Als ich 20 Jahre alt war, habe ich 2013 beim Unternehmen Azot in Grodno angefangen, einer Stadt in Weißrussland, gelegen an der Memel, nahe dem Dreiländereck mit Polen und Litauen. Grodno ist der Verwaltungssitz der umliegenden Region. Bei Azot handelt es sich um ein großes Chemiewerk mit etwa 10.000 Mitarbeiten, die mehrere Produktionsstrecken bedienen und neben vielen anderen Erzeugnissen Stickstoffverbindungen, vor allem Düngemittel, herstellen. Im Schnitt verdient man in diesem Unternehmen umgerechnet 300 Euro im Monat.
Immerhin konnte ich eine Dienstwohnung in einem Heim des Werkes beziehen, das bei landesweiten Abstimmungen als Wahllokal genutzt wurde. Das heißt, dort ließ sich teilweise direkt miterleben, wie Wahlen gefälscht wurden, und zwar nicht erst bei der Stimmabgabe für einen künftigen Präsidenten oder eine Präsidentin am 9. August, schon bei der Parlamentswahl am 17. November 2019. Die Leiterin meines Wohnheims war Mitglied der Wahlkommission und rief alle Bewohner dazu auf, sich an dem jeweiligen Urnengang zu beteiligen. Ich ging zwar ins Wahllokal, aber nicht, um dort meine Stimme abzugeben. Warum sollte ich die weißrussische Staatsmacht auch noch legitimieren?
Vor der jüngsten Präsidentenwahl stellte ich den Antrag, Mitglied der Wahlkommission zu werden, gehörte aber nicht zu den zwölf Kandidaten, die das Werk offiziell nominiert hatte. Ich war auf der Liste die Nr. 13 und wurde als einziger abgelehnt, obwohl nach dem Gesetz bis zu 19 Mitglieder einer solchen Wahlkommission zulässig sind.
79 Prozent reichen nicht
Doch ich gab nicht auf und wollte mich für das Wahllokal, das sich direkt im Wohnheim befand, als Wahlbeobachter registrieren lassen. Wieder wurde ich daran gehindert, diesmal durch den Bescheid, dass nur fünf Beobachter zugelassen seien – und ich auf Platz sechs liegen würde. Die anderen fünf waren Mitarbeiter der Werksverwaltung und daher vom Unternehmen Grodno AZOT komplett abhängig. Umso mehr sagte ich mir, nichts wird dich daran hindern, die Abstimmung genau zu verfolgen. Ich konnte jeden Wähler und die Wahlurne durch die Glastür aus dem Foyer heraus beobachten. Für den Wahltag am 9. August hatten die Menschen zwei Zeichen vereinbart, um zu zeigen, dass sie für Swetlana Tichanowskaja stimmen wollten: Entweder trugen sie eine weiße Armbinde oder sie falteten ihren Wahlzettel demonstrativ zu einer Ziehharmonika aus Papier. Und so zählte ich von meinem Beobachtungspunkt an der Glastür 275 Stimmen für Tichanowskaja. Verkündet wurde hingegen, dass in unserem Wohnheim von 1.060 Wahlberechtigten 207 für Tichanowskaja und 583 für Lukaschenko gestimmt hätten. Schließlich stand unter dem Protokoll über die Stimmenauszählung die Unterschrift eines Mitglieds der Wahlkommission, das am 9. August gar nicht im Wahllokal gewesen war. Damals haben wir einfach nur laut gelacht, doch blieb uns das Lachen im Halse stecken, als wir in die Stadt fuhren, um gegen manipulierte Wahlergebnisse zu protestieren. Überall standen die Einsatzwagen der OMON-Sonderpolizei, die jede Ansammlung von Menschen sofort auflöste. Und auch an den folgenden Abenden nicht anders verfuhr. Dabei erwiesen sich die Behörden als skrupellos genug, das Wahlergebnis auf dem Weg von einer Ebene zur nächsthöheren zugunsten Lukaschenkos nach oben zu korrigieren. So lag für den Bezirk Grodno das zunächst gemeldete Resultat ursprünglich bei 79 Prozent für Lukaschenko. Offenkundig kam aus Minsk die Ansage, das reiche nicht. Und so wurden aus den 79 plötzlich 92 Prozent – einfach nur lächerlich.
Spur aus Sand
Bis zur Präsidentenwahl hatten wir im Betrieb eine offizielle Gewerkschaft, die vom Staat kontrolliert wurde. Deren nationaler Vorsitzender war der Chef eines Bürgerkomitees, das die Kandidatur von Alexander Lukaschenko für das Votum vom 9. August befürwortet hatte. Da er dies öffentlich und im Namen aller Mitglieder tat, kam es zu vielen Austritten aus dieser Gewerkschaft, was bis heute anhält. Die einzige unabhängige Gewerkschaft unseres Unternehmens, der ich mich angeschlossen hatte, zählte lange Zeit nur um die 20 Mitglieder, sodass die Beiträge gerade ausreichten, um die Miete für das Büro im Werk zu bezahlen. Über Jahre sah es danach aus, als würde sich daran nicht viel ändern.
