Wie fielen 1998/99 Entscheidungen im rot-grünen Kabinett, die schließlich dazu führten, dass sich die Bundesrepublik Deutschland erstmals seit ihrer Gründung an einem Angriffskrieg gegen einen souveränen Staat in Europa - die Bundesrepublik Jugoslawien - beteiligte. Zur Rechtfertigung für die Luftoperationen zwischen März und Juni 1999, die ohne UN-Mandat geflogen wurden, diente der Konflikt zwischen Serben und Albanern im Kosovo. Jürgen Elsässer hat für sein neues Buch Kriegslügen. Der NATO-Angriff auf Jugoslawien die Geschehnisse von damals rekonstruiert und uns das entsprechende Kapitel für einen Vorabdruck überlassen. Das Buch erscheint Ende Dezember.
Nachdem die Unionsparteien die Bundestagswahl Ende September 1998 verloren hatten, waren die Erwartungen an die Nachfolgekoalition unter Kanzler Gerhard Schröder (SPD) und seinem Außenminister Joseph ("Joschka") Fischer (Bündnis90/Die Grünen) hoch. "Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik", hatte die neue Mannschaft schließlich in ihren Koalitionsvereinbarungen postuliert. Weiter hieß es darin: "Die Beteiligung deutscher Streitkräfte an Maßnahmen zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit ist an die Beachtung des Völkerrechts und des deutschen Verfassungsrechts gebunden. Die neue Bundesregierung wird sich aktiv dafür einsetzen, das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen zu bewahren ..."
Schon vor dem Wahlsonntag am 27. September begannen Schröder und Fischer, diese Grundsätze aus dem späteren Koalitionsvertrag zu hintertreiben. Am 24. September beschlossen die NATO-Verteidigungsminister die Activation Warning (ActWarn) für Luftschläge gegen Jugoslawien - also die formale Aufforderung an die Mitgliedsstaaten, Einsatzkräfte für diesen Einsatz zu designieren. Damit erhielten inoffizielle Drohungen der Vormonate offiziellen Charakter. Verteidigungsminister Rühe (CDU) stützte sich bei seiner Billigung des Beschlusses "offensichtlich auf die inoffizielle Zustimmung der SPD und Joseph Fischers", schrieb Roland Friedrich später in einer für die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) verfassten Studie.
Am 30. September 1998 beschloss das noch amtierende Kabinett Kohl, die ActWarn-Anfrage mit der Zurverfügungstellung von elf Tornado-Kampfflugzeugen zu beantworten. "Diese Entscheidung wurde nach Abstimmung mit dem künftigen Kanzler Schröder und dem designierten Außenminister Fischer getroffen, die mindestens von der Wahlnacht an in den Entscheidungsprozess hinsichtlich des Kosovos eingebunden waren", heißt es bei Friedrich weiter.
Nach ActWarn sollte ActOrd folgen: Activation Order, die Erklärung des Aktivierungsbefehls für die NATO-Luftflotte, die einen jederzeitigen Angriff ermöglichen sollte. Dafür war wieder das Plazet aller Mitgliedsstaaten erforderlich. Zur Abstimmung der deutsch-amerikanischen Position flogen am 9. Oktober Schröder und Fischer, begleitet unter anderem vom künftigen Außenstaatssekretär Ludger Volmer, dem designierten Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye und US-Botschafter John Kornblum, nach Washington. Fischer schreibt in seinen Memoiren, Clinton schien nach einem Vier-Augen-Gespräch mit Schröder dessen Argument akzeptiert zu haben, "dass Deutschland jetzt wegen der Übergangssituation zwischen alter und neuer Regierung nicht entscheiden könne". Eine andere Version kam vom noch amtierenden Verteidigungsminister Rühe. Von ihm las man am 11. Oktober 1998 in Bild am Sonntag: "Gerhard Schröder hat in Washington fest zugesagt, dass wir dem Aktivierungsbefehl der NATO (ActOrd) zustimmen ..."
Oskar Lafontaine kritisiert, dass Schröder und Fischer ihn bei dieser Reise "ausgetrickst" hätten. "Warum sind sie am 9. Oktober zu Clinton geflogen, ohne mich mitzunehmen? Ich habe noch nicht einmal von der Reise gewusst." Tatsächlich war Lafontaine damals als SPD-Vorsitzender und designierter Finanzminister in der künftigen Koalition von mindestens demselben Gewicht wie Fischer.
