China und Taiwan: Ein Treffen zweier Herren

Lange nicht gesehen, Sir Am Samstag treffen Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping und Taiwans Noch-Präsident Ma Ying-jeou sich in Singapur, zwei Monate vor Taiwans Präsidentschaftswahlen

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Taiwans Noch-Präsident Ma Ying-jeou
Taiwans Noch-Präsident Ma Ying-jeou

Bild: SAM YEH/AFP/Getty Images

Seit dem japanischen Krieg gab es keine Begegnung eines Präsidenten der Republik China (RoC, seit 1949 wohnhaft auf der Rettungsinsel Taiwan) und einem Chef der Kommunistischen Partei Chinas (seit 1949 die alleinregierende Partei "Festlandchinas", aka VR China) mehr. Zuletzt trafen 1945 Chiang Kai-shek und Mao Zedong zusammen und gratulierten einander zum Sieg über Japan.

Vier Jahre später vertrieb die damals noch "Rote Armee" genannte "Volksbefreiungsarmee" der Kommunisten Chiang Kai-sheks Nationalistische Partei (KMT), die daraufhin während der 1950er, 1960er und 1970er Jahre mit der zunehmend unrealistischen Absicht auf Taiwan ausharrte, von dort "das Festland zurückzugewinnen".

66 Jahre später, 2015: der Präsident der Republik China (in Taiwan) heißt Ma Ying-jeou. 2008 trat er sein Amt an, und bis vor einem Jahr war er außerdem Vorsitzender der inzwischen über hundertjährigen Nationalistischen Partei KMT, die nach einer achtjährigen Pause in der Opposition seit 2008 wieder Taiwans Regierungspartei ist. Im Januar sollen Präsident und Parlament neu gewählt werden. Da Ma Ying-jeou zwei Amtszeiten absolviert hat und eine nochmalige Wiederwahl gesetzlich nicht vorgesehen ist, geht es bei der Präsidentschaft um die Wahl eines Nachfolgers, oder einer Nachfolgerin.

Zwischen 1949 und heute liegt eine Geschichte erfolgreicher wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung Taiwans, die in den 1950ern mit einer klugen Entwicklungspolitik begann, die - so lässt sich je nach Standpunkt jedenfalls (auch) argumentieren - immer noch andauert. Aber neben der ökonomischen Erfolgsgeschichte gibt es auch einer Geschichte taiwanischer Selbstfindung und Identitätsentwicklung. Als Taiwan 1945 vom kapitulierenden Japan aufgegeben wurde, "kehrte es" zwar nach fünfzigjähriger Kolonialzeit unter chinesische Herrschaft "zurück" - nach allgemeiner Lesart.

Juristisch allerdings gibt es (auch) die Ansicht, Japan habe Taiwan keiner bestimmten Macht übergeben - auch nicht an China. Diese Position ist juristisch nicht aus der Luft gegriffen, und eher "taiwanisch" als "chinesisch" gesonnene Inselbewohner greifen sie gerne auf. Die »Demokratisierung Taiwans seit den 1980er Jahren hat das begünstigt.

Taiwan ist also - de jure und gefühlt - nicht eindeutig China. Aber eine eindeutig taiwanische Identität unter Ausschluss einer chinesischen gibt es auf der Insel auch nicht. Es gibt in Taiwan die selbstbewussten Insulaner, es gibt die "Festländer", und es gibt viele, die von beidem ein bisschen sind. Das Staatsvolk der "Republik China auf Taiwan" behilft sich zur Zeit mit einem kleinsten gemeinsamen Nenner: dem Status Quo.