Nach dem 9. August jedoch mussten wir auf einmal eine beträchtliche Anzahl neuer Mitglieder aufnehmen und koordinieren. Bei soviel Rückhalt wurde damit begonnen, ein Streikkomitee zu gründen. Das bedeutete, jede Abteilung wählte zwei bis drei Vertreter, mit denen wir uns im Festsaal des Werks beraten konnten. Durch unsere Gewerkschaft kam es zu keinerlei Drohungen, denn soviel war klar: In einem Chemiewerk von diesen Dimensionen können wir keine Risiken eingehen. Keiner der hier ablaufenden technologischen Prozesse durfte aus dem Ruder laufen. Wir verarbeiten schließlich gefährliche Stoffe wie Ammoniakverbindungen und andere Chemikalien. Natürlich wurde die Direktion durch unsere Absichten in erhebliche Unruhe versetzt. Sie teilte auf der Homepage von AZOT mit, dass bei einem Streik mit einer Umweltkatastrophe zu rechnen sei.
Gleichzeitig wurde der Zugang zum Werk für über 1.500 Mitarbeiter gesperrt, die in der Produktion nicht unbedingt gebraucht wurden. Kurz darauf – es muss so um den 15. August herum gewesen sein – erklärte die Werksleitung von sich aus, dass sie die Gehälter um zehn Prozent erhöhen wolle. Ein paar Tage später wurden Prämien für das Jahr 2019 ausgezahlt, woraus sich erkennen ließ, dass die Stimmung im Betrieb unter allen Umständen beruhigt werden sollte. Allerdings fielen die Prämien dann viel niedriger aus, als wir das erwarteten.
Da ich diese Entwicklungen mit ins Rollen gebracht hatte, musste ich mich mehr engagieren als gewohnt, obwohl mir viele Kollegen nicht persönlich bekannt waren. Man muss dazu wissen, AZOT ist ein gigantischer Betrieb und verfügt über Dutzende von Produktionslinien. Insofern dauerte es seine Zeit, bis wir die nötigen Vorbereitungen für einen Streik treffen konnten.
Parallel dazu verhandelte ein Komitee aus Vertretern der Intelligenzija und politischen Aktivisten mit der Stadtverwaltung von Grodno. Sie vereinbarten, dass Kundgebungen stattfinden können, ohne behindert zu werden, und dass die politischen Gefangenen freigelassen werden. Freilich saß kein Gesandter aus den Industriebetrieben mit am Tisch, was vielleicht ein Fehler war. Dennoch verwandelte sich unsere Stadt an den Abenden danach in eine beeindruckende Festmeile. Tausende zogen durch die Straßen zum Leninplatz. Es erschien kaum vorstellbar, dass es keine Verhaftungen mehr gab. Jeden Tag versammelten wir uns gegen 17 Uhr – wie die Arbeiter anderer Betriebe – vor den Werktoren und zogen in Richtung Zentrum. Wer dort ankam, wurde mit Jubel empfangen. Leider blieb es nicht dabei, obwohl wir uns mit einem möglichen Produktionsstopp Respekt verschafft hatten und ein wirkliches Druckmittel in der Hand hielten. Auf Betreiben der Führung in Minsk wurde die mit unserer Stadt getroffene Vereinbarung wieder aufgekündigt, und es kamen weniger Menschen zu den Kundgebungen.
Auch für mich hatte das Konsequenzen. Eines Abends klopfte jemand an die Tür meiner Wohnung im Werksheim. Wahrscheinlich geschah das nicht ganz zufällig, denn für den nächsten Tag hatte Alexander Lukaschenko einen Besuch in Grodno angekündigt, um eine Grundsatzrede zu halten. Ich ahnte, dass etwas Unangenehmes passieren könnte. Jedenfalls stand die Heimverwalterin allein vor meiner Tür und zitterte vor Aufregung. „Da ist Sand verstreut, und die Spur führt zu deiner Wohnung, du musst das umgehend beseitigen“, verlangte sie von mir. Gleich danach erfuhr ich von fürsorglichen Mitbewohnern, dass Sicherheitskräfte unten an der Treppe neben dem Notausgang auf mich warteten und die Verwalterin darum gebeten hatten, mich auf diese Weise nach unten zu locken. Über Telegram gab ich meinen Kollegen Bescheid, packte meine Sachen und suchte ein sicheres Versteck für mein Telefon. Etwa 20 Heimbewohner halfen, mich unbemerkt aus dem Haus zu schleusen. In der Stadt wurde ich von einem privaten Auto ins nächste gesteckt, bis alle das Gefühl hatten, ich sei nun in Sicherheit.
Da zuletzt viele Aktivisten in Belarus gezielt verhaftet wurden, entschloss ich mich, in Polen Zuflucht zu suchen und um Asyl zu bitten. Wenige Tage, nachdem ich das Werksheim verlassen hatte, wurde ich über die Grenze gebracht. In Polen haben mir hauptsächlich Gewerkschafter aus Solidarność-Zeiten beigestanden. Ältere Herren klopften mir auf die Schultern und meinten: „Wir wissen, wie das ist, wir können uns noch gut erinnern.“ Inzwischen hat mir jemand mein Telefon aus Belarus über die Grenze geschmuggelt, so dass ich wieder Kontakt mit unseren Jungs habe. Wir müssen Solidarität noch mal ganz neu erlernen. Es ist nicht so, dass sich im Notfall jeder auf jeden verlassen kann. Dieses gegenseitige Vertrauen kennen wir nicht, weil uns die zurückliegenden Jahre zutiefst atomisiert haben. Auch bei uns im Chemiewerk war das kaum anders.
Inzwischen sind auch meine Frau und die sieben Monate alte Tochter bei mir in Warschau. In Grodno selbst geht es jetzt um einen Gesellschaftsvertrag mit der Werksleitung. Denn es steht viel auf dem Spiel.
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Aufgezeichnet von Felix Ackermann
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