4. Juni 1989: Stein, der nicht verrotten will

Für immer im Exil. Am 4. Juni jährt sich zum 24. Mal die Niederschlagung der chinesischen Studentenbewegung von 1989.

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Der Platz des Himmlischen Friedens hat für China - nicht nur für die Hauptstadt Beijing selbst - mindestens die gleiche Bedeutung wie der Alexanderplatz für Berlin. Auf 440.000 Quadratmetern bietet der Platz des Himmlischen Friedens einschlägiger Touristeninfo zufolge Platz für eine Million Menschen. Und so wurde er auch immer wieder genutzt: für von der KP Chinas angeordnete Aufmärsche, zum Beispiel bei der Ausrufung der Volksrepublik China durch Mao Zedong am 1. Oktober 1949, bei der Trauerrede Hua Guofengs 1976 auf seinen Vorgänger Mao, oder bei den Militärparaden zu den 35., 50. und 60. Jahrestag der Ausrufung der Volksrepublik (also zuletzt 2009).

1997 feierte dort eine begrenzte Anzahl von Menschen die Rückgabe Hong Kongs an die VR China.

Diese Begrenzung hatte damals vermutbare Gründe: acht Jahre und vier Wochen zuvor hatten chinesische Polizei- und Armeetruppen gewaltsam eine Studentenbewegung beendet, deren öffentliches Zentrum ebenfalls der Platz des Himmlischen Friedens gewesen war. Zu spontan sollten die Feierlichkeiten 1997, zur Rückkehr Hong Kongs, nicht ausfallen.

Seit 1911 war der Platz des Himmlischen Friedens immer wieder auch eine Bühne für Demonstrationen gewesen, die in den Drehbüchern der Machthaber nicht vorgesehen gewesen war. Die erste davon war wohl die Bewegung des 4. Mai, ein Protest, deren unmittelbarer Auslöser 1919 die Tatsache war, dass deutsche Besitzungen in der ostchinesischen Provinz Shandong nach dem ersten Weltkrieg nicht an China, sondern an Japan übergeben wurden. Chinesische Intellektuelle hatten begonnen, ihr Land nicht nur als eine Zivilisation, sondern als eine Nation wahrzunehmen, die mit anderen interagierte und dabei international regelmäßig ins Hintertreffen geriet. 1919 wurde nicht gefeiert, sondern protestiert.

Die Bewegung des 4. Mai gilt heute in China als ein kanonisches Ereignis - die KP-Geschichtsschreibung ordnet sie als Beginn fortschrittlicher Prozesse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein, die der Machtübernahme der KP Chinas vorausgingen. Aber selbst Hua Guofengs Trauerrede auf Mao Zedong im September 1976 waren Monate zuvor, im April, Trauerkundgebungen für den drei Monate zuvor verstorbenen Chef des Staatsrates Zhou Enlai vorausgegangen - Trauerkundgebungen, die mindestens von den radikaleren Gefolgsleuten des sterbenden Mao Zedong als Affront aufgefasst wurden.

Persönliche Eindrücke von jenem 1976er "Tian An Men Zwischenfall" waren für den späteren Dissidenten Wu Renhua offenbar der Auslöser dafür, im April 1989 den soeben verstorbenen früheren Generalsekretär der KP Chinas, Hu Yaobang, mit einem Kranz auf dem Platz des Himmlischen Friedens zu ehren. Mehrere Punkte daran sind bemerkenswert.

Zum einen war Hu Yaobang zum Zeitpunkt seines Todes längst gestürzt. Die Parteispitze hatte ihn offenbar für zu reformfreudig befunden. Ehrungen für Hu aus der Bevölkerung konnten also von der Parteispitze - wie schon der 1976er "Zwischenfall" - als Affront gewertet werden. Vielfach war das auch der Fall, obwohl es über sechs Wochen dauerte, bis die KP Chinas die Intellektuellen- und Studentenbewegung, von der Wu Renhua 1989 ein Teil war, gewaltsam beendete.

Zum anderen ging die 1989er Bewegung über ihr möglicherweise ursprüngliches Motiv - Respekt für Hu Yaobang - längst weit hinaus. Über Anti-Korruptions-Proteste hatte sie sich zu einer Bewegung für Demokratie entwickelt.

Und schließlich war Wu Renhua, ein damals etwa dreiunddreißigjähriger Dozent an der China University of Political Science and Law in Beijing, zwar Teil der Bewegung, aber er begleitete sie eigenen Angaben nach und war nicht unter denen, die sie aktiv vorantrieben. Sein eigentlicher Konfrontationskurs zur KP Chinas begann erst nach dem Massaker - einer Schandtat, die er den politischen Führern seines Landes offenbar nicht zugetraut hatte.

Und auch wenn die University of Political Science and Law in der Bewegung von 1989 eine wichtige Rolle spielte: die Führungsrolle kam der Tradition gemäß der Beijing University, im Chinesischen kurz als Beida bezeichnet, zu.

