Wir brauchen Vorbilder

Emanzipation Palästinensische Frauen hatten besonders unter dem verschärften Nahostkonflikt zu leiden. Frei und gleichberechtigt werden sie nur leben können, wenn es Frieden gibt

Rachel Corrie ist eine Ikone des friedlichen palästinensischen Widerstandes geworden – und sie ist ein Symbol der Hoffnung auf Wandel. Die junge Amerikanerin unterbrach 2003 ihr Studium an der amerikanischen Westküste, um im Westjordanland an Solidaritätsaktionen für Palästinenser teilzunehmen. Als sie sich einem Bulldozer des israelischen Militärs entgegenstellte, um gegen den Abriss palästinensischer Häuser zu protestieren, wurde sie getötet. Der Bulldozer rollte über sie. Corries Botschaft aber lebt weiter: „Ungeachtet der Konsequenzen und abseits von Nationalität, Geschlecht und Alter müssen wir uns gegen Ungerechtigkeit erheben und für das kämpfen, was richtig ist.“ Corrie hat damit viele Palästinenser inspiriert, vor allem auch junge Frauen.

Palästinensische Frauen sind von den negativen Entwicklungen der vergangenen zehn Jahre besonders betroffen. Obwohl keine Frau an den Anschlägen des 11. Septembers 2001 beteiligt war, leiden sie unter dem Anstieg des Extremismus auf beiden Seiten des Nahostkonflikts sowie dem Fehlen von Gesetzen, die ihre Grundrechte schützen.

Seit der Hassbotschaft des 11. September wurden Barrieren zwischen der westlichen und der islamischen Welt errichtet. Muslime wurden als „die Anderen“ identifiziert. Und als sich im Zuge dessen die internationale Aufmerksamkeit verschob, scheiterte der Friedensprozess zwischen Israelis und Palästinensern. Die Folge: Die Palästinenser wurden praktisch von der Außenwelt abgeschnitten.

Gesunkenes Heiratsalter

Diese Abtrennung ließ eine geschlossene Gesellschaft entstehen, die ihren ganz eigenen Gesetzen und Regeln folgt. Und die Einschränkung der körperlichen Bewegungsfreiheit begrenzt auch die geistigen Horizonte, allein schon deshalb, weil einer neuen Generation so Reisen und Entdeckungen außerhalb verwehrt bleiben.

Die Herausforderung, vor der wir heute stehen, ist daher nicht bloß ein territorialer Kampf. Die palästinensische Situation ist komplex: Es gibt den Langzeitkonflikt mit Israel, die weltanschauliche Spaltung innerhalb der palästinensischen Gesellschaft und noch soziale Spannungen. Daher wehren wir Frauen uns nicht nur gegen eine illegale Besatzung und gegen die Errichtung einer Mauer. Wir kämpfen auch darum, gesellschaftliche Freiheiten und Werte zu bewahren oder neu zu schaffen.

Die politische Spaltung der palästinensischen Gesellschaft wird oft als Erklärung oder sogar Verteidigung herangezogen, wenn jemand die unterentwickelten Gesetze und Regeln zum Schutz von Frauen anprangert. Weil man sich nicht einigen kann, geht es nicht voran. Die Abriegelung hat die Entwicklungsmöglichkeiten der Frauen beschnitten, was sich nicht zuletzt im gesunkenen Heiratsalter niederschlägt. Generell herrscht heute die Vorstellung vor, der „Erfolg“ einer Frau bestehe darin, zu heiraten und Kinder zu bekommen. Vergessen wird, wie wichtig es ist, Frauen den Zugang zu Bildung zu gewähren, bevor sie die Verantwortung übernehmen, Mütter zu werden.

In den vergangenen Jahren hat die Zahl der palästinensischen Frauen, die sich für die Verschleierung entschieden haben, dramatisch zugenommen. Und bei allem Respekt für das persönliche religiöse Bekenntnis, bei allem Verständnis für die unterschiedlichen Rollen, die Männer und Frauen in einer religiös geprägten Gesellschaft spielen – es bleibt eine Herausforderung, Respekt auch unabhängig vom Glauben und der Beachtung religiöser Gebote zu erhalten.

Eine andere Statistik zeigt: Die Zahl der Studentinnen an palästinensischen Universitäten ist zwar gestiegen, aber der Anteil von Akademikerinnen an der arbeitenden Bevölkerung entspricht nicht dieser Zunahme. In der neueren Geschichte gab es immer große Frauen, die als Vorbilder und Anführerinnen dienten, etwa Hanan Ashrawi und die verstorbene Samiha Khalil. In der jungen Generation fehlt es an solch prominenten Vorbildern – auch deshalb hat die Amerikanerin Rachel Corrie so eine ikonenhafte Rolle.

Bei nationalen und lokalen Wahlen kann die bestehende Frauenquote nur schwer erreicht werden. Und sie allein löst das Problem nicht. Den Frauen werden hier ihre Rollen formal nach einer Quote zugewiesen – das macht sie passiv. Und so gibt es wiederum kaum Frauen, die sich ohne Quote durchsetzen könnten.

Wie Fische im Wasser

Unabhängig davon, wie aktiv Frauen in der palästinensischen Gesellschaft oder Politik sein mögen, bietet eine unterentwickelte Verfassung ihnen jedoch wenig Schutz gegen Missbrauch. Und sie gibt ihnen keine gleichen sozialen Rechte.

Auch wenn es keine prominten Vorkämpferinnen gibt, findet man auf der lokalen Ebene viele Frauen, die sich für Frauenrechte einsetzen. Es gibt verschiedene Frauenorganisationen, Bemühungen und Initiativen – von fähigen Frauen getragen, die unter großen Anstrengungen meist jedoch nur bescheidene Erfolge erkämpfen. Solche Bemühungen benötigen Pflege und Sorgfalt. Wie ein Fisch das Wasser brauchen diese Initiativen das richtige Umfeld zum Überleben. Ein solches Umfeld wäre eine Gesellschaft, die auch das „Andere“ akzeptiert.

Während diese Frauen für ihre Freiheit, für Gleichheit und Akzeptanz kämpfen, bleibt die einzige Hoffnung auf Erfolg, die Botschaft des Friedens zu fördern. Denn der wichtigste Schritt zu einer freien und gleichberechtigen palästinensischen Gesellschaft bleibt die Befreiung der Köpfe: Damit die Botschaft des Hasses nicht siegt.


Jumana A. Zayyad
ist Palästinenserin und arbeitet als Beraterin für politische Kommunikation. Sie war zehn Jahre als Politik- und Medienreferentin des britischen Konsulats in Jerusalem und als Beraterin der Palästinensischen Autonomiebehörde tätig. Sie studierte unter anderem am Londoner Kings College und lebt in Ost-Jerusalem





Dieser Text ist Teil der Freitag-Sonderausgabe 9/11, die der Perspektive der arabisch-muslimischen Welt auf die Terroranschläge und ihre Folgen gewidmet ist. Durch einen Klick auf den Button gelangen Sie zum Editorial, das einen ausführlichen Einblick in das Projekt vermittelt. In den kommenden Tagen werden dort die weiteren Texte der Sonderausgabe verlinkt

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