Bürgerliche scheitern an Protestpartei

Tolerierung ist links Es gibt keine linke Mehrheit. Aber es gibt auch keine bürgerliche Mehrheit mehr. Neue Zeiten verlangen nach neuen Konzepten

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Quo vadis, bürgerliche Mehrheit?
Quo vadis, bürgerliche Mehrheit?

Foto: Odd Andersen/AFP/Getty Images

Was hat man sich nicht schon für Sorgen gemacht, wenn es um die "extreme" Linke ging: sie habe eine böse Vergangenheit, sei regierungsunfähig, könne keine Kompromisse machen, sei nur auf Umverteilung dessen aus, was andere erwirtschafteten, anstatt sich um die Zukunft zu kümmern, etc.

Ganz anders doch die FDP: immer auf der Überholspur der Digitalisierung, der Globalisierung, nun ja, der Zukunft, halt. Der Theme-Man ("Immer gut aussehen") auf den Plakaten, in voller Fahrt, Chancen erst, Bedenken später, schick und hoch motiviert.

Aber "lieber nicht regieren, als falsch regieren", so Christian Lindner vor rund acht Stunden.

Die bisher treffendste Einordnung dieses Scheinprinzips:

Da eine Koalitionsbeteiligung seiner Partei die Wahrscheinlichkeit, dass 'falsch regiert' wird, deutlich erhöht, hat er aus dieser Einsicht die einzig logische Konsequenz gezogen und die Verhandlungen platzen lassen.

Wer vor allem seine Partei absichern will (die FDP war ja ein paar Jahre nicht im Bundestag vertreten und kennt Existenzängste), muss die reine Lehre vor sich hertragen wie eine Monstranz - und diese darf keine Flecken kriegen. Die freilich wären in der Realität unvermeidlich. Die FDP scheut die Realität, denn sie und die Realität passen nicht zusammen.

Die viel gescholtene Linke hingegen kennt die Mühen der Ebene. Gerade sie hat als führende Regierungspartei Thüringens gezeigt, dass sie diesen Ebenen nicht angstvoll ausweicht.

Kurz: was in der vergangenen Nacht in der baden-württembergischen Landesvertretung gescheitert ist, ist ein Versuch der bundesdeutschen bürgerlichen Parteien, ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Sie sind gescheitert an einer Ideologie, der zufolge Innovation schon folgen werde, sofern man im Gegenüber nur bedingungslos den Wettbewerber sehe, und nicht den notwendigen Kooperationspartner.

Es kann keine Überraschung sein, dass diese Ideologie nun auch zur Praxis der bürgerlichen Parteien untereinander wird. Jede Ich-AG ist potenziell der Kanzler von morgen, oder aber auch unter der Fünfprozenthürde.

Kooperation aber würde dringend gebraucht. Und selbstverständlich wird in den nächsten Tagen wieder der Ruf nach der Koalitionsbereitschaft der "Funktionspartei" SPD laut werden.

Sie täte gut daran, einen solchen Antrag der Gescheiterten abzulehnen.

Aber Ablehnung eines konkreten Vorschlags ist das eine. Konstruktive Politik ist das andere. Für eine linke Mehrheit würde es auch nach Neuwahlen nicht reichen. Im Gegenteil: die meisten Wähler scheinen es nicht zu schätzen, wenn die Parteien zurückgehen lassen, was die Wählerküche ihnen beschert.

Ob die SPD die Partei der neoliberalen Besoffenheit bleiben will, die sie seit Anfang des Jahrtausends ist, oder ob sie wieder zu einer Partei der konstruktiven Kooperation werden will, wird sich auch an ihrem Verhalten in den nächsten Wochen ablesen lassen.

Links sein wird in den nächsten Wochen nicht bedeuten, möglichst intensiv die Union zu schädigen, sondern dem Land zu nützen. Die SPD sollte nicht auf Angebote der Union warten, sondern ihr - und den Grünen - ein Tolerierungsangebot machen. Zu Bedingungen, versteht sich, denen man ebenfalls ansehen muss, dass die SPD nicht nützliche Idiotin des Neoliberalismus sein will.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

JR's China Blog

Ich bin ein Transatlantiker (NAFO)

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