Athens aktivierende Propaganda

Willensbildung Eigentlich gab es gar nichts zum Abstimmen, als Tsipras seinem Volk zwei EU-Entwürfe zur Entscheidung vorlegte. Die Entwürfe waren bereits kassiert. Worum ging es dann?

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Die beste Propaganda ist die, die Menschen zum Handeln veranlasst. Das hat die griechische Regierung getan. Ein Großteil der Griechen hat aktiv in die ohnehin schon von ihnen gewählte Regierung "investiert": über 60 Prozent der wahlberechtigten Griechen beteiligten sich am Referendum, und wiederum über 60 Prozent der Beteiligten stimmten im Sinne der Syriza-geführten Regierung mit "Nein".

Die chinesische Kampagne gegen die (kornfressenden) Spatzen in den 1950er Jahren ist ein älteres Beispiel für aktivierende Propaganda. Je nachdem, wie eng oder weit man die Erfolgskriterien fasst, konnte man das chinesische Ergebnis als Erfolg oder Misserfolg bezeichnen: die Spatzenpopulation soll sich Anfang der 1960er Jahre tatsächlich gegen Null bewegt haben. Dafür stieg allerdings die Zahl der (kornfressenden) Insekten an.

Aber das war - propagandistisch jedenfalls - nicht das Entscheidende: mit aktivierender Propaganda nahm die KP-Führung Einfluss auf die Bevölkerung. Die Mitwirkung oder Gefolgschaft war für die Entwicklung des Bewusstseins entscheidender als der Erfolg an sich.

Gleiches gilt für das griechische Referendum. Man stimmte zwar über Alternativen ab, die es so konkret gar nicht mehr gab, aber das war nicht wichtig - sie genügten als Anlassgeber. Und nicht nur das griechische Bewusstsein änderte sich durch die kollektive griechische Willensbekundung, sondern auch das deutsche. Wann hatte es das zuletzt gegeben, dass in einer deutschen Nachrichtensendung von Athen und seinen europäischen Partnern die Rede war?

Aktivierende Propaganda ist eine Technik: sie ist weder links noch rechts; sie steht jedem Einflussnehmer jeder politischen Farbe zur Verfügung, wenn auch nicht jedem in gleichem Maße.

Hartz IV zum Beispiel ist erfolgreiche Propaganda - dass diese Maßnahmensammlung "aktivieren" sollte, ging ihr sogar als amtliche Ansage voraus. Einer der Slogans dieser faktischen Lohnsenkungskampagne lautet Fördern und Fordern - eine oberflächliche Verschlagwortung, die von mit den Fakten ohnehin überwiegend überforderten, aber propgandistisch geförderten Journalisten gern übernommen wurde, und ihnen irgendwann sogar als eine Art Begriff ohne Herkunft in Fleisch und Blut überging.

Für den Hartz-IV-Empfänger besteht die aktivierende Propaganda darin, dass er den von ihr postulierten Regeln folgt: dass er mit einem weitaus geringeren Erwartungshorizont in Verhandlungen mit einem potenziellen Arbeitgeber geht, dass er ein Arbeitsverhältnis zu Bedingungen annimmt, die er ein Jahr zuvor unvorstellbar gefunden hätte, usw..

Das ist keine unverbindliche Propaganda, bei der das Zuhören oder Darauf-Eingehen eine Sache der Wahl wäre, sondern es ist eine Propaganda, zu deren Annahme der Empfänger der Botschaft gezwungen ist. Es ist nicht nötig, dass er der Propaganda zuzustimmt. Es genügt, dass er sich ihren Regeln nicht widersetzt. Schon damit funktioniert sie. Sehr bald ist sie Realität - alternativlose Realität. Sie stabilisiert sich umso schneller, als sie bestehende Verhältnisse verstärkt, anstatt ihnen zuwiderzulaufen.

Die Art und Weise, in der Propaganda zur Zeit - und das obendrein relativ erfolgreich (!) - von mehr oder weniger Linken verwendet wird, ist nun in aller Munde, wenn auch oft nur andeutungsweise. Medial angedeutet oder anklagend ausgerufen wird zum Beispiel, Syriza habe sich ihre Herangehensweise von Castro, Chavez oder Guevara geliehen.

Das mag sogar stimmen. Der Vorwurf mag aber auch einem journalistischen Unterbewusstsein entspringen, das eine Lateinamerikanisierung Europas lediglich unterstellt.

Dieser (denkbare) Sachverhalt wird vom Mainstream nicht unseren gesellschaftlichen Prozessen gesucht, die ja nun schon ein bis mehrere Jahrzehnte andauern, sondern - ausschließlich - in der aktuellen griechischen Antwort darauf. Nicht die soziale Auszehrung Europas, sondern die Gegenbewegungen darauf wären aus Sicht der Befürworter des Status Quo "lateinamerikanisch".

Spannende Zeiten: der Kolonialismus ist wieder in Europa, aber diesmal sind auch die Gegenkonzepte schon am Platz. Früher konnte so etwas Jahrhunderte dauern.

Nur die Aufklärung fehlt. Sie pfiff schon immer aus dem letzten Loch.

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Ich bin ein Transatlantiker (NAFO)

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