11. September 2001: Beginn einer Krise

12 Jahre Krieg. Der 11. September, NSA-Ausspähpraxis und politische Prioritäten: Versuch einer amerikanischen Binnenperspektive.

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Um zu verstehen, warum nicht eine Mehrheit der Amerikaner die wahllose Speicherung von Telekommunikationsdaten und die intransparente Verwendung dieser Daten glasklar ablehnt, lohnt sich ein Blick zwölf Jahre zurück:

Wenn diese Angriffe das zweite Pearl Harbour waren, wird mehr erforderlich sein als ein zweiter Doolittle-Angriff, um diesen Krieg zu gewinnen,

schrieb Wesley Clark, vormaliger NATO-Kommandeur in Europa, am 15. September 2001 in einem Kommentar für den "Guardian".

Aber wir sollten jenen Anblick Manhattans im Gedächtnis behalten, und jenen beim Pentagon, am Morgen des 11. September, und den Beschluss fassen, dass dies niemals wieder passieren soll. Diesen Beschluss sollten wir bei jeder Unannehmlichkeit auf einem Flughafen und bei jeder Behinderung unserer Aktivitäten erneuern.

Auch auf die Telekommunikation ging Clark damals ein; allerdings in einem Zusammenhang mit Flughäfen, Energiedienstleistern und öffentlichen Einrichtungen - es ging ihm offenbar darum, solche Einrichtungen im Fall großer Anschläge oder Angriffe funktionsfähig zu erhalten.

Dass Clark allerdings auch ein berechtigtes - oder jedenfalls nicht skandalträchtiges - Interesse des Staates und der "Sicherheits"-Industrie an den Telekommunikationsdaten am Werk sieht, machte spätestens seine Reaktion auf Edward Snowdens Leaks im Jahr 2013 deutlich: Ich glaube nicht, dass die Leute wegen Snowden aufhören werden, das Internet oder ihre Mobiltelefone zu benutzen, zitierte ihn "CNN" am 30. Juni. Die meisten Leute wissen, dass dies [die NSA-Aktivitäten] die ganze Zeit stattfand.

Eine Mehrheit von Befragten (56 Prozent) in einer Pew-Umfrage sah das Anfang Juni offenbar noch ganz ähnlich. Nur rund zehn Tage später allerdings wollte Pew auch herausgefunden haben, das 60 Prozent jüngerer Befragter Snowden "unterstützten" - auch wenn sie sich in Interviews nicht überrascht davon gaben, dass die NSA in der beschriebenen Weise aktiv sei.

So umstritten Snowdens Rolle in den Enthüllungen auch bleibt: 56 Prozent der von Pew nochmals einige Tage später - im Juli - Befragten waren (mittlerweile) der Ansicht, dass Bundesgerichte den Datensammlungen keine hinreichenden Schranken setzten, und sogar 70 Prozent waren der Überzeugung, dass die Regierung diese Daten keineswegs nur zur Terrorbekämpfung verwende.

Gleichwohl waren 50 Prozent der Befragten grundsätzlich immer noch einverstanden mit den Datenspeicherungen an sich, während 44 Prozent grundsätzlich dagegen waren. Das US-Repräsentantenhaus, befand "People-Press", habe damit recht spiegelbildlich zur öffentlichen Meinung abgestimmt, als es am 24. Juli mit knapper Mehrheit einen Änderungsantrag zum Ziel einer Reduzierung der NSA-Telefonüberwachung ablehnte. Generell seien mehr Demokraten als Republikaner für die Überwachung, so "People-Press", aber immerhin 36 Prozent unter Demokraten und 50 Prozent unter Republikanern lehnten die Programme ab.

