Der Dritte Weltkrieg begann in Jugoslawien. Am 10. Juni 2009 rückten russische Eliteeinheiten aus dem nahen Bosnien über die Drina vor und erreichten in den frühen Morgenstunden Pristina, die Hauptstadt des Kosovo. Die dort verbliebenen Serben säumten die Einfallstraßen und schmückten die Panzer mit Rosen, boten den slawischen Brüdern Brot und Salz, den traditionellen Gruß. Doch die stählernen Kolosse rasselten weiter, hinaus auf den Flughafen der Stadt, besetzten das Rollfeld. Im NATO-Hauptquartier in Brüssel war man von dem Coup überrascht, im Oval Office ließ sich der Präsident das Rote Telefon bringen. Doch sein Gesprächspartner im Kreml ließ sich verleugnen, die Lage blieb unklar. War der Handstreich eine Aktion der sowjetisch geprägten Generalität, gar der Auftakt zu einem Putsch der Alten Garde? Nach zwei Stunden hektischer Konferenzen war die Antwort des Nordatlantikpaktes klar: Britische Truppen aus dem Kosovo-Korps KFOR kesselten den Flughafen von Pristina ein und forderten den russischen Kommandanten zur Übergabe auf. Nach Ablauf des Ultimatums stürmten Fallschirmjäger den Tower, Apache-Hubschrauber schalteten die Artillerie des Gegners aus. CNN hatte die Nachricht über die "Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung im Kosovo auf der Grundlage der UN-Resolution 1244" gerade verbreitet, als das U-Boot Wladiwostok, das sich in der Adria auf Tauchfahrt befand, zwei Marschflugkörper auf den kosovarischen US-Stützpunkt Bondsteel abschoss. Der US-Präsident bestieg die Air Force One und gab der 6. Flotte den Befehl, ihre Ankerplätze im Mittelmeer zu verlassen und durch die Dardanellen vorzustoßen: Kurs auf die russische Schwarzmeerküste.
Order zum Sturmangriff
Eine Zukunftsgeschichte? Nur zum Teil. Die beschriebene Eskalation hat bereits angefangen, und zwar schon zehn Jahre vor dem fiktiven Datum - am 10. Juni 1999. Nach der Kapitulation der jugoslawischen Armee im Kosovo sind tatsächlich russische Truppen aus Bosnien nach Pristina vorgerückt. Auf ihren Fahrzeugen hatten die Soldaten die Aufschrift SFOR, die sie als Teil der UN-mandatierten Stabilisierungstruppe im Nachbarstaat auswies, hastig zu KFOR umgepinselt. KFOR, das war die gerade erst beschlossene Besatzungsstreitmacht für das Kosovo. Der russische Präsident Boris Jelzin hatte zugestimmt, dass sie unter dem Oberbefehl der NATO gebildet wurde - doch seine Generäle wollten wenigstens dafür sorgen, dass die strategisch wichtige Hauptstadt der Provinz nicht in die Hände des alten Feindes fiel.
Die schnell nachrückenden Truppen des britischen KFOR-Kontingents hatten die Kanonen auf die renitenten Besatzer des Flugplatzes gerichtet, aus Brüssel wurde die Order zum Sturmangriff gegeben - da bewahrte ein Mann seine Kaltblütigkeit und verweigerte den Befehl. Michael Jackson, der britische Oberkommandeur der KFOR, brüllte seinen Vorgesetzten am Telefon an: "Ich werde doch für Sie nicht den Dritten Weltkrieg riskieren." Nur wegen dieser Befehlsverweigerung fand der Angriff nicht statt, und nur deswegen konnte mit den Russen noch eine gütliche Einigung gefunden werden. Hätte die NATO so funktioniert, wie es ihr Reglement vorsieht, wären die Folgen nicht auszudenken gewesen.
Der General, der an diesem Tag mit dem Äußersten pokerte, war der damalige NATO-Oberbefehlshaber, der US-Amerikaner Wesley Clark. Die Unbotmäßigkeit von Jackson nahm er zähneknirschend hin - eigentlich hätte er den Weltkriegsverweigerer von der Militärpolizei festnehmen lassen müssen. Ein deutscher General hat das im Nachhinein kritisiert. "Das schwächliche Zurückweichen von Briten und Amerikanern war sicher die falsche Antwort in einer Situation, die niemals zu einem ernsten Konflikt zwischen der NATO und Russland geführt hätte", schrieb Klaus Naumann, damals Vorsitzender des NATO-Militärausschusses und damit höchster europäischer Offizier im Bündnis (*).
