"Wir müssen die Journalisten umtrainieren"

Interview "Are you Syrious?" ist die zentrale Nachrichtenquellen für Volunteers in der Flüchtlingskrise. Inzwischen fragen selbst BBC und Al Jazeera bei ihnen nach Informationen
"Wir müssen die Journalisten umtrainieren"

Bild: Are You Syrious?

der Freitag: Milena Zajović, fast alle ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer, die sich für Flüchtende engagieren, lesen die täglichen Nachrichten von Are You Syrious?. Warum war es wichtig, das Netzwerk zu gründen?

Milena Zajović: Wir haben als informelle lokale Initiative in Zagreb angefangen, als die Flüchtlingskrise letzten Sommer Kroatien erreichte. Ich sah die dramatischen Nachrichten von der mazedonisch-griechischen Grenze auf Al Jazeera. Während ein Reporter aus Gevgelija berichtete, fiel eine Frau vor der Kamera in Ohnmacht. Und ich dachte, das hätte – unter anderen Umständen – auch meine Mutter sein können. Dann hörte ich, dass viele Flüchtende in Belgrad ankamen, zwei Stunden von meiner Heimatstadt Zagreb entfernt. Also verfasste ich einen einfachen Facebookbeitrag, in dem ich nach Spenden fragte, um mit einer Freundin dort hinzufahren und Medizin und Essen zu verteilen.

Milena Zajović

Milena Zajović, 33 Jahre alt, ist Mitgründerin des Kollektivs Are You Syrious? und Koordinatorin der Informationsarbeit. Sie arbeitet als Redakteurin bei der kroatischen Tageszeitung Večernji ist

Was ist passiert?

Das Ergebnis war überwältigend. Mein Post ging viral und innerhalb von fünf Tagen hatten wir 10.000 Euro zusammen. Ich musste die Menschen bitten, aufzuhören zu spenden, da ich das alleine nicht mehr managen konnte. Eine Woche später kam eine andere Gruppe, die das gleiche wie wir machten. Ich gab ihnen Spenden von uns ab und wir kamen ins Gespräch. Zwei Wochen später schloss Ungarn seine Grenzen und die Flüchtenden änderten ihre Route nach Kroatien und zusammen fuhren wir wieder los, um zu helfen.

Das Ganze begann also eher zufällig?

Zu dieser Zeit waren an der kroatischen Grenze weder UNHCR noch das Rote Kreuz aktiv. Wir waren ein paar Leute, die helfen wollten, die merkten, dass niemand anders da war. Einer der Freiwilligen organisierte eine Benefizkonzert und nannte es: "Are You Syrious?" Bald fragten uns alle: Seid ihr die Are You Syrious?-Gruppe? Und wir sagten: Ja, das sind anscheinend wir.

Ein großer Teil der Arbeit von Are you Syrious? besteht nicht nur in der Hilfe vor Ort, sondern darin, über die aktuelle Lage zu informieren. Warum haben Sie sich für diesen Schwerpunkt entschieden?

Nachdem ich letzten Sommer anfing, als ehrenamtliche Helferin in den Krisengebieten zu arbeiten, wurde mir klar, dass ich für diese Arbeit nicht gemacht bin. Ich habe einen niedrigen Blutzuckerspiegel und meine Freunde hatten mehr Arbeit mit mir als mit den Flüchtenden. Ich wollte keine Last sein und blieb frustriert zu Hause. Aber mir war aufgefallen, dass es viele unabhängige Gruppen an den Grenzen gab, die nicht wussten, was Helfende in den Nachbarländern machten.

Zum Beispiel?

Die Leute in Dobrova in Slowenien etwa wussten nicht, wie viele Flüchtende kamen und gingen. Also begann ich, Informationen über die Balkanregion zu posten, in der ich gut vernetzt war. Zum Beispiel: "Leute in Kroatien: Bereitet euch auf über 300 Menschen aus Serbien vor. Sie werden gegen 22 Uhr ankommen, und es sind viele Kinder unter ihnen." Diese sehr einfachen Informationen updatete ich zwei mal am Tag. Zu dieser Zeit machten wir auch Liveticker über die Uhrzeiten, zu denen Züge mit Flüchtenden ankamen und abfuhren. Bald halfen mir immer mehr Menschen. Und später wurde daraus unser "Daily News Digest", unser Nachrichtenupdate, was jetzt jeden Abend veröffentlicht wird.