Amerika befindet sich in der Tat in einem Krieg, hatte Clark im September 2001 geschrieben. Zu einem Krieg gehört Geschlossenheit - so will es die Tradition. Schwierig zu erreichen ist eine solche Geschlossenheit allerdings, wenn sich die Verdächtigungen auch gegen unbescholtene Bürgerinnen und Bürger des eigenen Landes richten - und das keineswegs "nur" gegen eine ethnische Minderheit, wie zum Beispiel gegen Amerikaner japanischer Abstammung während des zweiten Weltkriegs, sondern gegen alle.

Auch wenn Clark in seinem Krieg nicht nachlassen will: mit Wutreden gegen Snowden wird er diejenigen, die auf ihre tagtäglichen Beobachter mittlerweile kritisch aufmerksam geworden sind, nicht überzeugen können. Nach zwölf Jahren erstklassiger Konjunktur für alles, was sich "Wach- und Schließgesellschaft" nennt, setzt dieser Höhenflug jetzt möglicherweise zu einer sanften Landung an. Denn wenn es stimmt, dass vor allem jüngere Amerikaner zur Opposition gehören, deutet sich fast zwangsläufig eine Trendwende an. Anders als Deutschland sind die USA trotz letzthin fallender Geburtenraten immer noch ein vergleichsweise "junges" Land, mit einer Nettoeinwanderungsrate von 4,32/1000 (2010), verglichen mit einer deutschen Quote von 0,89/1000 (2013).

Auch diese Situation werden Clark und die meisten Homeland-Defenders noch aus Vor-9-11-Zeiten kennen. Für sie hat die Überzeugungsarbeit bereits jetzt von neuem begonnen, auch wenn sie mit ihrem Bildungswerk nicht gerade auf jenem Tiefpunkt anfangen müssen, an dem der Verteidigungsexperte Frank Gaffney sich und seine Gesinnungsgenossen in einem BBC-Interview am 11. September 2001 sah*):

I'm in the business of trying to educate the American people about the nature of the world, and I must tell you that I have been saying it, and more important individuals than I - the president, our government, I think, have been talking about it, certainly under the present [George W. Bush] administration - for some time. I don't think it sunk in. I think the general sense that America was superior to any other power in the world and than any combination of powers caused many Americans to indulge in a delusion. And I'm afraid that some in high office probably encouraged that delusion, by talking exclusively about domestic priorities and how there wasn't really the danger that need to be addressed by military readiness and so on [...].

Bill Clinton verdankte das Land seinerzeit eine gute Konjunktur (soviel sich über die Verteilung der Ergebnisse auch streiten ließ). Gaffney brachte im BBC-Interview eine häufige republikanische Kritik an den Vorgängern der Bush-Administration an, welcher Clinton in einem "Foxnews"-Interview - ein halbes Jahrzehnt später - energisch widersprach.

Es ist eine "patriotische" Dauerkritik jener Art, die Obama sich als Präsident, im Falle eines neuen Anschlags, sicherlich nicht gefallen lassen möchte. Aber anders als bei seiner sozialpolitischen Agenda während seiner ersten Amtsperiode könnte er die Republikaner sicherheitspolitisch beim Wort nehmen, die mit "big government" - auch im bürgerrechtlichen Sinne - zwar kein Problem hatten, als George W. Bush regierte, wohl aber, als ein Demokrat Bush beerbte und im Wesentlichen das Gleiche tat wie sein republikanischer Vorgänger.

Man wolle das richtige Gleichgewicht zwischen Sicherheit und unseren Freiheiten finden, erklärte Obama auf einer Pressekonferenz am Freitag. Er vertraue den Programmen, ließ er verlauten, aber

es genügt mir nicht, dass ich als Präsident Vertrauen in diese Programme habe. Auch das amerikanische Volk muss Vertrauen in sie haben. Darum habe ich während der letzten Wochen Kongressmitglieder konsultiert, welche die Sache aus vielen verschiedenen Blickwinkeln sehen.

Man wolle hinsichtlich der Telefonüberwachung transparenter werden, einige zusätzliche Änderungen beim aufsichtführenden Foreign Intelligence Surveillance Court vornehmen, bisher geheime Informationen über die NSA öffentlich zugänglich machen und nichtinvolvierte Experten für eine umfassende Bewertung der angewandten Techniken und Optionen berufen.

