bänden zu sezieren und dann Min Kamp zu nennen. Der einst im Interview mit einem Freitag-Redakteur sagte: „Ich schrieb über Windeln wie Joyce über Dublin.“ Ob das größenwahnsinnig ist, originell oder einfach nur von einem Selbstbewusstsein zeugt, das nur weißen, heterosexuellen Cis-Männern gegeben ist, mag die Leserschaft selbst beurteilen. Aber um den Geniekult um Knausgård kurz ins Verhältnis zu setzen: Wann hat eine Schriftstellerin sich in epischer Breite über die Windeln ihrer Kinder ausgelassen? Und wie würde das von der Literaturkritik beurteilt werden? Knausgård bekam für seinen Romanzyklus den wichtigsten Literaturpreis seines Heimatlandes, er wurde zum Bestseller, in 35 Sprachen übersetzt.
70.000 Straftaten
Die Kritik an seinem Debüt setzte Jahre später ein. Als es 2015 in Schweden erschien, warf ihm die Literaturwissenschaftlerin Ebba Witt-Brattström in einer der größten schwedischen Tageszeitungen „literarische Pädophilie“ vor. In dem Buch verliebt sich die Romanfigur, ein Aushilfslehrer, in eine 13-jährige Schülerin und missbraucht sie. In der Erzählung wird der sexuelle Missbrauch mehr wie eine teils einvernehmliche romantische Begegnung beschrieben, wenn auch mit selbstkritischen Reflexionen des Lehrers.
Auf dem Cover der Erstausgabe ist ein nacktes junges Mädchen abgebildet. „Man würde heute nicht eine Sekunde zögern, diese Aufmachung als problematisch einzustufen“, heißt es in einem Artikel der Zeit von vergangener Woche. Ihr Feuilletonchef ist nach London gereist, um Knausgård zu treffen und über den Roman zu sprechen. „Ich denke manchmal, es hätte eine Debatte entstehen müssen, das Buch war doch eine Provokation“, erinnert sich der Autor zurück. Er habe den Roman so geschrieben, weil es darin auch um das Begehren gehe, Kind zu bleiben, um Reinheit und die Unreife des Protagonisten. Und er verneint die Frage sehr deutlich, ob er jemals eine Beziehung mit einer 13-Jährigen gehabt habe, was als Frage auftaucht, da Knausgårds Buch autobiografisch geprägt ist.
Umgekehrt erklärt Knausgård im Gespräch, wie schwierig der Vorwurf der Pädophilie für ihn als Vater und Autor sei. Er habe Angst, dass er sich in seinem Schreiben irgendwann nicht mehr auf riskantes Terrain werde vorwagen können. Woher rührt der Wunsch, die Kunst wieder verstärkt unter moralischen Gesichtspunkten zu betrachten, fragt die Zeit.
Dass aber Knausgårds Roman heute kontrovers diskutiert wird, liegt nicht nur daran, dass sich der Blick auf die Haltung von Künstler:innen verändert hat. Oder Schilderungen darin als problematisch-romantisierend gelesen werden könnten. Es liegt daran, dass sich der Blick auf sexualisierte Gewalt, Missbrauch und Sexismus verändert hat. Natürlich muss sich Knausgård heute anderer Kritik stellen als 1998. Sieben Jahre ist es nun her, dass #aufschrei eine deutschlandweite Debatte auslöste, drei Jahre, dass #MeToo wie ein Dominoeffekt Gesellschaften auf der ganzen Welt erfasste. Feministinnen sagen oft, dass sie immer wieder die Frage hören, was #MeToo gebracht habe. Debatten über sexualisierte Gewalt und Übergriffe sind Prozesse, die sich über Jahre, Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte hinziehen und hier und da begreiflich werden an konkreten Gesetzesänderungen, aber eben auch in gesellschaftspolitischen Debatten: wie Literatur rezipiert wird, etwa.
Diese Grundsatzdebatten werden leidenschaftlich geführt, ausführlich, und meistens wird an der einen oder anderen Stelle irgendwann die Frage gestellt, was man denn jetzt noch dürfe. Was man denn jetzt noch schreiben dürfe, oder sagen, oder ob Flirten in Bars jetzt verboten sei. Natürlich ist es okay und notwendig, diese Debatten zu führen. Aber es sind keine unschuldigen Fragen. Es sind auch Argumentationsmuster der Konservativen, die damit suggerieren wollen, #MeToo-Debatten oder deren Auswirkungen schränkten die Freiheit ein, seien hysterisch oder übertrieben. Das geht am Kern des Problems vorbei.
