Das freie Unternehmertum ist bedroht, die Medien sind gleichgeschaltet, Tschekisten greifen nach der Macht, Stalin ante portas. Die westliche Presse, die Solches und Ähnliches nach der Verhaftung des Multimilliardärs Chodorkowskij behauptete, ist selbstverständlich nicht gleichgeschaltet. Und selbstverständlich sind die Brüsseler Planbürokraten, die unser Leben vom Schnulligeschmack bis zur Kondomlänge normiert haben, nicht mit ihren sowjetischen Vorgängern zu vergleichen. Also durften sie Präsident Putin auf dem europäisch-russischen Gipfel Anfang November auch umstandslos die Leviten lesen. Die Politkommissare der EU, angeführt von ihrem Präsidenten Prodi, erklärten die Chodorkowskij-Affäre zur inneren Angelegenheit Russlands, dementierten sich aber meist schon im nächsten Satz und warnten den Gast, bei der Regelung von inneren Angelegenheiten die Direktiven des EU-Politbüros nicht zu vergessen.
Dass Putin von Berlusconi operettenreif umarmt wurde, hat nur für Italien Bedeutung - die mediterrane Ausgabe von Chodorkowskij träumt von einem Präsidialsystem wie in Russland. In der EU hat Berlusconi als Ratspräsident mit bloß halbjährlicher Amtszeit nichts zu melden. Die Beschlüsse werden durch die Brüsseler Bürokratie vorgegeben, und die sorgte dafür, dass Putin das Treffen ohne konkrete Zusagen etwa für weitere Wirtschaftsprojekte verlassen musste. Ein Beispiel für die tendenziöse Ostpolitik der EU ist auch die Demarche, die am Tag des Gipfels an die Ukraine geschickt wurde. Darin wird die Regierung in Kiew scharf kritisiert, weil die Wahlkampfveranstaltung einer Oppositionspartei in der Stadt Donezk behindert worden ist. Die Empörung der EU-Kommissare wäre glaubhafter, hätte sie nicht zu den gleichzeitigen Vorgängen im Nachbarland Georgien geschwiegen. Dort ist das Ergebnis der Parlamentswahlen vom 2. November massiv zugunsten der Partei des Präsidenten gefälscht worden. Die aufgebrachte Bevölkerung erzwang schließlich den Abbruch der Stimmauszählung, die Demonstrationen dauerten bei Redaktionsschluss an.
Warum die Opposition in Kiew auf Unterstützung durch die EU rechnen darf, die in Tiflis aber nicht, ist schnell erklärt: Präsident Kutschma befürwortet seit einiger Zeit einen Ausgleich mit Moskau, während Amtskollege Schewardnadse die Aufnahme Georgiens in die NATO beantragt hat. Der Genscher-Freund hat den Versuch, das postsowjetische Archipel über die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) wenigstens ein bisschen zusammenzuhalten, von Anfang an torpediert - zur Freude der NATO gründete Georgien 1997 mit der Ukraine, Aserbaidschan und Moldawien das Konkurrenzbündnis GUAM (1999 kam Usbekistan hinzu).
Dass diese Allianz nicht recht vom Fleck kam, Usbekistan wieder austrat und auch das Engagement der Ukraine nachließ, hatte wirtschaftliche Gründe. Nach westlichen Überlegungen sollte der Fünferclub den Transit von Öl und Gas aus Aserbaidschan und anderen Anrainern des Kaspischen Meeres garantieren. Die federführenden US-Konzerne hofften, dadurch eine Pipelineführung über russisches Gebiet vermeiden zu können. Moskau wäre damit im Great Game zwischen Bosporus und Kaukasus isoliert gewesen. Doch der schlaue Plan scheiterte: Russland hat seine Ölleitung vom Kaspischen zum Schwarzen Meer zuerst fertiggestellt, sich vor kurzem die exklusiven Gasrechte in Turkmenistan gesichert und die hochverschuldete Ukraine über günstige Energielieferungen als Kooperationspartner zurückgewonnen. Damit war der Vormarsch der Sieben Schwestern an der kaukasischen Südflanke ins Stocken geraten.
Doch an der sibirischen Nordflanke sah es bis vor kurzem besser aus - und damit zurück zu Chodorkowskij. Der angebliche Selfmade-Man hatte sich 1995 unter zweifelhaften Umständen die Aktienmehrheit beim Energiegiganten Yukos gesichert. Nach der Fusion mit dem Mitbewerber Sibneft im Frühjahr 2003 bemühte er sich um eine Verschmelzung mit Shell oder Exxon. "Der neu geschaffene transnationale Energiekonzern unter Chodorkowskijs Führung wäre in der Lage gewesen, 50 Prozent der russischen Inlandsversorgung mit Öl zu kontrollieren; das gesamte sibirische Öl und womöglich die sibirische Wirtschaft wären der Oberaufsicht der russischen Regierung entglitten", heißt es in einer Expertise der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.
Dies erklärt, warum Washington heftig und Berlin moderat auf Putins Schlag gegen den Oligarchen reagierte. Für die US-Ölgesellschaften war Yukos ihr bis dato wichtigster Brückenkopf in Russland, während die deutschen Energieversorger wie Ruhrgas traditionell auf den Staatskonzern Gasprom setzen. Schon jetzt deckt Deutschland 31 Prozent seines Erdgas- und 29 Prozent seines Erdölbedarfs aus Russland. Der Bau einer Pipeline durch die Ostsee, den Schröder und Putin jüngst in Jekaterinburg verabredet haben, würde diesen Anteil weiter steigen lassen. Die Trasse könnte bereits gegen Ende des Jahrzehnts sibirisches Gas liefern - wenn die Lagerstätten in der Nordsee erschöpft sind.
Doch ein Veto aus Brüssel hat die Vertragsunterzeichnung in Jekaterinburg blockiert, auch beim jetzigen Gipfel in Rom gab es keinen Fortschritt. Das Agieren der EU-Administration ist dubios. Hofft Außenkommissar Patten, ein Brite, dass sein Land nach der Erschöpfung der Nordseevorkommen weiteres Öl findet? Will Finanzkommissar Solbes im Geiste der Partnerschaft zwischen Madrid und Washington das sibirische Gas stoppen? Scheitert die Ostseepipeline, müsste Europa seinen Mehrbedarf über US-Multis decken. Dies würde die EU an die strategischen Interessen der USA im Nahen und Mittleren Osten binden und ihre Soldaten noch tiefer in den blutigen Sumpf zwischen Suez und Hindukusch hineinziehen.
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