Der Friede des Imperiums

Zehn Jahre nach Dayton In Bosnien-Herzegowina demonstriert der Westen, was er unter Demokratie und Selbstbestimmung versteht

Der Autokrat hat in den letzten Jahren die Demokratie weitgehend ausgehöhlt, die formal pluralistischen Institutionen und Prozeduren sind zur Potemkinschen Fassade seiner totalen Macht verkommen. Vielfach ging er gegen oppositionelle Politiker vor, teilweise durch brutalen Einsatz von Spezialpolizei und Soldaten. Egal ob es um Polizisten, Richter, Parlamentsabgeordnete, ja selbst gewählte Mitglieder des Staatspräsidiums ging - keiner war vor seiner Willkür sicher. Und selbst wenn ein unliebsamer Kandidat trotz Einschüchterung mit überwältigender Mehrheit gewählt worden war, akzeptierte der Autokrat die Entscheidung des Volkes nicht. Was Demokratie war, definierte er nämlich selbst, und nur er allein.

Diese kleine Geschichte mag manchem Leser bekannt vorkommen: So haben die westlichen Medien mehr als ein Jahrzehnt lang über den jugoslawischen Präsidenten ("Diktator", "Tyrann", "Schlächter") Slobodan Milosevic berichtet. Doch in diesem Falle ist der Autokrat ein Mann der NATO: der Brite Paddy Ashdown, seit über drei Jahren der so genannte Hohe Repräsentant für Bosnien-Herzegowina. Die einstige jugoslawische Teilrepublik bekam nach dreieinhalbjährigem Bürgerkrieg im November 1995 eine international garantierte Meta-Verfassung, die den Interventionsmächten ein ständiges Hineinregieren in alle Kompetenzen des nur auf dem Papier selbstständigen Staates gestattet.

Bonner Notverordnungen

Auf dem US-Luftwaffenstützpunkt in Dayton/Ohio paraphierten der Serbe Milosevic, der Kroate Tudjman sowie der Moslem Izetbegovic am 21. November 1995 einen im Wesentlichen von den USA diktierten Frieden. Gegen 11.40 Uhr trat US-Präsident Clinton an diesem Tag vor die Presse und verkündete den Durchbruch: "Nach beinahe vier Jahren, nach 50.000 Toten, nach zwei Millionen Flüchtlingen und nach Grausamkeiten, die die Weltöffentlichkeit mit Abscheu erfüllten, haben die Menschen in Bosnien nun endlich die Chance, die Schrecken des Krieges zu überwinden und in der Hoffnung auf Frieden zu leben." Bemerkenswert ist immerhin, dass Clinton die Zahl der Bürgerkriegsopfer relativ korrekt angegeben hat - seither ist sie, unter tatkräftiger Mithilfe diverser Bundesregierungen vervielfacht worden.

Der Vertrag sah einen gemeinsamen Staat mit zwei autonomen Entitäten vor: die bosnisch-kroatische Föderation auf 51 und die Republika Srpska (RS) auf 49 Prozent des Territoriums von Bosnien-Herzegowina. Um den verfeindeten Volksgruppen Demokratie zu lehren, schickte die NATO mit dem Segen der UNO nicht nur eine so genannte Stabilisierungsstreitmacht (Sfor) ins Land, sondern installierte mit dem Hohen Repräsentanten auch eine Art Zivilgouverneur. Seine Kompetenzen waren zunächst beschränkt: Er sollte die Politiker beider Entitäten bei der Implementierung der Dayton-Bestimmungen beraten - also bei der Herstellung von Multi-Ethnizität, der Rückführung von Flüchtlingen und der Auslieferung von Kriegsverbrechern.

Doch da dem Westen alles nicht schnell genug ging, wurden diesem Gouverneur Ende 1997 zusätzliche Vollmachten verliehen, die "Bonner Befugnisse". Verabschiedet wurden die neuen Spielregeln in der damaligen Bundeshauptstadt und zwar - anders als in Dayton - nicht mit der Zustimmung der Konfliktparteien und dem Segen des UN-Sicherheitsrates, sondern vom so genannten Friedensimplementierungsrat (PIC), in dessen Vorsitz nur die NATO-Mächte, Japan und Russland vertreten sind. Derart fragwürdig legitimiert, agiert der Hohe Repräsentant seither wie ein Kolonialherr: Er kann Urteile ohne die Justiz, Dekrete ohne die Regierung und Gesetze ohne das Parlament beschließen, ein Einspruchrecht gibt es in keinem Fall. Materiell abhängig ist er dabei von der EU und den USA, die 53 beziehungsweise 22 Prozent seiner Budgetmittel und das Gros der anfänglich 60.000 und derzeit noch 6.500 Besatzungssoldaten stellen.

