Auf dem Weg zur Low-Trust-Gesellschaft?

Wutmedien und Wutbürger Der Weg in die Hölle beginnt mit hundert Schritten (Irischer Reisesegen)

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Ist es wirklich der böse Wolf, oder lügst du schon wieder?

Neben dem Mainstream, der sich von 20 Uhr bis 20:15 Uhr die Tagesschau ansieht und anhört, ohne sich dabei zu ärgern, gibt es auch die vielleicht zwanzig, vielleicht dreißig Prozent potenzieller Zuschauer, die sich prinzipiell keine Tagesschau reintun, oder die das nur tun, um hinterher einen zornigen Blog darüber zu schreiben. Man ist ja kein dummer Hörer, Leser oder Zuschauer. Man ist die Krone der Meinungsfreiheit, die "5. Gewalt".

Außerdem gibt es neben den Medienmenschen, die so vor sich hinarbeiten wie andere Werktätige auch. Und es gibt zornige Medienmenschen, die die zornigen Blogs der "5. Gewalt" lesen und sich als "4. Gewalt" beleidigt fühlen. Man ist ja nicht irgendwer. Man ist die Krone der Meinungsfreiheit.

Außerdem gibt es die naiven Chinablogger, die im Nebenberuf auch Blogs über Themen schreiben, die sie nichts angehen. Über Medien, zum Beispiel.

Und während die zehn Finger klimpernd über die Tastatur gleiten, drängt sich dem Chinablogger die Frage auf, was eigentlich geschehen müsste, damit die zwar skeptischen oder ebenfalls zornigen, aber noch nicht restlos vom Ich-bin-ein-unschuldiges-Opfer-der-propagandistischen-Schweineeliten geswampten Hörer, Leser und Zuschauer, zu denen er sich ja selber zählt, mal wieder ohne Argwohn eine Mainstream-Meldung zur Kenntnis nehmen könnten.

JR jedenfalls liest ganz oft einen Artikel vor allem mit der Frage, welche Knöpfe die Autoren wohl damit bei ihm drücken wollen. Dass der Artikel einfach nur informieren möchte, nimmt er nicht an: die Unschuldsvermutung ist in dieser Hinsicht genauso dahin wie die Unschuld an sich, die man halt nur einmal im Leben verliert.

Man muss keine Pressemeldung unkritisch zur Kenntnis nehmen. Aber im dauerhaften Argwohn drückt sich eine Tendenz zur low-trust-Gesellschaft aus, in der sich immer weniger alte Selbstverständlichkeiten (von gestern oder aus einem Goldenen Zeitalter) noch von selbst verstehen.

Die deutsche politische Klasse - Politiker und ihnen nahestehende Medienwerker - scheint es auf dem falschen Fuß erwischt zu haben, dass Moskau im Januar so effektiv auf der deutschen Kinderschänderverdachtsklaviatur spielen konnte. Selbst als der hingebungsvoll von der Moskauer Gerüchteabteilung - und vom russischen Außenminister - gestreute Poloniumtrack Agitations-Crack vom Anwalt der 13jährigen Russlanddeutschen medial gestaubsaugt und in deutlich überschaubarere Tüten verpackt worden war, hörte das Misstrauen gegen das Establishment nicht auf.

Da können Verfahrensbeteiligte, Medien und Behörden machen, was sie wollen: es bleibt ein erheblicher Restargwohn.

Dass einem chinesischen Regime, das gerade eine Studentenbewegung plattgemacht hatte, 1989 von vernehmbaren Teilen seines Volkes kein Wort mehr geglaubt wurde und sogar Rentner VoA, BBC und Deutsche Welle per Kurzwellenradio hörten, um den erhofften bzw. befürchteten Tatsachen auf die Spur zu kommen: das galt in Deutschland - damals noch Westdeutschland - als normal.

Dass aber Moskau im Jahre 2016 in Deutschland eine eine regelrechte soziale Destabilisierungstour fahren kann, das ist in unserem Land - inzwischen Germany United - unnormal.

So lange jedenfalls, bis man sich an diesen neuen, nicht mehr so stabilen deutschen Zustand gewöhnt hat, bzw. Gegenstrategien entwickelt hat. Wie immer die auch aussehen mögen.

Wie könnte eine gute Gegenstrategie aussehen?

Vieles an der neuen Lage ist für die Massenmedien gar nicht beeinflussbar. Dass z. B. das Vertrauen zwischen Basis und "Eliten" sinkt, ist ein Fakt, auf den Medien nicht durch manipulative Berichterstattung erfolgreich Einfluss nehmen können.

Und klar ist auch: es gibt im Publikum Menschen, denen es sich auch mit sauberer Arbeit wirklich nicht recht machen lässt. Auch gewissenhafte Medienarbeit beeindruckt nicht jeden Informationsempfänger.

Aber zu glauben, kein zorniger Hörer/Leser/Zuschauer sei für eine solide Berichterstattung zu haben, wäre ein Vorurteil.

Es gibt einen Grundsatz, der hilft, um akkurat zu sein. Wer berichtet, sollte möglichst weitgehend seine Nachrichtenquellen zu Wort kommen lassen, anstatt sie in eigenen Worten wiederzugeben. Im Internetzeitalter lässt sich auch oft auf solche Quellen verlinken.

Zumindest aber müssen Quellen dazu für den Medienrezipienten nachvollziehbar und auffindbar sein.

Wenn ein skandalisierender Artikel vorwiegend Links auf im gleichen Hause geschriebene weitere skandalisierende Artikel enthält, kommt das im Zweifel schon mal nicht so gut an.

Wenn ein lobhudelnder Artikel vorwiegend Links auf im gleichen Hause geschriebene weitere lobhudelnde Artikel enthält, wird das auch nicht unbedingt als vertrauensbildende Maßnahme aufgefasst.

Zugegeben: das will gar nicht jeder lesen, und eine kommerzielle Medienlandschaft kann nun mal nicht so richtig »konfuzius sein.

Aber wenn man schon auf falschem Kurs unterwegs ist, sollte doch zumindest der Kompass noch stimmen.

Dann sind immerhin Gelegenheitskorrekturen möglich.

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