Die einen - Hung Hsiu-chu, die im Oktober von ihren Parteifreunden hastig wieder abgesägte Präsidentschaftskandidatin der KMT gehört zu ihnen - verstehen sich definitiv als "Festländer" oder Chinesen. Das erwies sich für Hungs Kandidatur und für die KMT als mehrheitsschädigend. Als Amtsinhaber Ma Ying-jeou vor Beginn seiner Präsidentschaft gefragt wurde, ob er Chinese oder Taiwaner sei, antwortete er: "beides". Damit konnten die meisten Wählerinnen und Wähler Taiwans leben. Und das Verhältnis Tsai Ing-wens, der oppositionellen Präsidentschaftskandidatin von der Demokratischen Fortschrittspartei (DPP), zur Republik China/RoC gilt zwar als kühl, wenn man von einem Verhältnis überhaupt reden kann. Allerdings erkennt sie die Begrifflichkeit der chinesischen Republik mittlerweile vorsichtig an, als Teil einer Bewegung ihrer Partei hin zur "Mitte" der taiwanischen Gesellschaft - einer Gesellschaft, die nicht unbedingt so "politisch" und aktivistisch ist, wie die überaus hektische taiwanische Medienlandschaft es gelegentlich glauben machen könnte.

Mit der Demokratisierung trat nicht nur die Taiwanisierung der Republik China offener zutage als bis dahin. Gleichzeitig erfolgte eine ökonomische Öffnung hin zur festländischen Volksrepublik. Zunächst über Hong Kong als stellvertretenden Handelspartner oder Durchgangssation für China und Taiwan, und dann zunehmend direkt.

In der oppositionellen DPP, die mit ihrer Kandidatin Tsai Ing-wen Umfragen zufolge sehr gute Chancen hat, die im Januar anstehenden Präsidentschaftswahlen zu gewinnen, gibt es starke Strömungen gegen eine weitere Intensivierung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit China. Die gab es auch in den Regierungsjahren der DPP, mit dem Präsidenten Chen Shui-bian. Selbst die ebenfalls sehr taiwanisch geprägte englischsprachige "Taipei Times" allerdings beklagte gegen Ende der Chen'schen Amtszeit die - politischen - Chancen, die durch den "Extremismus" der Partei in den Verhandlungen mit Beijing "vertan" worden seien.

Zuletzt hingegen zeichnete sich eher die KMT durch "Extremismus" aus, und zwar durch pro-chinesischen. Die Präsidentschaftskandidatin Hung Hsiu-chu lehrte sowohl Anhänger eines "taiwanischen Taiwan" als auch Anhänger des Status Quo (die selbst in der KMT und ihrer Basis eine Mehrheit bilden) das Fürchten, als sie mit einem Slogan punkten wollte, der als Aufforderung zu einer baldigen "Wiedervereinigung" verstanden werden konnte. Im Oktober wurde sie von einem außerordentlichen Parteitag als Kandidatin zurückgezogen. Parteichef Eric Chu soll jetzt retten, was bis zum Wahltag im Januar noch zu retten ist.

Nun trifft also Ma Ying-jeou (KMT), bis Mai nächsten Jahres noch Präsident Taiwans, den chinesischen Staats- und Parteichef Xi Jinping, und ein gewohnheitsmäßig nervöses und emotional aufgeheiztes politisches Kommentariat (Politiker, Journalisten, Blogger usw.) fragt, was der Staatschef auf dem Weg in den Ruhestand damit wohl erreichen wolle. Will er seine acht Jahre lang andauernden - und wohl nicht ganz erfolglosen - Bemühungen um "Frieden in der Taiwan-Straße" bei gleichzeitiger Verbesserung der Beziehungen zu den USA mit der ersten Begegnung zwischen einem hohen KMT-Vertreter mit dem Chef der chinesischen Kommunisten krönen? Will er zusammen mit Xi Jinping Fakten schaffen, an die eine DPP-geführte Regierung unter Tsai Ing-wen nach einer für sie erfolgreichen Präsidentschaftswahl nicht mehr vorbeikäme - will er "Taiwan ausverkaufen"? Oder handelt es sich um Wahlhilfe für den KMT-Präsidentschaftsbewerber Eric Chu? Um Wahlhilfe für die KMT-Kandidaten bei den im Januar zeitgleich mit den Präsidentschaftswahlen stattfindenden Parlamentswahlen?

