MI 6 und Doktor No

Balkan-Spur Der mutmaßliche Drahtzieher der Anschläge vom 7. Juli in London war für den britischen Geheimdienst im Kosovo aktiv

Die Terroristen hatten sich den Plastiksprengstoff im Kosovo, von der dortigen Untergrundbewegung UCK besorgt. "Wir kauften genug Semtex, um die Oxford Street oder das Parlament hochzujagen oder 40 Lockerbie-Jets herunter zu holen", gibt später einer der Einkäufer zu Protokoll. Lieferant war der UCK-Kommandant Niam Behljulii, Kampfname Hulji. "Wir trafen ihn unter den Augen der britischen Armee und der UN-Streitkräfte", wunderte sich der Mann in Anspielung auf die in der serbischen Provinz nach dem Krieg 1999 stationierten Friedensschützer von der KFOR. "Hulji wird beschuldigt, während des Krieges serbische Frauen und Kinder massakriert zu haben. Er posierte sogar grinsend für einen Fotografen, in der Hand den abgeschnittenen Kopf eines Feindes. Wir zogen ihn auf unsere Seite, indem wir eine seiner Schwächen zu nutzen wussten: Hulji ist ein großer Fan der irischen Rockband U2. Als wir ihm eine CD versprachen, die wir mit einem gefälschten Autogramm von Leadsänger Bono verziert hatten, wollte er unbedingt mit uns ins Geschäft kommen."

Insgesamt wechselten 13,5 Kilo Semtex für 10.000 Pfund den Besitzer. Die Käufer waren skeptisch, das Zeug fühlte sich wie Spielzeugknete an. "Aber als wir es mit einem Feuerzeug anzündeten, brannte es mit einer intensiven blauen Flamme - der Beweis für Semtex." Nun war alles bereit für den "Big Bang" in London.

Gottseidank wurde nichts daraus. Zwar war die von der UCK gelieferte Ware von mörderischer Qualität, doch die Einkäufer waren keine Terroristen, sondern Journalisten des britischen Daily Mirror. Ende 2003 hatten sie sich in den albanischen Untergrund mit der Tarnung einschleusen lassen, sie seien Kämpfer der IRA und an modernsten Waffen interessiert. Unmittelbar nachdem der Deal perfekt war, benachrichtigten sie über Satellitentelefon britische Polizeieinheiten in Pris?tina. Die stellten das Semtex sicher - und nahmen die beteiligten albanischen Terroristen fest, darunter zwölf einheimische Polizisten.

Von der Drina an die Themse

Am 7. Juli 2005 zerrissen morgens um 8.50 Uhr drei Bomben innerhalb von 50 Sekunden Zugwaggons in oder kurz vor den Londoner U-Bahnhöfen Aldgate, Edgware Road und Russell Square. 57 Minuten später detonierte eine vierte Bombe im Doppeldeckerbus Nr. 30 nahe Tavistock Square. Insgesamt starben 56 Menschen, darunter die vier mutmaßlichen Attentäter. Am 21. Juli sollten vier weitere Bomben im Londoner Nahverkehrsnetz explodieren. Es kam jedoch nur zu harmlosen Verpuffungen ohne Personenschäden.

Vor dem Hintergrund des geschilderten Semtex-Kaufs im Kosovo musste es einigermaßen elektrisieren, dass unmittelbar nach 7/7 von verschiedenen Seiten Hinweise kamen, die verwendeten Bomben seien balkanischer Herkunft gewesen. Die Times schrieb, "dass die für die vier Anschläge verwendeten Sprengsätze sehr wahrscheinlich von ein und demselben Hersteller stammen. Dieser habe Militärsprengstoff für die Bomben benutzt, der aus dem Balkan gekommen sein könnte." Und am 13. Juli schrieb das gleiche Blatt: "Spuren von Plastiksprengstoff ... sind angeblich in den Trümmern der zerstörten U-Bahn-Wagen und im Bus gefunden worden ... Der Sprengstoff wird vor allem in den USA hergestellt, aber es gibt Beweise, dass militärischer Sprengstoff von Terroristengruppen auch aus Quellen in Kroatien und anderswo auf dem Balkan besorgt worden ist." Nach Gesprächen mit britischen Kollegen gab auch Christophe Chaboud, Leiter einer französischen Koordinationsstelle zur Terrorbekämpfung, einen entsprechenden Hinweis auf "Schmuggel, zum Beispiel vom Balkan".