Dass der Planet in jenen Tagen am Rande einer gefährlichen Eskalation stand, ist nie ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit gekommen, weil die zuständigen NATO-Gremien den Konflikt gedeckelt haben. Der Brite Jackson wurde wegen seiner Befehlsverweigerung nie offiziell gerügt, sondern konnte seine Amtszeit als KFOR-Kommandeur untadelig zu Ende bringen. Clarks Karriere hingegen bekam einen Knick. US-Generalstabschef Hugh Shelton erwirkte seine Versetzung in den vorzeitigen Ruhestand, aus "Gründen der Integrität und des Charakters".
Kein GI im Kampf getötet
Fünf Jahre später probte der Brandstifter von damals eine zweite Karriere: Clark bewarb sich als Kandidat der Demokratischen Partei für die Präsidentschaftswahlen im Herbst 2004. Er konnte sich zunächst breiter Unterstützung erfreuen, die vom ehemaligen Präsidentenberater Zbigniew Brzezinski über den Multimilliardär George Soros bis zum Filmregisseur und Bestsellerautor Michael Moore reichte. Doch besser als Clark schnitt bei den Vorwahlen John Kerry, der Senator von Massachusetts, ab - viele sehen in ihm bereits den Nachfolger von George W. Bush. Kerry gilt als gemäßigter Gegner der US-Kriegspolitik. Dabei wird übersehen, dass er - ähnlich wie Clark - beim Angriff auf Jugoslawien zu den Falken gehörte. "Er unterstützt die Entsendung von Bodentruppen in das Kosovo", meldete die US-Presse im April 1999 (**). Das war eine Position, die damals noch nicht einmal im NATO-Hauptquartier durchsetzungsfähig war.
Bei ihrem Comeback profitieren die US-Demokraten von der allgemeinen Geschichtsvergessenheit: Zum fünften Jahrestag des von ihrem Präsidenten William Clinton unterstützten NATO-Überfalls auf Jugoslawien ist die Erinnerung daran geschwunden. Alle Augen sind auf die neuen Schlachtfelder im Nahen und Mittleren Osten gerichtet. Mit den steigenden Verlusten der US-Amerikaner im Irak und in Afghanistan meldet sich das Gespenst Vietnam zurück, das nach den Blitzsiegen über die Taleban und über das Regime Saddam Husseins so erfolgreich gebannt schien. Wird die Supermacht am Euphrat und am Hindukusch in einen Abnutzungskrieg wie einst am Mekong gezwungen? Wie lange kann der ökonomisch kränkelnde Riese die Kosten für die Besatzung noch aufbringen? Was passiert, wenn immer mehr tote Boys im Body Bag zurückkommen?
Die Demokraten können darauf verweisen, dass die Kriege Clintons, ganz anders als die seines Nachfolgers, erfolgreich zu Ende gingen, jedenfalls von Washington aus betrachtet. Auf dem Balkan ist kein einziger GI im Kampf getötet worden, ein Teil der Truppen konnte bereits zurückgezogen werden. Bosnien und das Kosovo sind befriedete Provinzen des Imperiums geworden, Serbien ist zumindest kein Schurkenstaat mehr. Die übrigen Fragmente des einst großen Jugoslawien - Slowenien, Kroatien, Mazedonien, Montenegro - wetteifern darum, wer der NATO besser dienen könnte.
Auch in Deutschland hofft die Regierung auf einen Machtwechsel im Weißen Haus. Mit Clinton ist Gerhard Schröder besser gefahren: Mit ihm hat man sich die balkanische Beute recht einvernehmlich aufgeteilt, während der hemdsärmlige Texaner Bush nun den deutschen Firmen Geschäfte im Zweistromland verwehren will, nur weil die Bundeswehr beim Angriff auf Irak etwas abseits stand. Kein Wunder also, dass dieselben deutschen Medien, die 1999 Schröder und Clinton jedes Märchen glaubten, nun fleißig die Lügen von Bush und dem britischen Premier Tony Blair aus dem Jahr 2003 aufdecken. So weiß jeder halbwegs interessierte Deutsche, wie fadenscheinig das Gerede von den irakischen Massenvernichtungswaffen war, und wie unverblümt Bush mit der Behauptung gelogen hat, Saddam habe sich in Schwarzafrika Uran für Atombomben besorgen wollen. Auch den peinlichen Auftritt von Außenminister Colin Powell vor dem UN-Sicherheitsrat wird man nicht vergessen, als er fehlende Beweise mit windigen Dias und zusammengestoppelten Tonbandaufnahmen ersetzen wollte. Von Rudolf Scharpings Hufeisen-Finte von 1999 aber haben die wenigsten gehört.