Are you Syrious?

Are you Syrious? arbeitet ehrenamtlich und bestand zur Zeit der offenen Balkanroute aus rund 200 Mitgliedern. Derzeit sind rund 40 Helferinnen und Helfern aus Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Serbien, der Türkei, USA, Syrien und anderen Ländern regelmäßig aktiv. Die Zentrale von Are you Syrious? befindet sich in einer Privatwohnung. Die Gruppe hat drei Bereiche, in denen sie aktiv ist: Sie sammeln Spenden in eigenen Spendenhäusern in Kroatien und verschiffen sie in Containern nach Griechenland. Zweitens haben sie Helferinnen und Helfer, die in Syrien, der Türkei und Griechenland aktiv sind. Drittens sammeln und verbreiten sie Informationen zur aktuellen Lage der Krisenorte.

Welchen Einfluss hat diese Arbeit?

Er ist größer, als ich dachte. Viele Veränderungen in Kroatien wurden nur durch unsere Nachrichten möglich, und weil Journalisten begannen, sie zu veröffentlichen. Zum Beispiel:

The Croatian Minister of the Interior openly claimed there were no refugees in Zagreb when there actually were many people that had been pushed back from Slovenia sleeping in the streets of the city. We forwarded that information and Croatian National TV published it. Soon, police had to officially address the problem of refugees in Zagreb. Or Slavonski Brod Camp, where they detained pushed-back refugees in a special off-limits area, with no NGO support and no information on their destiny.

Der kroatische Innenminister erklärte öffentlich, dass sich keine Flüchtenden in Zagreb befänden, obwohl viele Menschen in den Straßen schliefen, die aus Slowenien abgeschoben wurden. Wir gaben diese Information weiter und das kroatische Staatsfernsehen berichtete darüber. Kurz darauf begannen die Behörden, darauf zu reagieren. Oder im Slavonski Brod Camp, wo abgeschobene Flüchtenden eingesperrt wurden – ohne dass NGO´s Zugang hatten, um sie zu versorgen. Die kroatische Polizei verneinte, dass so etwas passierte, aber wir wussten es besser. Nach einigen Tagen veröffentlichten große Presseorgane unseren Are You Syrious?-Bericht und innerhalb einiger Tage wurde das Camp geöffnet.

Und außerhalb von Kroatien?

Einige Mitglieder des Europäischen Parlaments lesen unsere Nachrichten. Als ich einmal UNHCR anrief, um mir eine Information bestätigen zu lassen, sagten sie mir: "Wir können darüber keine Auskunft geben, wir bekommen unsere Infos selber von euch." Das war ein bisschen verrückt. Ich weiß, dass die amerikanische und kanadische Botschaft in Kroatien uns lesen. Sie kontaktieren uns, wenn sie bestimmte Informationen brauchen.

Sie berichten etwa, sobald in Griechenland ein neuer Hot-Spot aufgemacht hat, wie viele Menschen dort sind und wie die Lage vor Ort ist. Woher bekommen Sie all diese Informationen?

Von den Flüchtenden und den Freiwilligen vor Ort. Manche von ihnen sind aus unserem Netzwerk, andere arbeiten unabhängig und haben sich als verlässliche Quellen bewährt. Wir haben ein ganzes Telefonbuch voller Nummern. Wenn wir Informationen bekommen, versuchen wir, sie von mindestens einer anderen Quelle verifizieren zu lassen. Wir haben ein Team aus rund zehn Nachrichten-Informanten, derzeit in Syrien, Griechenland und der Türkei, mit denen wir täglich in Kontakt stehen. Sie haben ihre eigenen Netzwerke und berichten uns etwa, wie viele Menschen auf Lesbos sind, oder am Hafen in Athen. Wir bekommen aber auch wahllos Nachrichten von Flüchtenden und Helferinnen und Helfern. Deren Informationen gleichen wir dann mit unseren verlässlichen Kontakten ab.

Und Sie sind in den sozialen Medien aktiv ...