Doch nach einer Woche verschwand die Balkanspur wieder und mit ihr der dringende Verdacht, dass der britische Geheimdienst MI 6 den Dr. No - den unsichtbaren Mastermind von London 7/7 - nicht, wie in den Filmen mit James Bond, gejagt, sondern, im Gegenteil, angeheuert hat. Diese Behauptung stammt nicht von einem der üblichen Verschwörungstheoretiker auf einer der einschlägigen Websites, sondern von einem früheren US-Bundesanwalt und Geheimdienstexperten. Mit diesem John Loftus führte der US-Fernsehsender Fox News - die super-patriotische Alternative zu CNN - am 29. Juli 2005 ein längeres Live-Interview.

Wer ist dieser Loftus? Seiner Website kann man entnehmen, dass er als junger US-Offizier israelische Soldaten für Geheimoperationen im Yom-Kippur-Krieg 1973 trainierte. Während der Präsidentschaft von Carter und Reagan ermittelte er im Auftrag des Obersten Gerichts der USA gegen NS-Kriegsverbrecher. 1982 gewann sein TV-Feature über Nazis auf der Gehaltsliste der US-Regierung den Emmy Award. In seiner Zeit als Bundesanwalt hatte Loftus Zugang zum NATO-Archiv Cosmic, zu CIA-Codes und streng geheimen Atomakten.

Im Zentrum des Gesprächs auf Fox News am 29. Juli stand ein gewisser Haroon Rashid Aswat, der Tage zuvor in Sambia festgenommen worden war. Er stammte aus Dewsbury in West Yorkshire, wo auch drei der vier mutmaßlichen Attentäter des 7. Juli gewohnt hatten. Nach Auswertung von Telefonaten galt Aswat für das FBI als deren "Schlüsselkontakt". Er reiste zwei Wochen vor den Anschlägen nach Großbritannien ein - und wenige Stunden danach wieder aus.

Im Interview mit Fox News bestätigte John Loftus, dass Aswat für den Drahtzieher der Anschläge in London gehalten werde. Folgend ein Ausschnitt aus diesem Gespräch.

Loftus: "Das ist der Kerl, und was wirklich bestürzend ist, dass die ganze britische Polizei draußen ist und ihn jagt, und ein Flügel der britischen Regierung, der MI 6, der Geheimdienst, hat ihn versteckt."

Jerrick (Fox-Moderator): "Wollen Sie damit sagen, dass er für sie gearbeitet hat?"

Loftus: "Nicht ich sage das. Das sagte der Scheich (gemeint ist Scheich Abu Hamza von der Londoner Finsbury Moschee - J.E.).

Jerrick: "Ein Doppelagent? Arbeitet er für die Briten und versucht, ihnen Informationen über al-Qaida zu geben, aber in Wirklichkeit ist er immer noch al-Qaida-Agent?"

Loftus: "Yeah. Die CIA und die Israelis klagten MI 6 an, dass sie diese Terroristen in London leben ließen, und zwar nicht, um al-Qaida-Informationen zu bekommen, sondern nur um des lieben Friedens willen. Das war so ein Ding nach der Art: Ihr lasst uns in Ruhe, wir lassen euch in Ruhe."

Jerrick: "Offensichtlich ließen wir sie dann zu lange in Ruhe."

Loftus: "Absolut. Wir kennen diesen Aswat. 1999 kam er nach Amerika. Das Justizministerium wollte ihn in Seattle anklagen, weil er und sein Kumpel eine Terrorschule in Oregon aufmachen wollten."

Jerrick: "Und warum klagten sie ihn nicht an?"

Loftus: "Weil das Hauptquartier des US-Justizministers die Staatsanwälte in Seattle anwies, Aswat nicht anzurühren."

Jerrick: "Moment mal, warum?"

Loftus: "Offenbar arbeitete Aswat für den britischen Nachrichtendienst. Wir wissen eine Menge Einzelheiten, weil Aswats Boss, der einarmige Captain Hook (Spitzname für den bereits erwähnten Scheich Abu Hamza - J.E. ) am 16. Oktober 2001 einer arabischen Zeitung in London ein Interview gab, das die Beziehungen zwischen dem britischen Nachrichtendienst und den Operationen im Kosovo beschreibt. So können wir alle diese Kerle miteinander in Verbindung bringen. Es begann im Kosovo, Rashid Aswat war 31 Jahre alt, als er ungefähr 1995 dort einstieg ..."