Varianten des Intervenierens
Je mehr Bush wackelt, um so mehr werden sich seine gemäßigten Kritiker verkneifen, auf die Leichen im Keller der demokratischen Opposition hinzuweisen, um deren Wahlchancen nicht zu gefährden. Spiegelbildlich wird sich derselbe Vorgang hierzulande abspielen: Je stärker Schröder unter Druck von Angela Merkel und Edmund Stoiber kommt, um so mehr werden sich die moderaten Kriegsgegner hinter dem Sozialdemokraten zusammenscharen, um den Machtwechsel zu einem Kanzler der Union zu verhindern. Alle vereint gegen Bush, alle vereint für Schröder - und deshalb kein Wort mehr über den Überfall auf Jugoslawien, mit dem jener nichts und dieser sehr viel zu tun hatte.
Dieses taktische Schweigen wird künftige Kriege nicht verhindern helfen, sondern sie vorbereiten. Wenn die NATO, assistiert von den Richtern in Den Haag, alle Verantwortung für die 3.000 zu Tode gebombten Jugoslawen deren ehemaligem Präsidenten Slobodan Milosevic zuweisen kann, wenn also trotz aller Kritik am Krieg 2003 der Krieg 1999 als gerechtfertigt im kollektiven Gedächtnis bleibt, wird die Friedensbewegung immer Schlagseite haben. Sie wird auf Unterstützung zählen können, wenn sie gegen den unilateralen Amok der Bush-Leute wettert - aber gegen innerhalb der NATO besser abgestimmte Aggressionen wie auf dem Balkan wird sie die Segel streichen müssen. Die Kombination von Menschenrechtsdemagogie und Militärgewalt, die Verkleidung der NATO als bewaffneter Arm von Amnesty könnte auf Dauer erfolgreicher sein als der offene Machtanspruch der texanischen Öl-Lobby. Je tiefer die US-Army zwischen Bagdad und Basra im blutigen Morast versinkt, umso verführerischer wird eine alternative Variante des Intervenierens präsentiert werden: Man greift vermeintliche Schurkenstaaten nicht frontal an, sondern hetzt deren Bevölkerung entlang der ethnischen und religiösen Bruchlinien gegeneinander auf, gießt über sogenannte Nichtregierungsorganisationen Benzin ins Feuer, wartet den Ausbruch des offenen Bürgerkrieges ab und ist erst im letzten Stadium mit eigenen Soldaten vor Ort. Das hat in Kroatien, Bosnien, im Kosovo und in Mazedonien geklappt - und in der Regel ganz ohne UN-Mandat.
Die weiteren Stationen bei diesem Vorgehen könnten Weißrussland, Moldawien, die Ukraine und andere Staaten der ehemaligen Sowjetunion sowie die rohstoffreichen Republiken in Zentralafrika sein. Und wenn sich atomar gerüstete Länder wie Indien, Russland und China die Salami-Taktik nicht gefallen lassen und der sogenannten humanitären Einmischung militärisch Paroli bietet, wird sich den beteiligten Militärs schnell die Frage stellen, die uns am Anfang begegnet ist: Soll ich dafür den Dritten Weltkrieg riskieren? Dann kann man nur beten, dass Generale wie Clark und Naumann nicht das Kommando haben.
(*) Klaus Naumann, Frieden - der noch nicht erfüllte Auftrag, Bonn 2002, S. 60
(**) Tricia Mohan, Despite spectre of Vietnam, Kerry 66 defends Kosovo, in: Yale Daily News, 20.4.1999
Leicht gekürzte Fassung des Nachworts aus dem Ende des Monats erscheinenden Buch von Jürgen Elsässer: Kriegslügen. Vom Kosovo-Konflikt zum Milosevic-Prozess. Verlag Kai Homilius Berlin 2004. Buchpremiere ist am 30. März um 18 Uhr in Berlin, Kulturzentrum KATO am U-Bahnhof Schlesisches Tor.
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