Über den Anlass zu solchen vertrauensbildenden Maßnahmen sagte Obama in seinen Bemerkungen allerdings nichts - im Gegenteil: unglücklicherweise hätten wiederholte Leaks die Debatte in einer sehr leidenschaftlichen, aber nicht immer kundigen Art und Weise eingeleitet. Das hörte sich so an, als habe Obama schon lange geplant, sich seine Geheimdienste gerade im Juli und August 2013 einmal genauer anzusehen und darüber mit dem Kongress Gespräche zu führen.

Einer der Reporter, Chuck Todd, wollte es genauer wissen: ob Obama seine Ansichten über Snowden geändert habe, auf dessen Leaks doch immerhin die angekündigten Reformen basierten? Ob er nicht doch ein Patriot sei?

Nach einem (vermutbaren) windelweichen Versuch, Todd mit der Geschäftsordnung abzubügeln, sah sich Obama zu einer Antwort genötigt:

Nein, ich finde nicht, dass Mr. Snowden ein Patriot war. Wie ich in meinen Eröffnungsbemerkungen sagte, habe ich eine gründliche Bewertung unserer Überwachungsabläufe angeordnet, bevor Mr. Snowden diese Leaks veröffentlichte.

Snowden würden drei Straftaten vorgeworfen, so Obama. Wenn Snowden glaube, dass er recht gehandelt habe, kann er hierherkommen, mit einem Anwalt vor Gericht erscheinen und Argumente liefern.

Und wenn Snowden besorgt gewesen sei, seine Informationen nur auf dem von ihm gewählten Weg öffentlich machen zu können: er, Obama, habe ja schon lange zuvor als erster Präsident überhaupt eine Verfügung unterzeichnet, die Whistleblower schütze.

Obamas Schwerpunkt - das drängt sich außerhalb Amerikas vielleicht nicht so auf - liegt mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht in der Außen- oder Sicherheits-, sondern in der Wirtschafts- und Sozialpolitik - in etwa den Prioritäten, für die Gaffney am 11. September 2001 die Clinton-Administration kritisiert hatte. Vom "Krieg" der Neokonservativen mag sich Obama aber nicht distanzieren; schon gar nicht, wenn das für seine innenpolitischen Ziele Verluste mit sich bringt.

Das erste Opfer, wenn der Krieg kommt, ist die Wahrheit, soll Hiram Johnson, ein US-Senator aus Kalifornien, Anfang des vorigen Jahrhunderts gesagt haben. Und Michael Clark, Direktor der Abteilung für Verteidigungsstudien am Londoner King's College, vermutete am 11. September 2001, die Täter wollten möglicherweise Rache an Amerika nehmen, möglicherweise aber auch eine erstaunliche amerikanische Reaktion ("an astonishing American reaction") hervorbringen*). Jedenfalls sei dies nicht nur ein Terrorangriff gewesen, sondern der Beginn einer Krise.

Nur einen Teil der amerikanischen Reaktion - die Art und Weise des Irakkriegs - bezeichnete Obama 2002 als "dumm". Und der Rest seiner damaligen Rede zeigt: eine kohärente Außen- und Sicherheitspolitik konnte es während der ersten vier Jahre seiner Regierung kaum geben. Diese Krise ist auch nach zwölf Jahren noch nicht zu Ende. Und die Überwindung der sieben Jahre später offen ausgebrochenen Finanzkrise behält für seine Administration Vorrang.

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Note

*) Die verlinkten Tondateien sind herunterladbar und bleiben für ca. 10 Tage verfügbar.

Versuche, weit über den nationalen Tellerrand zu gucken und auf dem Weg wieder nach Hause zu kommen.

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Destruction or Development, 15.03.10

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Ich bin ein Transatlantiker (NAFO)

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