Die DPP-Vorsitzende und Präsidentschaftskandidatin Tsai Ing-wen konzentriert sich auf die letzteren zwei Punkte, und auch das nur kurz und knapp. Die ruhige Form der Kritik ist für sie charakteristisch. Selbst in den peinlichsten Momenten der KMT, als diese Hung Hsiu-chu demontierte und KMT-Neukandidat Eric Chu seinen unfreiwilligen Ersatzdienst als "Prüfung Gottes" bezeichnete, verzichtete Tsai auf jeden Kommentar dazu und blieb bei ihren Themen: Umwelt, ein gewisses sozialstaatliches Niveau, Frauenrechte, die wirtschaftliche Zukunft junger Wähler, Eingeborenenrechte. Auch das kommt an: Lärm um nichts kennt das taiwanische Publikum zur Genüge, und goutiert den gelassenen Stil der Oppositionsführerin umso mehr.

Dass die KMT jetzt Tsai dazu auffordert zu erklären, wie sie den Status Quo mit China aufrechterhalten wolle, wenn Beijing doch gar nicht bereit sei, mit ihr zu reden, ist ein überaus riskanter Angriffsversuch, den die KMT in einer aussichtsreicheren Wahlkampfsituation sicher nicht unternommen hätte. In der Regierungsphase der DPP von 2000 bis 2008 konnte die taiwanische Mehrheitsgesellschaft die Phrasen und symbolischen Handlungen Chen Shui-bians und seiner Parteifreunde zum Thema "taiwanische Unabhängigkeit" nämlich zuletzt nicht mehr hören. Sie wollten eine Politik, die sich im Alltag positiv bemerkbar mache, und keine außen- oder chinapolitischen Ersatzhandlungen. Gleiches dürfte im Herbst 2015 gelten.

Für die BBC-Korrespondentin Cindy Sui ist die Motivation sowohl der KMT als auch der KP Chinas beim anstehenden Ma-Xi-Treffen denn auch offensichtlich:

Ms Tsai has said she welcomes dialogue with Chinese leaders, but Beijing has refused to meet her, indicating it does not trust her.

She was a minister in charge of developing policy toward mainland China under the previous administration, which angered Beijing by trying to work towards formal independence.

Mr Xi may believe he can sway Taiwanese voters but this could backfire. While some voters who want to maintain stable relations may heed his words, they may offend Taiwanese voters who are already worried that Beijing will have increasing influence over Taiwan if the candidate from President Ma's party is elected.

Zwar ist die Aussicht, dass Beijing eine Präsidentin Tsai dauerhaft inakzeptabel finden könnte, wenig erfreulich. Aber zum einen würde eine Funkstille auf der Regierungsebene keine automatischen Auswirkungen auf den Status Quo der taiwanisch-chinesischen Beziehungen haben, und zum anderen trafen Tsais Ing-wens Bemerkungen nach Bekanntgabe des Ma-Xi-Gipfels mit einiger Wahrscheinlichkeit erfolgreich einen Nerv der Öffentlichkeit. In einer von Radio Taiwan International wiedergegebenen Stellungnahme kritisierte Tsai am Mittwoch

das ihrer Meinung nach überstürzt angesetzte Treffen zwischen Präsident Ma Ying-jeou und Festlandchinas Staatspräsident Xi Jinping. Tsai sieht darin eine mögliche Gefahr für Taiwans Demokratie und stellte auch den Zeitpunkt des Treffens wegen der anstehenden Wahlen in Frage.

Dieses große politische Ereignis schlösse auch die Frage der Würde und der nationalen Interessen Taiwans mit ein, sagte Tsai auf einer Pressekonferenz am heutigen Mittwoch. Die DPP begrüße Treffen zwischen beiden Seiten, die auf der Basis von Würde, Offenheit und Transparenz , ohne politische Vorbedingungen und dem Prinzip eines normalen Gespräches durchgeführt würden.

Der Zeitpunkt des Gespräches werfe aber Zweifel über die Absichten des Treffens auf, sagte die DPP-Vorsitzende Tsai.

