Schneewittchen muss koksen

Waldbühne In "Forest: Nature of Crisis" lädt Constanza Macras in den Wald ein und zeigt eine popkulturell verzerrte Märchenwelt als Antwort auf diverse Krisen
Rastlos: Hänsel und Gretel vor der Holzhütte
Rastlos: Hänsel und Gretel vor der Holzhütte

Foto: Thomas Aurin

Würde Schneewittchen noch leben, sie wäre eine Kokserin aus Saragossa, die als Opfer der Immobilienkrise hochverschuldet ihr Heil im Wald bei sieben Ökoaktivisten sucht. So lautet die zeitgenössische Interpretation der Krise in Constanza Macras neuem Tanztheaterstück Forest: Crisis of Nature. Und die Frage, ob angesichts auseinanderbrechender wirtschaftlicher und sozialer Strukturen der Rückzug in die Natur ein Ausweg sein kann.

Sie hat dafür eine dreistündige deutsche Version des Stücks Branches: The Nature of Crisis entwickelt, welches im Rahmen der Kulturolympiade London 2012 mit des National Theatre Wales als Initiator entwickelt wurde. Nun geht es neben der gesellschaftlich–ökonomischen also auch um die ökologische Krise. Um so etwas wie Erlösungsfantasien durch die Natur nachzuspüren – und das ist der wohl größte Gewinn des Abends – findet die Performance im Wald statt, genauer im Berliner Müggelwald in Köpenick.

Gleich einem Klassenausflug reisen die Zuschauer aus der Stadt an, werden mit Taschenlampen und Campinghockern ausgestattet und durch die weitläufigen Stationen zu Lichtungen und Blockhütten geführt, an denen die einzelnen Szenen stationiert sind. Unterwegs, und das ist dann im einsetzenden Abendlicht durchaus malerisch, gibt es kleine Stills zu entdecken. Eine Prinzessin auf der Erbse auf ihren sieben Matratzen am Wegesrand, eine Tote im Laubdickicht hügelabwärts.

Popkulturelle Mühle

Die Szenen selbst sind ein Potpourri aus Tanz, Band- und Acapellamusik, Schauspiel, alles durch die popkulturelle Mühle gedreht. Adaptionen bekannter Klassiker der Märchen- und Erzählkultur – Rapunzel hat Extensions – werden kombiniert mit plüschigen Tierkostümen, knappen Glitzeroutfits und barocken Kleidern, mit Kunstnebel und kräftigem Poprock. Auf die Erzählung der Fehlgeschichte des Grünen Punkts folgt der Gesang eines Madrigals, einer Gesangsform aus Renaissance und Frühbarock, auf einem alten betonierten Gaststättengelände. Später wird ein abgeholzter Baumstumpf mit einer Axt von einem Zimmermann bearbeitet, während im Hintergrund Cher mit 80er-Jahre-Perücke singt. Die modernen Märchen von Wachstum und Konsum, gewissermaßen die Ursachen der Krise, werden mit mythischen Erzählungen und Gesängen vermengt. In welchem Zusammenhang sie genau zueinander stehen, wird nicht beantwortet.

Deshalb gerät der Spagat zwischen atmosphärischer Verzauberung und popkultureller Dekonstruktion bisweilen etwas plakativ. Was uns heute der Wald als Hort von Erzählungen, Sehnsüchten und Ängsten jenseits romantischer Klischees erzählen kann, bleibt in diesem kulturkritischen Rundumschlag offen. Das ist schade, denn die Szenen bleiben so oft unscharf, die Bezüge vage.

Eindringlich wird es erst gegen Ende, als der Wald bereits fast ganz schwarz ist und das Unheimliche alleine durch die Stille und Düsterkeit nachzuspüren ist. Eine Schaupspielerin erzählt mit rauer Erzählstimme vor einer Holzhütte eine großstädtische Version von Hänsel und Gretel, illustriert von zwei Performern. Sofort entsteht spannungsgeladene Lagerfeuerromantik. Das Geschwisterpaar irrt in der Erzählung durch leere Straßenschluchten, der Kapitalismus ist kollabiert. Die Figur des Hänsel (dem man sofort jede Geisteskrankheit abnehmen würde) sorgt – hier als böser Pizzamaster – für kleine Schauermomente, als er mit mehlverschmiertem Gesicht und verdrehten Augäpfeln herumtaumelt. Grimm gone wild.

Der Waldboden spritzt unter den Füßen eines herumwirbelnden Tänzers auf, es riecht nach feuchtem Laub und Erde. Hänsel und Gretel finden schließlich eine Arbeit. Die natürlichen und menschlichen Kräften bleiben hier schicksalhaft und willkürlich fremdbestimmt. Zusammen mit den sinnlichen Erfahrungen als Abglanz romantischer Naturerlebnisse entlässt das Stück einen damit wieder auf die asphaltierte Straße.

Forest: Crisis of Nature läuft noch bis zum 19.08.2013

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Geschrieben von

Juliane Löffler

Onlinerin beim Freitag. Quelle: Papier

Juliane Löffler

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