Ein Fünftel der Deutschen glaubt, dass die Regierung in Washington nicht die Wahrheit sagt über die Hintergründe des 11. September. Bücher, die auf den CIA als Drahtzieher der Anschläge hinweisen, erzielen Rekordauflagen. Der Ruf von Bush und Rumsfeld mag schon tüchtig ruiniert sein, zumindest im Alten Europa, aber im Vergleich zum britischen Premier stehen sie noch passabel da. Unvergessen der Augenblick, als Tony Blair kurz nach dem Selbstmord des Biowaffenexperten David Kelly, eines Kronzeugen gegen die Manipulationen der Regierung, auf einer Pressekonferenz gefragt wurde, ob er "Blut an den Händen" habe, und der sonst so alerte Politiker geschlagene zehn Sekunden schwieg, das jugendliche Gesicht aschfahl.
Die Widersprüche, in die sich die Irakbefreier verwickelt haben, werden in der deutschen Presse immer wieder referiert - kein Kunststück, denn man muss lediglich abschreiben, was zuvor in der Los Angeles Times zu lesen oder auf BBC zu sehen war. Die Häme, die bisweilen aufblitzt, erscheint zumindest in Bezug auf Großbritannien nicht angemessen: So schändlich die Regierung Ihrer Majestät Parlament und Bevölkerung in den Krieg hineingelogen hat, so mustergültig funktionieren nun die demokratischen Strukturen bei der Aufdeckung des Plots. Das Verteidigungsministerium hat der Öffentlichkeit 9.000 Seiten Dokumente der Kelly-Affäre zugänglich gemacht. Selbst vertrauliche Memoranden und private Emails, die normalerweise einer 25-jährigen Sperrfrist unterliegen, können jetzt im Internet nachgelesen werden. Ein unabhängiger Untersuchungsausschuss tagt, der sowohl Blair als auch seinen Verteidigungsminister vorgeladen hat. Premierberater Alistair Campbell, als "Spin-Doctor" vermutlich der Erfinder der Beweise gegen Saddam Hussein, musste bereits seinen Hut nehmen.
Ob das allein schon Demokratie ist oder nur ein Ventil für den aufgestauten Volkszorn, sei dahingestellt. Aber es macht zumindest Appetit auf Demokratie und ist damit Lichtjahre entfernt von den deutschen Zuständen. Während nämlich auf der Insel und - eingeschränkt - auch in Nordamerika über Fehler und Verbrechen der jeweils eigenen Regierung gestritten wird, kaprizieren sich investigativer Journalismus und öffentlicher Protest hierzulande auf die Sünden des Auslandes, vor allem des Großen Bruders und seiner Alliierten.
Das mag im Falle des Irak-Krieges sinnvoll sein, bei dem die Bundesregierung zwar nicht abseits oder gar dagegen stand, wie es sich ihre Anhänger erträumen, aber wenigstens nicht in der ersten Reihe.
1999, beim NATO-Angriff auf Jugoslawien, lagen die Dinge anders - damals waren die größten und lächerlichsten Propagandalügen made in Germany. So war das Schröder-Kabinett an der wichtigsten Desinformationskampagne, mit der im Frühjahr 1999 eine Kriegspsychose erzeugt wurde, federführend beteiligt: bei der Falschdarstellung des sogenannten Racak-Massakers. "Natürlich war die Episode in Racak entscheidend für die Bombardierung", sollte der US-Diplomat William Walker, damals Leiter der OSZE-Delegation im Kosovo, später sagen, auch Außenminister Fischer sprach von einem "Wendepunkt". In dem Dörfchen Racak sollen demnach die Serben am 15. Januar 1999 über 45 albanische Zivilisten abgeschlachtet haben. Kritische Zeitgenossen erregen sich zurecht darüber, wie die US-Regierung bereits 48 Stunden nach den Anschlägen auf World Trade Center und Pentagon die Täter zur Fahndung ausschreiben konnte. Doch Verteidigungsminister Scharping brauchte keineswegs länger, um nach dem Leichenfund in Racak zu propagieren, dass die Serben schuld seien und "ein militärisches Engagement im Kosovo unausweichlich werden kann". Die Belgrader Version, es handele sich um Gefechtstote der Terrororganisation UÇK, wurde ignoriert.
Mit dieser Büchsenspannerei gegen die Serben waren die Deutschen zwar keineswegs allein im NATO-Bündnis, aber die besondere Verantwortung der Bundesregierung ergibt sich daraus, dass Fischer damals den Vorsitz im EU-Rat führte und in dieser Funktion die gerichtsmedizinische Untersuchung der Racak-Leichen mandatierte - und manipulierte. Die Bekanntgabe der Autopsieergebnisse am 17. März 1999 gab der NATO grünes Licht zum Angriff: Die Leiterin der forensischen Kommission, die finnische Ärztin Helen Ranta, sprach von einem "Crime against Humanity", alle Toten seien zweifelsfrei Zivilisten. Mehr als zwei Jahre später räumte sie gegenüber dem ARD-Magazin Monitor ein: "Ich bin mir bewusst, dass man sagen könnte, die ganze Szene ... sei arrangiert gewesen." Warum hatte sie dann in der kriegsentscheidenden Pressekonferenz im März 1999 das Gegenteil gesagt? "Grundsätzlich habe ich in der Racak-Zeit meine Instruktionen vom deutschen Außenministerium bekommen. Botschafter Christian Pauls hat mich kurz vor der Pressekonferenz (am 17.3.1999 - J.E.) instruiert ..." Nota bene: Die gesammelten Dokumente der gerichtsmedizinischen Untersuchung sind bis heute im Auswärtigen Amt unter Verschluss.
Dies alles könnte man als Verschwörungspuzzle notorischer Nestbeschmutzer abtun, gäbe es nicht einen Kronzeugen, dessen Staatstreue, Integrität und Qualifikation der David Kellys nicht nachsteht. Im Frühjahr 1999 war Brigadegeneral Heinz Loquai Leiter der deutschen Militärdelegation bei der OSZE in Wien, die Berichte der 1.400 OSZE-Beobachter im Kosovo liefen über seinen Schreibtisch. Als er im Frühjahr 2000 ein erstes Buch veröffentlichte, in dem er von einem "vermeidbaren Krieg" sprach und die Bundesregierung massiv kritisierte, verlängerte die sein Mandat bei der OSZE nicht. Vor kurzem hat der Pensionär sein zweites Werk vorgelegt, das - so der Titel - die Weichenstellung für einen Krieg untersucht. Die Ereignisse von Racak bilden dabei einen Schwerpunkt. Unter anderem präsentiert Loquai erstmals ein Dossier der deutschen Militärspionage ("Amt für Nachrichtenwesen der Bundeswehr"), das von "Manipulationen am Tatort" spricht, "nur ein Teil der 45 Opfer (sei) an ihrem Fundort umgebracht worden", ein Teil sei "bei Kämpfen mit den serbischen Sicherheitskräften ums Leben gekommen".
Ein brisantes Dokument - doch Loquais Buch wurde bis dato in keiner großen Zeitung rezensiert, und die Damen Christiansen, Bauer und Maischberger haben seinen Namen wohl noch nie gehört. Eigentlich sollte man fordern, dass Fischer die Racak-Dokumente freigibt, der Bundestag einen Untersuchungsausschuss einrichtet oder wenigstens die ARD genauso regierungskritisch berichtet wie die BBC.
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