Explosion auf dem Oberdeck

Die Frage nach einem möglichen Mastermind der Londoner Anschläge und der Rolle Aswats stellt sich auch deswegen, weil die als Täter Stigmatisierten offenbar weder den Fanatismus besaßen, noch das Know-How hatten, um solche Verbrechen zu begehen. Sie waren alles andere als islamistische Eiferer. Ganz anders als bei Atta Co. hat es sich um junge Männer gehandelt, die fest in die westliche Gesellschaft integriert waren.

Etliche Indizien sprechen dafür, dass sie die Anschläge nicht hatten begehen oder sich zumindest nicht hatten opfern wollen. "Warum kauften sie sich Rückfahrkarten, wenn sie sterben wollten?", fragte etwa der Independent on Sunday Mitte Juli. Auch Scotland Yard räumte zu diesem Zeitpunkt ein: "Wir haben keine eindeutigen Beweise, dass die Männer Selbstmordattentäter waren". "Das Quartett sei unter Umständen von Hintermännern in eine Falle gelockt worden", zitierte der Sunday Telegraph aus Geheimdienstkreisen. Und weiter: Die Hintermänner wollten womöglich "nicht riskieren, dass die vier Männer gefasst werden und alles verraten". Diese These erscheint plausibel, weil die Verdächtigen nicht nur Rückfahrkarten gelöst, sondern auch ihre Parkscheine brav bezahlt hatten. Außerdem hatten sie die Bomben nicht um den Körper geschnallt, wie ansonsten bei Selbstmördern üblich. Wenn sie die aber schon in Rucksäcken herumschleppten - warum stellten sie diese dann nicht rechtzeitig ab und brachten sich in Sicherheit, wie es die Attentäter im Vorjahr in Madrid getan hatten?

Auch das Verhalten des Attentäters im Doppeldeckerbus spricht für die Theorie vom unfreiwilligen Ableben. Besonders diese vierte Detonation gibt den Ermittlern Rätsel auf. Warum erfolgte sie erst um 9.47 Uhr, fast eine Stunde nach den beinahe synchronen ersten drei? Warum stellte sich der Attentäter nicht an den Aufstieg zur Wendeltreppe, wo die Explosion die maximale Verwüstung hervorgerufen hätte?

Nach sieben Wochen präsentierte Scotland Yard eine Theorie, die diese Widersprüche auflösen sollte. Demnach wurden die Bomben nicht über einen Zeitzünder oder ein Mobiltelefon aktiviert, sondern von den Attentätern selbst per Knopfdruck gezündet. Damit wäre die These, dass sie in eine Falle gelockt wurden, vom Tisch. Doch auch diese Erklärung scheitert an der Explosion im Bus. Die Behörden wollen herausgefunden haben, dass der mutmaßliche Bombenleger Nr. 4 im letzten Moment nicht mehr mitmachen wollte. Das sei der Grund gewesen, warum er die vorgesehene U-Bahn nicht nehmen wollte.

Demnach flüchtete er aus dem U-Bahnhof, ging in ein McDonalds-Restaurant und telefonierte hektisch mit seinen drei Freunden, angeblich um sie von seinem Entschluss zu unterrichten. Doch würde die Theorie von der Verabredung zum gleichzeitigen Knopfdruck stimmen, hätte er natürlich wissen müssen, dass seine Anrufe zu spät kamen - er telefonierte kurz vor neun - die Untergrund-Sprengsätze gingen bereits 8.50 Uhr hoch. Dass Augenzeugen ihn gesehen haben, wie er im Bus hektisch in seinem Rucksack herumsuchte, wird in dieser Theorie als Zeichen seines Ausstiegswunsches gedeutet. Doch beim Vergleich der Aussagen stellt man fest: Der Rucksack-Wühler saß unten im Bus - die Bombe explodierte auf dem Oberdeck.

Vor allem ein Widerspruch der Druckknopf-Theorie bleibt unauflösbar: Wenn Attentäter Nr. 4 wirklich aussteigen wollte, warum zündete er dann die Bombe überhaupt noch? All dies deutet darauf hin, dass er die Explosion nicht selbst auslöste.

Ein weiterer Widerspruch: Laut ersten Untersuchungen soll es sich am 21. Juli "um eine ähnliche Sprengsatz-Konstruktion" wie am 7. Juli gehandelt haben, die Times berichtete gar, "derselbe Bastler" habe für beide Tage die Bomben zusammengebaut. Warum war die Wirkung dann aber am 21. Juli so minimal? Hatten die Trittbrettfahrer des zweiten Anschlags keine Tötungsabsicht, wie der in Rom festgenommene Hussain Osman aussagte? Oder weil in den Rucksäcken auch am 7. Juli keine Höllenmaschinen waren, sondern wie am 21. Juli nur harmlose Knallfrösche? Wurde also die mörderische Wirkung bei den Anschlägen vom 7. Juli durch Sprengsätze anderer Herkunft verursacht, mit denen die offiziell Tatverdächtigen gar nichts zu tun hatten?

