Deutsche Selbstüberschätzung

Naher Osten. Bevor wir anfangen, Frieden und Gerechtigkeit zu schaffen, sollten wir uns fragen, was wir den Konfliktparteien zu bieten haben. Manchmal geht es auch ohne uns.

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Fast jeder Beitrag zum israelisch-palästinensischen (oder zur Abwechslung auch zum israelisch-iranischen) Verhältnis ist auch ein Appell an innere Schweinehunde, und zwar selbst dann, wenn der Beitrag selbst - z. B. Michael Angeles - mit einem inneren Schweinehund gar nichts zu tun hat und von keinem motiviert ist.

Was mich irritiert, ist die mitunter große Selbstverständlichkeit, mit der sich Deutsche an internationalen Debatten über den Nahostkonflikt beteiligen wollen - anscheinend ohne sich klar zu machen, dass es auch ein spezifisches deutsch-israelisches Verhältnis gibt, mit einer ganz eigenen Vorgeschichte, welche sich von dem Verhältnis anderer Staaten und Völker zu Israel gewaltig unterscheidet, und die unweigerlich auch Einfluss auf unser Verhältnis zum palästinensischen Volk hat. Dabei leitet dieses (Unter)bewusstsein m. E. viele unserer Debatten zum Nahostkonflikt.

Manche Empörung über Israel - oder seine Regierung, aber dieser Unterschied wird bei weitem nicht universell gemacht - ist Selbstzweck. Sie generiert Aufmerksamkeit. Manche Empörung über Israel will helfen. Unausgesprochen bleibt dabei (in der Mehrzahl der Fälle, soweit ich sehe), wie sie das tun will. Da es sich um Empörung handelt, vermute ich, dass diese Empörung "Konsequenzen" sehen will. Und spätestens da wird es schwierig.

Was für Konsequenzen? Einstellung der Waffenlieferungen an Israel? Dann bitte Einstellung aller Waffenlieferungen aus Deutschland an andere Länder, und nicht "fangen wir doch mal mit Israel an". Einstellung aller Dual-Use-Produkte? Der Nahe Osten ist wahrlich nicht der einzige Krisenherd der Welt. Oder möchte jemand Boykotte von Produkten israelischer Siedler in der Westbank sehen? Und was, wenn Israel nicht mitspielt und es ablehnt, die korrekten Etikette aufzukleben? Boykotte aller israelischen Produkte? Und sich dann wundern, wenn die - internationale, nicht "nur" die deutsch-israelische oder innerdeutsche - Debatte darüber aus dem Ruder läuft?

Ein Argument, das ich vor allem aus Offline-Argumenten kenne: "ohne Deutschland geht das in Europa doch gar nicht". Für das Argument, ohne uns gehe etwas nicht, lieben uns nicht nur viele Israelis, sondern auch viele Griechen, Italiener oder Briten (Achtung, Ironie). In genau dem Punkt wird generell nicht Vergleichbares nämlich doch vergleichbar: man müsste schon sehr klug sein, um nicht nur Teil eines Problems zu sein (das sind wir nämlich im Nahostkonflikt und in Europa), sondern auch faire, für alle Beteiligten zumindest diskutable Wege zur Problemlösung zu finden.

Damit will ich nicht behaupten, dass das überhaupt nicht ginge. Aber auf deutsche Meinungsführerschaft sind dabei weder das deutsch-europäische noch das europäisch-israelische Verhältnis angewiesen. Im Gegenteil: diese Verhältnisse kommen damit endgültig unter die Räder. Ich bewundere jeden Gush-Shalom-Anhänger, der unter ausgesprochenen oder unausgesprochenen europäischen Sanktionsdrohungen weiter für den Frieden mit den Palästinensern arbeitet. Aber ich glaube auch diejenigen Israelis verstehen zu können, die darauf "erst recht" mit einer Stimme für den Likud-Block reagieren. So fremd ist mir das nicht - wenn es um unsere Sicherheit in Deutschland geht, finden nämlich erstaunlich viele Deutsche z. B. einen übermächtigen Polizeistaat durchaus akzeptabel oder sogar nötig. "Weiß nicht" ist bei jeder Umfrage, die ich bisher veröffentlicht gesehen habe, die am seltensten gewählte Antwort.

In jeder Konkurrenzsituation stellt man sich vernünftigerweise die Frage: "Was bringe ich mit? Was qualifiziert mich?" Wenn man helfen will, stellt sich die Frage mindestens genauso.

Im Umgang mit dem Nahostkonflikt wäre die Frage "wo können wir helfen?" wichtiger als die Frage "darf ich mal was sagen?" Davon lebt die Publizistik nicht, und das ist nicht generell schlecht. Im Umgang mit Ländern, denen mal ausgesprochen, mal unausgesprochen eine moralische Minderwertigkeit unterstellt wird, ist das "Etwas-sagen-wollen" oder "etwas-wohl-noch-sagen-dürfen" aber nicht konstruktiv, und wenn "klare Ansagen" aus Deutschland kommen, ist das im Nahostzusammenhang oder auch in der Eurokrise kontraproduktiv. Das "etwas-sagen-wollen" gehört in keine Tabuliste. Aber es ist weltfremd, darauf ein kooperatives Echo zu erwarten.

Zur Klarheit - vielleicht trägt das ja zum Verständnis für diesen Beitrag bei: ich bin weder Grieche noch Israeli. Ich bin Deutscher, und ich bin es gerne. Ich kann mir nicht vorstellen, zu einem anderen Land zu gehören und eine andere Muttersprache zu sprechen. Ich finde es auch durchaus angemessen, im Ausland nicht immer gleich mit dem Elend konfrontiert zu werden, das mein Land angerichtet hat. Aber ich kann nicht mit der gleichen Selbstverständlichkeit über einen Teil der Welt reden, der früheren, verfolgten Mitbürgern Zuflucht aus Deutschland bot, wie das Amerikaner, Briten oder auch Chinesen tun. Es gibt für mich eine Schamgrenze.

Vielleicht läge ja eine Chance darin, wenn wir begriffen, dass eine bestimmte Art der "Normalität" eben nicht geht. Beziehungsweise: dass das zwar "geht", dass eine solche Haltung aber nicht nur vielen Israelis unangenehm auffällt. Dass eine rechthaberische Haltung mehr schadet als nützt, und dass wir uns ab und zu mal die Frage stellen sollten, was wir aus einem ganz eigenen Verhältnis zu Israel machen sollen. Das macht weder die Welt im Allgemeinen, noch den Nahen Osten im Besonderen, ungerechter. Wer das glaubt, überschätzt Deutschland. Bevor das, was wir glauben, international relevant wird, sind in unserem informellen Bündnis mit Israel sowieso erst einmal Amerika, Großbritannien und die Niederlande gefragt.

Grass schreibt "mit letzter Tinte", Michael Angele fragt sich, ob sein "Senf" überhaupt gefragt ist, ich selbst wollte eigentlich jetzt die Schnauze halten, aber anscheinend geht das nicht. Es ist wie mit dem Rauchen: man muss nicht nur aufhören wollen, man muss auch den richtigen Zeitpunkt dazu finden. Und die richtigen Gründe dafür.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

JR's China Blog

Ich bin ein Transatlantiker (NAFO)

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