In Deutschland wurden 2019 knapp 70.000 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung polizeilich erfasst. Die Dunkelziffer liegt weitaus höher. Bekanntermaßen sind größtenteils Frauen davon betroffen. Und bekanntermaßen entsteht sexualisierte Gewalt aus einem gesellschaftlichen Umfeld, das strukturell sexistisch ist. Aber in welchem Ausmaß über abstrakte Argumente und über klare strafrechtliche Vergehen debattiert wird, steht in einem unausgewogenen Verhältnis.
Wer kennt den aktuellen Stand der Missbrauchsvorwürfe gegen die Staatliche Ballettschule Berlin? Wie viel wurde über die Vorwürfe gegen Gebhard Henke und Siegfried Mauser berichtet und debattiert? Wie vielen Menschen sind diese Namen überhaupt ein Begriff? Wie viele Feuilletonartikel hingegen diskutierten seinerzeit die These von Catherine Deneuve, als sie mit 100 anderen Frauen in einem offenen Brief schrieb, #MeToo sei eine Hexenjagd?
Dafür gibt es verschiedene Gründe. Natürlich ist es einfacher, darüber zu sinnieren, wo Sexismus anfängt, als über strafrechtliche Vergehen, sei es am Küchentisch, sei es im Journalismus. Für Journalist:innen ist es einfacher, über Catherine Deneuve oder eben Karl Ove Knausgård zu schreiben statt über konkrete Fälle, weil in Deutschland die Hürden für die sogenannte Verdachtsberichterstattung hoch sind. Es muss ein ausreichendes öffentliches Interesse geben, es müssen ausreichend Belege und Belegtatsachen recherchiert werden, der Beschuldigte muss umfangreich die Gelegenheit bekommen, zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen, und in der Veröffentlichung muss klar werden, dass es sich um einen Verdacht handelt. Und trotzdem müssen Medien damit rechnen, für die Veröffentlichung der Vorwürfe angezeigt und verklagt zu werden. Wer zu Missbrauchsvorwürfen recherchieren will, braucht Ausdauer, Zeit und Geld. Und am besten Hausanwält:innen. Nur wenige Medien haben diese Kapazitäten.
Wenn ich mir die vielen Hinweise anschaue, die mich per E-Mail erreichen, die vielen Vorwürfe, auf die ich während laufender Recherchen stoße, dann wünsche ich mir eine Hundertschaft an Journalist:innen, die dazu recherchiert. Weil ich weiß, dass ich vieles nicht werde ausrecherchieren können, weil die Zeit nicht reicht oder es schlicht zu wenig Belege gibt, um Vorwürfe öffentlich zu machen. Das ist nicht falsch – auch Menschen vor Vorwürfen zu schützen, ist ein wichtiger Teil der Berichterstattung und der Debatten über #MeToo. Auch sich zu entscheiden, Vorwürfe nicht zu veröffentlichen, kann richtig sein. Aber ich wünschte, dass darüber ähnlich leidenschaftlich diskutiert würde wie über die Thesen oftmals weißer Männer in den Feuilletons darüber, was sie jetzt alles nicht mehr dürfen.
Das gilt auch für den Küchentisch: Ich saß vor einigen Monaten in einer Runde, in der über Vorwürfe gegen einen Mann aus der Berliner Kunstbranche diskutiert wurde, es ging um Sexismus, verbale und körperliche Übergriffe. Ob die Frauen nicht auch davon profitierten, sich in erotische Beziehungen zu dem Beschuldigten zu begeben, denn auch das gehöre zu den Regeln des Kunstbetriebs, fragte eine Frau. Ich erkläre daraufhin, dass das nicht meine Frage sei. Dass meine Frage ist, ob es zu strafrechtlich relevanten Übergriffen gekommen sei. Na ja, erwiderte sie, na ja, es sei doch klar, dass das nicht okay wäre.
Nein, leider ist das nicht klar. Leider ist es Alltag. Und wir täten gut daran, uns mehr Mühe zu geben, auf konkrete Missstände zu schauen statt auf Meta-Debatten.
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