Oskar und der Osten

Montagsdemonstration Lafontaine kommt nach Leipzig

Schon nach der ersten Ankündigung, Oskar Lafontaine werde am 30. August in Leipzig sprechen, war das Gezeter groß. "Lafontaine will nur mit der Bundesregierung abrechnen", entrüstete sich Sachsens DGB-Chef Hanjo Lucassen, der das offenbar nicht will. "Die Sachsen brauchen keine Belehrungen von jemandem, der sich 1999 aus der Verantwortung gestohlen hat", ergänzte der sächsische SPD-Chef Thomas Jurk. Keine Probleme hatte Jurk mit den Belehrungen, die sein westdeutscher Parteifreund Michael Müller, der stellvertretende Fraktionsvorsitzende im Bundestag, den Ostdeutschen gab. Mit "immer mehr Konfrontation und Spaltung im Volk" sei "keine moderne und fortschrittsorientierte Politik" möglich, wusste er. Tatsächlich: Der hochmoderne Herr Hartz konnte sich nur durchsetzen, weil Müller und andere sogenannte Parteilinke seit Jahren auf jede Konfrontation mit Kanzler und Kapital verzichten.

Andere unterstellen Lafontaine "Trittbrettfahrerei". In der Regel sind das Leute, die selbst keinerlei Probleme haben, auf Trittbrettern zu fahren, solange sie zum Luxuswaggon des Kanzlerzuges gehören und nicht an zugige Lautsprecherwagen montiert sind. Recht hat Michael Müller allerdings, wenn er es "einigermaßen komisch" findet, dass Lafontaine "ausgerechnet dort" auftritt. 1989 wäre er nämlich kaum zu einer Montagsdemonstration in Leipzig oder in andere DDR-Städte geladen worden. Die Gründe für seine damalige Unbeliebtheit sind dieselben wie für sein heutiges Comeback - seine frühzeitig Warnung vor der Wiedervereinigung, vor allem ihren sozialen Folgekosten.

So opponierte Lafontaine schon bald nach dem Mauerfall gegen jede Form von "Ko(h)lonialismus" gegenüber der DDR. Er vertrat die Ansicht, "dass der Bezug auf die gleiche Sprache, auf die gleiche Geschichte, auf die gleichen Ideen nicht notwendigerweise zu dem Schluss führen kann, dass alle, die sich dazu bekennen, in einem Nationalstaat vereinigt werden müssen". Sein Fahrplan sah eine behutsame Vereinigung vor: Zuerst müsse eine Verfassungsgebende Versammlung einberufen, dann ein neues Grundgesetz ausgearbeitet, schließlich darüber per Volksabstimmung entschieden werden. In der Wirtschaftspolitik befürwortete er eine Umkehrung der Prioritäten: zuerst Sozialunion, dann Wirtschaftsunion. Vehement wehrte er sich gegen die 1:1-Währungsumstellung, dies bedeute den Bankrott der meisten Kombinate und Massenarbeitslosigkeit. Doch das alles nützte nichts: Die einheitsbesoffene Mehrheit der Ostdeutschen glaubte an Kohls "blühende Landschaften" und strafte die SPD wegen Lafontaine ab - zuerst bei der Volkskammerwahl im März, dann bei der ersten gemeinsamen Bundestagswahl im Dezember 1990.

Mittlerweile sind viele aus Schaden klug geworden: Was beschönigend Wiedervereinigung genannt wurde, war die Liquidierung des Sozialstaates DDR und in der Folge der rapide Abbau des Sozialstaates in der Bundesrepublik. Nun gilt es, wenigstens das Schlimmste zu verhindern: den Rücksturz in Massenarmut. Einer wie Lafontaine, der - das Gegenteil eines Populisten! - schon die Wahrheit sprach, als es kaum einer hören wollte, kann dabei nur hilfreich sein.


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