Der 12. Oktober 1998
Das entscheidende Datum ist der 12. Oktober, als die Spitzen der noch amtierenden Kohl-Regierung mit ihren rot-grünen Nachfolgern im kleinen Kreis die Kosovo-Frage beraten und entscheiden wollen. Bereits auf dem Weg zu diesem Treffen soll Folgendes passiert sein: "Schröder und Fischer befinden sich auf dem Weg zum Kanzler, als ein Anruf Günter Verheugens sie einholt. In Washington habe man umgedacht. Man wünsche nun doch sofort eine Zustimmung (zum NATO-Einsatz, Anm. J.E.) aus Bonn. Fünfzehn Minuten, erinnert sich Joschka Fischer verknittert in irgendeiner stillen Stunde während des Krieges, blieben uns, um über die Frage von Krieg und Frieden zu entscheiden. Bevor sie bei Kohl eintreffen, entschließt sich das Duo Schröder und Fischer zu einem raschen Ja. Ohne UN-Mandat." - Soweit die Version von Zeit-Reporter Gunter Hofmann nach Gesprächen mit dem grünen Außenminister in seinem Artikel Wie Deutschland in den Krieg geriet vom 12. Mai 1999
Also US-amerikanische Erpressung? Blieb den rot-grünen Spitzenmännern nur der "Zeitraum einer Zigarrenlänge", wie Rudolf Augstein griffig zusammenfasste? Schröder selbst wies im Nachhinein die Version zurück, er habe sich in jenen Tagen US-Druck gebeugt: "Wir haben das aus freien Stücken getan."
Bei der Spitzenrunde anwesend waren seitens der bisherigen Bundesregierung Kohl, Kinkel, Rühe und Wolfgang Schäuble; seitens der künftigen neben Schröder, Fischer und Verheugen auch Oskar Lafontaine. Dieser berichtete dem Autor, dass auf Seiten von Rot-Grün im wesentlichen er selbst gesprochen habe. Seine Position: Die Bundesregierung dürfe der NATO nicht in den Rücken fallen, indem sie die Aktivierung der Luftwaffe des Bündnisses (ActOrd) blockiere, aber es müsse "klar sein, dass dies keine Angriffsermächtigung" sei, ließ er bei einem Gespräch am 6. Juli 2007 wissen. Dem habe Rühe widersprochen: Nach seiner Lesart sei beides identisch. Dem habe wiederum Kinkel widersprochen: ActOrd bedeute keinen Automatismus, der die Ermächtigung für Luftschläge in die Hände der NATO-Spitze lege. (Von Kinkel wird übrigens berichtet, dass er bis kurz vor dem Treffen immer noch zögerte, ActOrd überhaupt zu unterstützen.) Daraufhin will Lafontaine von Kinkel eine schriftliche Zusicherung verlangt haben, dass mit ActOrd keine Kriegsermächtigung ausgesprochen werde. Der FDP-Mann habe sie gegeben und in der Folge dieses Dokument auch ausgefertigt, behauptet Lafontaine.
Das Problem bei dieser Aussage: Der Saarländer selbst hat das Dokument nicht mehr, und das Archiv des Auswärtigen Amtes war auf Anfrage nicht in der Lage, die Existenz eines solchen Papiers zu bestätigen oder gar eine Kopie auszufertigen. Der vom Autor angeschriebene Klaus Kinkel war nicht zu einem Gespräch über die damalige Zeit bereit und machte Termingründe geltend.
Joschka Fischer jedenfalls widerspricht in seiner Biographie der Darstellung des Treffens durch Lafontaine. Dieser "hielt sich weitgehend zurück", behauptet er. Außerdem habe er "nur formale Einwände" vorgebracht, keinesfalls die militärische Einmischung generell abgelehnt. Fischer bestätigt immerhin, dass Lafontaine besagte Zusicherung verlangt habe, und schreibt weiter: "Diese Zusicherung wurde gegeben." Er stellt es aber so dar, als ob es Lafontaine dabei nicht darum gegangen sei, dass mit ActOrd kein Kriegsautomatismus ausgelöst werde, sondern lediglich darum, dass "bei der heute anstehenden ActOrd-Entscheidung völkerrechtlich alles in Ordnung wäre".
Verschiedene Aussagen deuten darauf hin, dass Noch-Kanzler Kohl in der Runde am 12. Oktober zur Vorsicht oder vielleicht sogar zur Ablehnung von ActOrd riet. Fischer weist darauf hin, dass der Pfälzer "sich in einer gedrückten Stimmung befand". Man habe ihm angemerkt, "wie schwer ihm die zu treffende Entscheidung fiel". Der Bundestagsabgeordnete Willy Wimmer (CDU), in den achtziger Jahren Staatssekretär auf der Hardthöhe und mit Kohl an den Verhandlungen zur deutschen Einheit 1990 beteiligt, vertritt die Meinung, mit dem Pfälzer als Kanzler "hätte es 1999 keinen Krieg mit deutscher Beteiligung gegeben". Der damalige russische Premier Jewgenij Primakow schreibt in seinen Erinnerungen, Kohl habe ihm gegenüber den Krieg gegen Jugoslawien "den größten historischen Fehler" genannt. "Wäre ich zu jenem Zeitpunkt noch im Amt gewesen, hätte ich das niemals zugelassen", habe er ihm gesagt.