Und die Erinnerung an die holprigen Amtsjahre Ma Ying-jeous sind ganz frisch: der Präsident amtiert noch für weitere sieben Monate. Als Ma im Mai 2012 seine zweite Amtszeit begann, vier Monate nach seiner Wiederwahl, waren seine Umfragewerte bereits wieder im Keller, wie schon über weite Teile seiner ersten Amtszeit. Einer seiner moderateren prominenten Kritiker, der Journalist und Kulturkritiker Wang Hsing-ching, auch bekannt unter seinem Autorennamen Nanfang Shuo, wurde damals von der singapurianischen Zeitung "Lianhe Zaobao" damit zitiert, die geringe öffentliche Unterstützungsrate für Ma lasse sich mit einer weit verbreiteten Befürchtung erklären, Ma fühle sich nach seiner Wiederwahl nicht mehr durch zukünftige Wahlen unter Druck: ein taiwanischer Präsident kann laut Gesetz ohnehin nur einmal wiedergewählt werden. Entsprechend willkürlich oder autokratisch könne er also Entscheidungen treffen. Ob Wang diese Befürchtungen auch auf Mas Chinapolitik bezog, ging aus der Wiedergabe der "Zaobao", deren Onlineausgabe auch von Festlandchinesen gerne gelesen wird, nicht hervor. Aber wenn Wangs Erklärung damals zutraf, dann gelten solche Befürchtungen heute, bis zum morgigen "Gipfeltreffen", noch einmal ganz besonders.

Auch in diese Kerbe schlug Tsai in ihrer Stellungnahme am Mittwoch:

Ferner warnte Tsai den scheidenden Präsidenten Ma davor, bei dem Treffen Versprechen abzugeben, für die er später nicht verantwortlich sei. Er solle nicht versuchen, auf Kosten der Einschränkung von Taiwans Zukunft dieses Treffen zu seiner politischen Aufwertung auszunutzen.

Nun könnte man meinen, all das werde sich nach dem Treffen der beiden Staatschefs - die sich nicht in ihren amtlichen Funktionen, sondern als "Herr Ma" und "Herr Xi" treffen und anreden wollen, schnell klären lassen, zumal Ma Ying-jeou ankündigte, es werde am Samstag in Singapur keine gemeinsamen Erklärungen oder gar Festlegungen auf irgendwelche neuen Positionen geben. Aber so funktioniert öffentliches Vertrauen in die Politik generell nicht, und in Taiwan schon gar nicht. Böse nachträgliche Überraschungen und Enthüllungen werden auch manche politisch nicht sonderlich erregbaren Taiwaner noch Wochen und Monate nach dem Singapurer Gipfeltreffen mindestens für möglich halten.

Durch bisherige Erfahrungen jedoch lassen sich derartige Verdächtigungen gegenüber dem Noch-Präsidenten Taiwans nicht belegen. Nicht nur nahm Ma Ying-jeou im Sommer in einem BBC-Interview unwidersprochen für sich in Anspruch, Taiwans Abhängigkeit von der chinesischen Wirtschaft sogar etwas verringert zu haben - etwas, was sein DPP-Vorgänger nicht geschafft hatte. Auch der letzthin - vor Bekanntgabe des Singapurer Gipfels - erhobene Vorwurf der Kritiker Mas, Beijing drohe den "Konsens von 1992" zu kündigen - einen Konsens, dem zufolge sich beide Seiten darauf geeinigt hatten, jede Seite der Taiwanstraße dürfe sich vom "einen China" ihre jeweils eigenen Vorstellungen machen - dürfte einem reflexhaften "pro-taiwanischen" Publikationsverhalten geschuldet sein. Laut einer am Mittwoch von der chinesischen Nachrichtenagentur Xinhua wiedergegebenen Erklärung bekräftigte Chinas Taiwan-Unterhändler Zhang Zhijun den 1992er Konsens.

Zhang Zhijun ist sowohl Direktor des "Taiwan-Büros" der KP Chinas als auch des gleichnamigen Büros des Staatsrates. Es handelt sich also ganz sicher um keine Spontanäußerung.

Insofern spricht viel für Ma Ying-jeous Erklärung, er wolle Frieden und Stabilität in den tawanisch-chinesischen Beziehungen konsolidieren. Wie groß das Verdienst seiner achtjährigen Amtszeit um diesen einstweiligen Frieden wirklich ist, mag diskutabel sein. Ehrliche Absichten aber muss man ihm nicht absprechen.

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