Tatsächlich gibt es eine Reihe von Augenzeugenberichten, die auf Sprengsätze hindeuten, die nicht in, sondern unter den Zügen platziert worden waren. So gab der leicht verletzte Tanzlehrer Bruce Lait aus Cambridge noch vom Hospital aus zu Protokoll: "Der Polizist sagte: ›Kümmern Sie sich um das Loch, da war die Bombe‹. Das Metall war noch oben gebogen, als ob die Bombe unter dem Zug war. Die denken anscheinend, die Bombe war in einer Tasche abgestellt worden, aber ich erinnere mich an keine Tasche."

Aufschlussreich war auch der Bericht von Danny Belsten aus Manchester, der in der U-Bahn saß, die es in Edgware Road traf. Ein anderer Fahrgast habe ihn aus den Trümmern geborgen, und dann seien sie beide "durch den ersten Wagen gegangen, wo die Einstiegsluken herausgeflogen waren". Die Einstiegsluken befinden sich am Boden des Waggons und öffnen sich nach oben beziehungsweise innen. Wenn ihre Deckel herausflogen, konnte das also nur nach oben oder innen geschehen - das bedeutet, der Explosionsdruck muss von unten beziehungsweise außen gekommen sein.

Die Azetonperoxid-Theorie

Die Frage, ob die tödlichen Bomben von den Verdächtigen mit ihren Rucksäcken platziert worden sind oder von anderen Personen gebaut, gelegt und gezündet wurden, hängt auch mit der Frage des verwendeten Sprengstoffes zusammen. Die zunächst aufgetauchten Indizien über Plastiksprengstoff aus dem Balkan (s. oben) wurden schon bald von den Behörden nicht weiter verfolgt. So konnte man wenige Tage nach den Anschlägen lesen: "Forensische Fachleute haben der Times gesagt, dass die Herstellung der vier in London detonierten Sprengsätze technisch sehr anspruchsvoll gewesen war. ›Man hört immer, dass Terroristen leicht eine Bombe aufgrund von Anleitungen aus dem Internet bauen können. Man kann, aber nicht mit dem Design und der Qualität dieser Dinger... es sieht danach aus, dass der Bombenbauer ein erfahrener Experte war‹."

Die Balkan-Semtex-Spur musste verwischt werden, denn sie hätte auf die Verwicklung von Militärexperten hingedeutet, ohne die es für die Attentäter unmöglich gewesen wäre, sich das Material zu beschaffen und die Bombe zu bauen. Folglich wurde von den Ermittlern eine neue These verbreitet: Die Kids hätten sich handelsübliche Chemikalien besorgt. So lancierte Scotland Yard am 15. Juli 2005 die Theorie, die Bomben seien auf der Basis von Azetonperoxid (APEX) oder Triacetontriperoxid (TATP) hergestellt worden.

Eine höchst widersprüchliche Version. Denn APEX- beziehungsweise TATP-Mischungen sind so instabil und gefährlich, dass man mit diesem Zeug im Rucksack nicht durch halb London reist. Doch, sagte Scotland Yard, denn ein Fachmann habe das Ganze professionell zusammengebaut, der Chemiker Magdi el-Nashar. Der reiste noch vor den Anschlägen in sein Heimatland Ägypten, wurde dort verhaftet und verhört, ohne dass ihm eine Verbindung zu den vier Verdächtigen nachgewiesen werden konnte - er ist inzwischen wieder auf freiem Fuß.

Unabhängig vom verwendeten Sprengmaterial stellte sich nicht zuletzt die Frage des Zünders - unbestritten das wichtigste Teil einer Bombe. Hierzu stellte die Times am 13. Juli mit Verweis auf die forensischen Untersuchungen fest: "Die Zünder waren ›fast identisch‹ mit denen, die man in den Rucksackbomben gefunden hatte, die letztes Jahr bei den Madrider Bombenanschlägen verwendet wurden." Damals kamen die Zünder aus Bosnien-Herzegowina.

Vorabdruck eines Kapitels, um das Jürgen Elsässers Buch Wie der Dschihad nach Europa kam. Gotteskrieger und Geheimdienste auf dem Balkan in der Anfang 2006 erscheinenden französischen Fassung ergänzt wird.


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