Vorstoß nach Babimost

Die Bundeswehr übt das kriegerische Eingreifen Und wie aus dem Nichts eskalieren die Spannungen zwischen der Ukraine und Russland

Beim Kampf gegen den Terrorismus geht es nur um den Schutz von Freiheit und Demokratie und nicht um Geostrategie und Rohstoffe - es soll immer noch Leute geben, die dieses Märchen glauben. Demnach dient auch die jüngst in Dienst gestellte Schnelle Eingreiftruppe der NATO (NATO Reponse Force) nur diesen hehren Zielen. Doch schon die erste Stabsübung unter der Ägide von Donald Rumsfeld Anfang Oktober war nicht besonders vertrauenerweckend. Das Szenario: In einem fiktiven Nahost-Staat namens Corona haben Fundamentalisten die Macht übernommen. Um die im Lande lebenden Bürger aus westlichen Staaten zu schützen, muss die NRF eingreifen. Als die humanitären Krieger in Corona angegriffen werden, eskaliert die Situation - Rumsfeld bricht die Übung kurz vor dem Einsatz von Atomwaffen ab (s. Freitag, 43 und 44/2003). Obwohl sich damit die Unkalkulierbarkeit künftiger NRF-Einsätze zeigt, protestieren die europäischen NATO-Partner keineswegs. Vielleicht, weil Corona weit hinter der Türkei liegt, wo die Völkerschaften seit Goethes Zeiten aufeinanderschlagen, ohne dass es einen Christenmenschen sonderlich interessieren müsste.

Uranias Hilferuf

Doch St. Florian wird die Gläubigen nicht retten, wenn die NATO-Feuerwehr statt zum Spritzen zum Brandstiften ausrückt. Und: Das Bittgebet "Verschon´ mein Haus, zünd´ andre an" hilft nicht viel, wenn die anderen direkt neben dem eigenen stehen. Dass man bei der NATO nämlich auch in diesem Fall nicht zurücksteckt und dass die vermeintlichen Tauben der Bundeswehr dabei ebenso eifrig bei der Sache sind wie die Falken des Pentagon, wurde schon beim ersten richtigen Manöver der NRF Ende Oktober klar. Im Unterschied zu Rumsfelds Laptop-Szenario marschierten dieses Mal nicht nur virtuelle, sondern echte Soldaten auf, mehr als 7.000 inklusive 1.750 Panzern und anderen Fahrzeugen sowie 48 Hubschraubern. Geübt wurde in Polen, auf dem Truppenübungsplatz Drawsko südöstlich von Szczecin. Nach dem Manöver-Planspiel liegt Drawsko in einem fiktiven Staat namens Pommeria. Der eigentlich Konflikt aber braut sich im südlichen Nachbarland Urania zusammen, das 1920 von dem weiter östlich gelegenen Lopena unabhängig wurde. Letzteres, von einer tiefen wirtschaftlichen Krise heimgesucht, beginnt, Urania unter Druck zu setzen, und benutzt dazu die dort lebende lopenische Minderheit. Prompt bittet die Regierung Uranias die internationale Gemeinschaft um Hilfe.

An deren Stelle kommt wie selbstverständlich die NATO: Die NRF wird in Marsch gesetzt, um den lopenischen Stützpunkt Puma auszuschalten, weil dort - raten Sie mal - Massenvernichtungswaffen gelagert sind. Da Puma aber weit hinter den feindlichen Linien liegt, können die NATO-Luftlandeeinheiten nicht vom pommerschen Drawsko aus starten, sondern müssen zunächst den Flughafen Babimost erobern, wo zwei vom Deutsch-Niederländischen Korps geführte Divisionen auf die Streitkräfte Lopenas stoßen.

Ukrainische Truppen vor Taman

Man reibt sich die Augen: NATO-Einheiten attackieren im Manöver russische Verbände - und das über zehn Jahre nach der Auflösung des Warschauer Paktes und trotz des wortreichen Einvernehmens zwischen Washington und Moskau beim sogenannten Kampf gegen den Terror. Noch verblüffender: Trotz aller Herzlichkeiten zwischen Schröder und Putin ist die Bundeswehr am Aufbau dieser Drohkulisse nicht nur beteiligt, sondern hat sogar eine Kommandofunktion inne. Kein Wunder: Das Deutsch-Niederländische Korps, das die Heimat - im simulierten Ernstfall - vor Babimost und zuvor - im vollen Struckschen Ernst - am Hindukusch verteidigt hat, soll in der ersten Hälfte des Jahres 2005 die Führung der NRF übernehmen. Berlin und Den Haag wollen dafür jeweils 5.000 Elitesoldaten abstellen. Innerhalb von fünf Tagen sollen sie an jedem Ort der Welt zuschlagen können. Dauert der Konflikt länger, kann die gesamte NRF (21.000 Mann, mit Rotations-Reserve 140.000 Mann) zum Einsatz kommen.