Als erster Hoher Repräsentant machte schon der Spanier Carlos Westendorp (1997 - 1999) von den Bonner Notverordnungen Gebrauch. Er schloss Radio- und Fernsehstationen, behinderte den Urnengang der Serbischen Demokratischen Partei (SDS) und der Serbischen Radikalen Partei (SRS) und strich mehrere ihrer Kandidaten von den Wahllisten. Als bei den Präsidentschaftswahlen im September 1998 die pro-westliche Amtsinhaberin Biljana Plavsic ihrem Herausforderer Nikola Poplasen von der SRS unterlag, war Westendorp verstimmt und setzte den Wahlsieger bald darauf wieder ab. Außerdem verfügte er selbstherrlich ein neues Staatsbürgerschaftsrecht, eine neue Staatsflagge und eine neue Währung (die an die Deutschmark angekoppelte Konvertibla Marka) in Bosnien-Herzegowina.

Nach dem Kosovo-Krieg übernahm der Österreicher Wolfgang Petritsch den Posten. Er schloss nicht nur einzelne Kandidaten, sondern eine ganze Partei - die SRS - von der Kommunalwahl im Frühjahr 2000 aus. Westendorp und Petritsch wurden jedoch von Ashdown übertroffen, der 2002 das Amt übernahm. Griff Westendorp im Schnitt vier mal monatlich auf die Bonner Befugnisse zurück und Petritsch zwölf mal, steigerte Ashdown die Frequenz auf 14. So enthob er im April 2002 summarisch alle Richter und Staatsanwälte Bosnien-Herzegowinas ihres Amtes, im Juni 2004 59 Politiker und im Dezember 2004 neun Polizeioffiziere der Republika Srpska, sowie - er war gerade gut in Schwung - den serbischen Ministerpräsidenten Dragan Mikeric wie den Außenminister Mladen Ivanic. Im März 2005 traf der Bannstrahl mit dem Kroaten Dragan Covic gar einen der drei Präsidenten des Gesamtstaates.

Merkels neuer Mann

Wenn Ashdown zum Jahresende geht, steht ein würdiger Nachfolger schon bereit - Angela Merkel hat ihren Parteifreund Christian Schwarz-Schilling vorgeschlagen. Um die Kohl-Regierung, der er 1992 als Postminister angehörte, zum bewaffneten Eingreifen gegen die Serben zu drängen, hatte der Christdemokrat eine Geschichte über "Mengeles serbischen Erben" erfunden: Die hätten gefangenen Musliminnen Hundeföten eingepflanzt. Zum Beweis wollte er Videobänder präsentieren, wozu er freilich nie in der Lage war. Dass sich der deutsche Kandidat in den EU-Gremien gegen seine Mitbewerber durchsetzen wird, gilt der FAZ als sicher, weil die italienische Mitbewerberin angeblich "zu serbenfreundlich" sei.

Anlässlich der Jubiläumsfeiern für den Dayton-Vertrag am 21. November werden die Medien wieder einmal voll des Lobes für den von der NATO implementierten Frieden sein. Erfreulich ist sicherlich, dass die Waffen in Bosnien-Herzegowina seit Ende 1995 schweigen. Doch das macht es um so bemerkenswerter, dass die westliche Beaufsichtigung in diesem Zeitraum nicht zurückgenommen, sondern sogar verstärkt worden ist. Für die Menschen in Afghanistan und im Irak, wo die Demokratielehrmeister ihre eiserne Kontrolle bis dato noch mit der instabilen Sicherheitslage rechtfertigen, wird das eine Lehre sein.

Paradoxerweise wird auf den Jubelfeiern gleichzeitig das Sterbeglöckchen für das Daytoner Vertragswerk geläutet werden. Die NATO-Mächte wollen vor allem die darin garantierte Autonomie der serbischen Entität liquidieren und eine zentralistische Republik aus der Taufe heben. So will man verhindern, dass die Serben in Bosnien das gleiche Recht in Anspruch nehmen, das der Westen derzeit den Albanern des Kosovo in Aussicht stellt: Mittels eines Referendums aus dem ungeliebten Staatsverband auszutreten und eine eigene Republik zu gründen. Selbstbestimmung lässt die NATO nämlich nur zu, wenn es ins Konzept passt - das ist die wichtigste Lehre der vergangenen zehn Jahre auf dem Balkan.


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