Rivalitäten unter den damaligen Dissidenten - und mutmaßlichen Trittbrettfahrern - dauern bis heute an. Häufig sind sie eher persönlich als politisch gefärbt, begleitet von Unterstellungen, X mache sich über Gebühr wichtig, Y sei ein Kollaborateur, und Z sei falun-gong-gesteuert und wirke irgendwie unberechenbar oder gefährlich.

Der 4. Juni 1989 - tatsächlich begann die Niederschlagung der Bewegung bereits am 3. Juni - ist in der chinesischen Geschichte zu einem ungelösten Komplex geworden. Wer 1989 - wo auch immer in einer hauptsächlichen chinesischen Städte - an einer Universität studierte, kennt diesen Komplex. "Ja, sicher", meinte eine Shanghaierin, als ich sie Anfang der 1990er darauf ansprach. "wir alle haben demonstriert." Für sie selbst allerdings war die Angelegenheit mit dem Ende der Bewegung - vorgeblich jedenfals - erledigt. Viele nach 1989 geborene Chinesen wissen kaum, dass es eine solche Bewegung gab. Und unter denen, die sich heute noch erinnern, bewerten manche die Niederschlagung der Bewegung geradezu als Glücksfall - die einen darunter, weil sie den damaligen Studenten im Rückblick nicht viel politisches Vermögen zutrauten, die anderen, weil damit ein ausländisches Komplott gegen Chinas nationale Stabilität und Aufstieg vereitelt worden sei.

Spätestens 2008 hatte sich ein Trend, der bis dahin vielfach mit Respekt insbesondere auf die westlichen Demokratien schaute, deutlich gedreht. Dabei spielte sicherlich das vielfach negative ausländische Echo auf die olympischen Spiele in Beijing (welches selektiv, aber ausführlich von den chinesischen Medien wiedergegeben wurde) eine Rolle. Einige Chinesen in Deutschland organisierten gar einen Schweigeprotest gegen die voreingenommenen deutschen Medien, welche ihre patriotischen Botschaften nicht beachtet und ihnen damit eine Art Maulkorb verpasst hätten. Hinzu kam "der Fall der Mächtigen" mit der Finanzkrise im selben Jahr. Chinas Wachstumsphase war auch mit der globalen Krise nicht beendet; dank staatlicher "Stimulus-Programme", welche die sinkende Nachfrage westlicher Importeure ausgleichen sollten, wuchs die seit Jahrzehnten exportorientierte chinesische Wirtschaft noch mehrere Jahre scheinbar unbeeindruckt weiter. Kritik aus dem Ausland, so wurde der chinesischen Öffentlichkeit effektiv - und nicht selten sicher auch zu Recht - vermittelt, sei von Neid motiviert. Eine Autorin des "Guardian" schrieb 2009, dem 20. Jahrestag der Niederschlagung der 1989er Bewegung, die Ideen, die 1989 so leidenschaftlich diskutiert wurden, seien dem trotzigen Nationalismus der neuen Generationen gewichen.

1990 veröffentlichte der chinesische Exildichter Yang Lian ein Gedicht (die deutsche Veröffentlichung als Übersetzung von Wolfgang Kubin), mit der scheinbaren Aufforderung zum Vergessen - und einem Ausdruck der Unmöglichkeit des Vergessens:

Um so mehr dunkelt der Himmel, du sagst, das
Boot sei alt
die Orkane, die es lebenslang trug, sind längst fort,
es ist an uns, das Ich zu löschen, laß das
Steinboot verrotten1)
[...]

Welche Rolle spielen die 1989er Dissidenten heute? Lt. C. A. Yeung, einer australischen Bloggerin und Menschenrechtsaktivistin, kaum noch eine. Vor allem Auslandsdissidenten wirken für viele Inlandsaktivisten aus der Zeit gefallen. Das dürfte auch für Wei Jingsheng gelten, einem Exilchinesen, der heute in Washington D.C. lebt.

Wei gehörte nicht zur 1989er Bewegung. Damals war er schon seit zehn Jahren ein politischer Häftling. Erst 1993 wurde er entlassen, bald darauf erneut verhaftet, und seit 1997 ist er in Amerika.

Zu einem Dissidenten, der sich auch in jahrelanger Haft nicht zu "Geständnissen" oder auch nur Zugeständnissen an die Behörden bereitfindet, gehört eine starke - und manchmal sicherlich auch rechthaberische - Persönlichkeit. Ausländische "Einmischung in Chinas innere Angelegenheiten" ist aus Sicht vieler Dissidenten kein Sakrileg, sondern eine Notwendigkeit. Solche "fremden Einmischungen" schaffen für offene Dissidenten in totalitären Staaten zwar keine echten Lebensräume, aber doch immerhin gelegentlich Überlebensräume. Insofern war es auch nur folgerichtig, wenn Wei sich am 18. Dezember 2008 in einer Kontroverse um die angebliche KP-Nähe der China-Abteilung des deutschen Auslandssenders "Deutsche Welle" an einer diesbezüglichen Anhörung des Kultur- und Medienausschusses des Deutschen Bundestages beteiligte: die Mitarbeiter und das Programm sollten als Grundprinzip die Menschenrechte und Demokratie verteidigen und promoten.