Wir folgen geschlossenen Facebookgruppen, Twitteraccounts und geschlossenen Whats-App-Gruppen. Chatgruppen sind ein guter Weg, um sich einen Überblick über die Lage vor Ort zu verschaffen – etwa die Chatgruppe, die auf Lesbos die Strände beobachtet. Innerhalb dieser Gruppen verlassen wir uns dann wieder auf ein oder zwei Menschen, deren Informationen wir für vertrauenswürdig halten.

Sie arbeiten also nach journalistischen Prinzipien ...

Ich bin selbst Journalistin, das hilft. Auf der anderen Seite müssen wir Journalistinnen und Journalisten umtrainieren, wenn sie bei Are you Syrious? mitarbeiten. Als Journalistin bist du es gewohnt, dich auf die großen Nachrichtenagenturen zu verlassen. Bei uns ist es das Gegenteil. Du darfst den Informationen der großen Agenturen oder Regierungen nicht vertrauen – sondern deinen Leuten vor Ort, die direkten Zugang zu den Informationen haben. Wir haben von Anfang an mit diesem Bottom-Up System gearbeitet. Jetzt übernehmen Presseorgane wie Le Monde, BBC oder Al Jazeera Nachrichten von uns. Das ist für uns kein Problem. Aber umgekehrt machen wir das nicht, es sei denn, ihre Informationen werden von unseren Volunteers oder Flüchtenden vor Ort bestätigt.

Medien wie BBC fragen explizit nach Informationen?

Ja, insbesondere Al Jazeera kontaktiert uns häufig. Manche Nachrichtenagenturen schreiben uns regelmäßig, andere nur, wenn sie sehen, dass wir exklusives Material haben. Meistens melden sie sich bei uns über Facebook oder per Email, und wir schicken Ihnen dann genau, was sie brauchen. Manchmal recherchieren wir auch für Anfragen von ihnen.

Ist Ihre Arbeit bei Are You Syrious? mit der Arbeit als Journalistin bei einer Tageszeitung vereinbar?

Ich versuche, das so weit auseinanderzuhalten, wie es geht. Ich schreibe in meiner Zeitung nichts zum Thema Flüchtende, das würde als Interessenskonflikt gesehen. Ich gebe nur Informationen an meinen Kolleginnen und Kollegen weiter, wenn sie mich danach fragen. Und ich versuche, keine TV-Interviews zu geben. Dafür haben einen Pressesprecher bei Are You Syrious? gewählt. Ich stelle nur Informationen zur Verfügung.

Wer produziert das tägliche Informationsupdate, den Daily News Digest?

Wir haben dafür ein Team aus sieben Redakteurinnen und Redakteuren. Wir haben außerdem Teams für die Sozialen Medien, für Twitter und Facebook. Es ist viel Arbeit, das alles zu koordinieren.

Haben Sie, etwa nach dem EU-Türkei Abkommen, nicht das Bedürfnis, politische Statements abzugeben?

Wir haben von Anfang an grundlegende Prinzipien klar gestellt. Etwa, dass man mit den Flüchtenden nicht Ping-Pong spielen kann, indem man die Grenzen schließt. Sie werden trotzdem Wege finden – illegale Wege. Mit der Grenzschließung macht man Kriegsopfer zu Kriminellen. Es gibt so viele Freiwilligengruppen, die diese Fürsprache übernehmen. Ich habe das Gefühl, dass wir am besten helfen können, wenn wir uns auf die Fakten konzentrieren. So sind wir am vertrauenswürdigsten.

Arbeiten alle Mitglieder bei Are You Syrious? ehrenamtlich und unbezahlt?

Die meisten von uns arbeiten normalerweise in völlig anderen Jobs, und niemand bekommt für die Arbeit bei AYS Geld. Ich erstelle gerade einen Zeitplan, bei dem niemand der Redakteure mehr als ein oder zwei Tage die Woche arbeiten muss, so dass ihnen ein wenig Privatleben bleibt. Wir sind ohnehin jeden Tag in Kontakt, aber wenn man täglich unseren News Digest schreibt, ist man schnell ausgebrannt und es passieren Fehler. Manche unserer Informanten vor Ort hatten seit letztem Sommer keinen einzigen freien Tag. Auch für diese Helfenden versuche ich gerade, Schichtdienste einzuführen.