Michael Schwelien bilanziert den 12. Oktober 1998: "Die Deutschen hätten sich, ohne dass die NATO zerbrochen wäre, vorläufig verweigern können (...). Gerade weil die Amerikaner so viel Wert auf ihre Beteiligung legten, hatten sie mehr Einfluss, als sie glaubten. Aber es scheint, dass Fischer solche Gedanken in diesem kritischen Moment nicht kamen. (...) Er war offensichtlich viel zu versessen auf den Ministersessel im Auswärtigen Amt, um dem Druck zu widerstehen - sei dieser nun ein Druck der Fakten gewesen oder vom designierten Kanzler direkt ausgeübt worden."
Am 16. Oktober trat der Bundestag zusammen, um die Beschlüsse der Regierungsspitze vom 12. Oktober abzusegnen. An der Debatte nahm Noch-Justizminister Schmidt-Jortzig (FDP) nicht teil; er hatte bereits zuvor im Kabinett gegen die Einsatzentscheidung ActOrd opponiert.
Die Äußerungen in der Plenardebatte bestätigen indirekt, was Lafontaine über die internen Beratungen der alten und neuen Regierung vom 12. Oktober gesagt hatte: Die Vertreter von SPD und Grünen waren sich mit Kinkel einig, dass man zwar den Aufbau einer NATO-Drohkulisse unterstützen solle, nicht aber den automatischen Übergang zum Krieg. Explizit traten im Bundestag nur Rühe und abgeschwächt Schäuble gegen diese Interpretation auf. Kohl schwieg. Lafontaine versäumte es leider, an jenem Tag vor dem Hohen Hause zu sprechen; als Ministerpräsident des Saarlandes hätte er - wie der Niedersachse Schröder - Rederecht besessen, obwohl er dem alten Bundestag nicht angehörte.
Kriegseintritt per Telefon
Im Frühjahr 1999 nutzte die rot-grüne Bundesregierung den Bundestagsentscheid vom 16. Oktober 1998 genau in dem Sinne, den sie vorher vehement dementiert hatte: als Kriegsermächtigung, die keiner weiteren parlamentarischen Bestätigung mehr bedurfte.
Auffällig ist allerdings, dass Schröder und Fischer neben dem Parlament auch das Kabinett als Entscheidungsgremium ausschalteten. Lafontaine schreibt in seinen Memoiren: "Während der Verhandlungen von Rambouillet (Februar 1999) sagte Fischer im Kabinett, dass die NATO entschlossen sei, im Falle des Scheiterns mit den Luftschlägen zu beginnen. (...) Nachdem Fischer seinen Vortrag beendet hatte, sagte Gerhard Schröder, an Fischer und Scharping gewandt: Wenn es soweit ist, telefonieren wir miteinander. Ich meldete mich zu Wort und sagte, dass das nicht so gehen könne. Wenn Deutschland zum ersten Mal in einen Krieg eintrete, müsse zumindest eine Kabinettsberatung stattfinden, die zu einem Kabinettsbeschluss führen müsse. Kriegseintritt per Telefon, das sei wohl nicht das richtige Verfahren."
Doch genau so kam es. Im Unterschied zu den absolutistischen Umgangsformen des Schröderismus ging es selbst in den Vereinigten Staaten demokratisch zu. Dort wurde der Senat Mitte März 1999 zusammengerufen, um über militärische Zwangsmaßnahmen gegen Jugoslawien zu befinden. Mit 58 zu 31 Stimmen ermächtigte das Gremium den Präsidenten dazu.
Hören wir noch einmal, wie Fischer sein Vorgehen rechtfertigte. "Warum, so fragte ich mich, musste ausgerechnet die erste Bundesregierung, die von der politischen Linken gebildet worden war, mit Deutschland wieder in den Krieg ziehen? (...) Die Welt kann sehr ungerecht sein. Warum wir?", quälte sich der Außenminister bereits Ende Januar 1999. Gut sechs Wochen vor dem NATO-Angriff war für Fischer demnach schon klar, dass die Bomben fallen mussten. "Weil wir gewählt worden waren und weil es im Kosovo um unsere Grundwerte ging, beantwortete ich mir diese Frage selbst." Damit ist eigentlich alles gesagt: Wenn Leute wie Fischer einmal gewählt worden sind und wenn dann irgendwo auf der Welt eine Situation entsteht, bei der es um "unsere Grundwerte" geht, werden sie wieder den Angriffsbefehl geben - gegen UN-Charta und Völkerrecht, gegen das eigene Parteiprogramm und gegen das Grundgesetz.
Jürgen Elsässer, Kriegslügen. Der NATO-Angriff auf Jugoslawien. 12.80 Euro. Verlag Kai Homilius / Die Buchpremiere findet am heutigen Freitag 19.30 Uhr in der serbisch-orthodoxen Kirche, Ruppinerstraße 28, Berlin-Wedding, statt.
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