Dabei habe sich herausgestellt, dass Wei die Inhalte der DW-Programme überhaupt nicht kenne, spottete im Dezember 2008 die chinesische Nachrichtenagentur "Xinhua". Wei focht das nicht an: er habe schließlich bereits vor dem Hearing gesagt, dass er sich die Sendungen der DW-Chinesischsendungen nicht anhöre, die "im Namen der KP Chinas" sprächen.

So kleinlich und am Rande der Bedeutungslosigkeit Auftritte wie Wei Jingshengs auch aussehen mögen: noch 2002 traute der niederländische Autor und Exilbeobachter Ian Buruma den in Washington D.C. vernetzten chinesischen Dissidenten eine potenziell große Rolle zu. Würden die Dinge in China einmal in Fluss geraten. könnten Exil-Organisationen wie Human Rights in China entscheidend sein:

"Sagen wir, es gibt plötzlich Risse in der chinesischen Regierung, und die Dinge ereignen sich ziemlich schnell. Alles mögliche passiert. Und dann kann es sein, das plötzlich Leute gebraucht werden, die sich in Washington auskennen, die wissen, welche Hebel man betätigen muss, und die Kontakte im Kongress haben, undsoweiter. Das passierte zum Beispiel im Fall Taiwans - die Dissidenten hingen hingen herum, dümpelten vor sich hin, wurden für irrelevant gehalten, bis sich die Dinge in Taiwan politisch änderten, und auf einmal waren sie wichtig."2)

Möglicherweise aber werden Dissidenten wie Wei oder die Dissidenten des 4. Juni in einem solchen - chinesischen - Fall eher eine Rolle spielen, die der ostdeutsche Exilant Wolf Biermann schon Jahre vor dem Fall der Mauer für sich vorausahnte: gelegentlich vielleicht anfeuernd oder beratend, aber kaum maßgeblich.

Anders sieht es mit der 1989er Bewegung an sich, als geschichtlichem Ereignis, aus: sie wird von der KP Chinas weder direkt verdammt noch überhaupt bewertet - man geht dem Thema gänzlich aus dem Weg.

In Hong Kong hingegen ist der 4. Juni nicht nur unvergessen - immerhin schockte er die dortige Öffentlichkeit acht Jahre vor der vereinbarten Rückgabe der seinerzeit britischen Kronkolonie an China -; er ist auch Teil der Hong Konger Überlieferung. Für viele Hong Konger Aktivisten, die sich für eine Ausweitung demokratischer Rechte der Hong Konger selbst einsetzen, ist die Verbundenheit mit festlandchinesischen Dissidenten Teil ihres Selbstverständnisses.

Und 1995 kommentierte Deng Xiaopings Tochter Deng Rong - in einem Interview mit der New York Times - die 1989er Bewegung so:

Das wird von denen entschieden werden müssen, die nachher kommen. Ich kann unmöglich wissen, wie sie darüber denken. Doch mein Vater glaubte zumindest in seinem Herzen daran, daß er keine andere Alternative hatte, als so zu handeln.


Die bisher einzige amtliche Bewertung: Deng Xiaoping verteidigt am 9. Juni 1989 sein Reformprogramm aus politischer Repression und ökonomischer Öffnung. Eine englische Übersetzung hier.

Bis zum Beginn einer Bewertung der Studentenbewegung von 1989 kann es noch Jahre dauern, oder aber auch nur wenige Monate. Eine Bewertung kann von der KP Chinas ausgehen, wenn diese sich stark genug dafür fühlt. Sie kann aber auch von Bürgerinnen und Bürgern ausgehen, wenn die Stellung der KP schwächer werden sollte.

NIemand in China oder außerhalb Chinas hat einen Überblick, was über die Bewegung gedacht wird. Viele Chinesen werden das vermutlich auch bei sich selbst erst dann entdecken, wenn es - langsam oder plötzlich, kontrolliert oder in einer spontanen Welle - von einem verschütteten zu einem öffentlichen Thema wird.
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Anmerkungen

1) Yang Lian: Alte Geschichten (I-IV), Der einzige Hafen des Sommers, aus: Masken und Krokodile, Berlin, Weimar 1994, zitiert/verwendet bei Joachim Sartorius (Hrsg): Atlas der Neuen Poesie, Reinbek, 1996, S. 67.
天空更加阴暗 你说 这船老了
一生运载的风暴都已走远
该卸下自己了 让石头船舷去腐烂
夏季 是惟一的港口

2) "Let’s say there are suddenly serious splits in the Chinese government. Things start to move rather quickly. All kinds of things are going to happen. And then, it can be that you suddenly need people who know how to operate in Washington, who know which buttons to press and [who] have contacts in Congress, and so on. And this has happened in the case of Taiwan, for example, where you had dissidents in the 60s and 70s who hung around, languished, were considered to be irrelevant until things began to change in Taiwan politically and suddenly, they were important."
Jatinder Verma: Asian Diasporas, BBC (World Service), 02.09.2002

China 1989 - eine Demokratiebewegung

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