Wie viel Zeit verbringen die Mitglieder in der Regel mit der ehrenamtlichen Arbeit?

Das hängt davon ab, in welchem Bereich sie tätig sind. Unsere Leute von den Spendenhäusern verbringen in der Regel ihr gesamtes Wochenende dort, Tag und Nacht. Wir aus dem Nachrichtenteam arbeiten rund drei Stunden am Tag – aber man muss die ganze Zeit online sein und die Nachrichten und Chatgruppen im Blick haben. Es ist also für alle von uns ein zweiter Vollzeitjob geworden, und das kann sehr anstrengend sein.

Und wie viel Geld sammelt Are You Syrious?

Ich kann keinen Durschnitt nennen. Aber wenn wir auf Facebook nach Spenden fragen, bekommen wir in der Regel die Summe, die wir wir brauchen. Wir versuchen aber auch, nicht zu oft danach zu fragen – und nur für spezifische Projekte. Wir hatten letzte Woche ein Fundraising, da haben wir etwa innerhalb von fünf Tagen 5000 Dollar bekommen.

Warum bezahlen Sie sich von dem Geld kein Gehalt und arbeiten weniger in Ihren regulären Jobs?

Es ist einer unserer Grundsätze, dass all das Geld, das wir sammeln, ausschließlich für die Flüchtenden ist. Wir bevorzugen es sowieso, materielle Spenden statt Geldspenden zu sammeln – aber manchmal brauchen wir Geld, um etwa Verschiffungskosten von Spenden nach Griechenland zu zahlen. Abgesehen davon möchte niemand von uns, dass die Hilfsarbeit zu unserem normalen Job wird.

Warum das?

Große NGOs wie das Rote Kreuz sind zu einem Selbstzweck geworden. Wir wollen das nicht. Wir helfen so viel wir können, aber wir hoffen auch, dass wir irgendwann nicht mehr gebraucht werden. Ein paar Monate oder Jahre halten wir das schon durch, danach verbessert sich die Lage hoffentlich.

Gilt das auch für die Nachrichtenarbeit?

Das hat sich schon seit letztem Sommer verändert. Wir veröffentlichen nicht mehr so oft Breaking News, weil die freiwilligen Helferinnen und Helfer inzwischen sehr gut vernetzt sind. Nachdem viele Grenzen geschlossen wurden, haben wir unseren Fokus aus der Balkanregion nach Griechenland, in die Türkei und nach Syrien verlegt. Wir haben ein Flüchtlingscamp in der Region Latakia im Nordwesten Syriens finanziert und wir bauen eine mobiles Küchenteam auf, um nach Syrien zu gehen. Und wir sind inzwischen eine registrierte NGO geworden.

Das klingt, als wäre die Arbeit von Are You Syrious? doch auf längere Zeit angelegt?

Die Gesetze in Kroatien sind sehr restriktiv und kompliziert. Als Privatperson ist es nicht erlaubt, öffentliche Geldspenden anzunehmen. Aber wenn du dich als NGO registrieren lässt, musst du zwei Jahre warten, um eine humanitäre NGO zu werden. Erst dann darfst du mit der Erlaubnis der Regierung öffentliche Geldspenden einnehmen. Die Erlaubnis dafür dauert wieder einen Monat. Innerhalb eines Monats kann sich die Situation der Flüchtenden überall verändern, wie jetzt gerade.

Also Sind Sie noch immer auf Privatspenden angewiesen?

Ja, aber als NGO können wir Gelder für Langezeitprojekte beantragen ­– etwa für ein weiteres Flüchtlingscamp, das wir in Syrien aufbauen wollen. Was die Informationen betrifft: Ich habe das Gefühl, im Moment gibt es noch Bedarf für unsere Arbeit. Aber auch damit werden wir aufhören, sobald sich das ändert.

Info

Die Recherche und das Interview wurde ermöglicht durch das Stipendium „Reporters in the Field“ der Robert-Bosch-Stiftung

Zusammen mit der Illustratorin Isabel Peterhans recherchiert die Autorin derzeit für einer Reportage über freiwillige Hilfsnetzwerke in Europa

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Geschrieben von

Juliane Löffler

Onlinerin beim Freitag. Quelle: Papier

Juliane Löffler

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