Man wäre versucht, den Rückfall in die Eskalationsspielchen des Kalten Krieges einem übereifrigen Manöver-Planer im Brüsseler NATO-Hauptquartier oder auf der Hardthöhe anzulasten, gäben nicht Parallelen in der realen Welt zur höchsten Besorgnis Anlass. Fast aus heiterem Himmel standen sich nämlich just zu der Zeit, als deutsch-niederländische Verbände Urania gegen Lopena zu schützen vorgaben, tatsächlich Truppen der Ukraine und Russlands in Alarmbereitschaft gegenüber. "Nicht einmal die Anwendung von Waffengewalt scheint mehr ausgeschlossen", meldete die FAZ am 21. Oktober. Leonid Krawtschuk, der frühere Präsident der Ukraine, rief seinen Nachfolger Leonid Kutschma zum notfalls militärischen Schutz des Vaterlandes auf.

Der Anlass: Die ukrainische Halbinsel Krim trennt im Osten nur eine schmale Fahrrinne von der russischen Halbinsel Taman - der Golf von Kertsch. Mitten drin liegt die Insel Tusla, die ursprünglich eine Landzunge mit Taman verband, bis dieser Streifen 1925 nach Sprengungen und Erdbeben absackte und vom Meer überspült wurde. Daraufhin war das Eiland bereits 1941 der ukrainischen Sowjetrepublik zugeschlagen worden. Russland hat nun vor kurzem mit einem Dammbau begonnen, um eine Fahrverbindung zur Insel wiederherzustellen - den Insulanern hätte es vermutlich genützt. In Kiew witterte man dagegen Annexionsgelüste der Moskowiter, die neben der Insel auch den Rohstoffen gälten, die innerhalb der ukrainischen Hoheitsgewässer vermutet werden.

Als sich die russischen Bauarbeiter bis auf 100 Meter Tusla genähert hatten, zündeten ukrainische Grenztruppen Sprengladungen unter Wasser. In letzter Sekunde wurde der Konflikt auf Spitzenebene beigelegt. Russland sagte zu, die Konstruktion des Dammes einzustellen, die Ukraine wollte im Gegenzug ihre Truppen aus Tusla abziehen. Das eine ist geschehen, das andere nicht - eine Fortsetzung der Affäre ist nicht ausgeschlossen.

Hang zur "Mini-Sowjetunion"

Eine neue Eiszeit zwischen Moskau und Kiew könnte genau den Kräften nützen, die auch den Kriegseinsatz in Babimost geübt haben. Noch im August hatte es in einer Studie der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik - Schröders wichtigstem Think Tank - geheißen: "In der Außenpolitik hat die Ukraine eine bedeutende Wende vollzogen. Sie steht wieder eng an der Seite der USA." Parallel bot die EU dem Land eine "stufenweise Verdichtung der Beziehungen" an. Im September kam dann eine jähe Wende: Präsident Kutschma schloss mit seinen Amtskollegen aus Russland, Belarus und Kasachstan ein Abkommen über einen Einheitlichen Wirtschaftsraum (EWR) - für die Konrad-Adenauer-Stiftung nichts anderes als eine "Mini-Sowjetunion". EU-Ostkommissar Günter Verheugen drohte der Ukraine, dass die Schaffung einer Zollunion mit den slawischen Nachbarn "die Beziehungen zur EU ernsthaft belaste". Anfang Oktober ging Kutschma sogar noch einen Schritt weiter: Er gestattete Russland, die stillgelegte Pipeline Odessa-Brody für die Lieferung von Öl in den Mittelmeerraum instand zu setzen. Ursprünglich hatten westliche Firmen dieselbe Trasse nutzen wollen, um die Ölvorräte am Kaspischen Meer zu erschließen. Plötzlich sah es so aus, als ob der russisch Konzern Gasprom das Geschäft macht.

Das "hat in der EU gar keine Freude ausgelöst", vermerkte daraufhin die Neue Zürcher Zeitung. Kurz darauf verleitete der NATO-Vorstoß auf Babimost ukrainische und russische Hitzköpfe zur Eskalation in der Tusla-Krise - die einen fühlten sich durch den Atlantikpakt ermuntert, die anderen bedroht.


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