Nach der Wahl wird es gedreht und gewendet, wie man will: Merkel sei gewählt worden, heißt es von der Unionsseite. Es sei ihr "größter Triumph“, so die „Bild“-Zeitung.
Oder, von der Gegenseite: Es sei gewählt worden, was die Eliten haben wollten. Oder: Schwarzgelb sei ja in Wirklichkeit abgewählt, und Rot-Rot-Grün sei gewählt.
Aber die Union wurde weder an die Regierungsmacht gewählt, noch wurde sie abgewählt. Gewählt wurde ein Bundestag mit unklaren Mehrheiten. Und wenn man schon politische „Lager“ zusammenzählen will, ergaben sich zur Wahl ein schwarz-gelbes Bündnis, ein rot-grünes Linksbündnis, und eine Linkspartei, von der die einen meinen, die stehe gar nicht viel weiter links als die SPD, und von der andere meinen, sie sei überhaupt die einzig linke Partei.
Diese Lager standen zur Wahl. Der relative Gewinner ist das schwarze Lager – der gelbe Pickel ist ja einstweilen abgefallen. Der Verlierer ist Rot-Grün.
Natürlich lassen sich nach einer Wahl auch „lagerübergreifende“ Koalitionen bilden – genau das möchte die Union SPD oder auch Grünen ja jetzt nahelegen. Und aus der Gegenrichtung wirbt die Linkspartei für Rot-Rot-Grün.
Letztere Option hat die SPD aber vor der Wahl derart deutlich ausgeschlossen - und Andrea Nahles legte heute noch einmal nach -, dass man getrost von einem Wortbruch sprechen dürfte, käme eine Regierung ohne Union zustande. Entsprechend hat die SPD jetzt – voraussichtlich – drei Möglichkeiten.
Sie kann zu hinreichend erfüllten Bedingungen eine Koalition mit der Union eingehen. Sie kann der Union eine Tolerierung anbieten, oder sie kann mit der Union verhandeln und dann die Verhandlungen für gescheitert erklären, bzw. es der Union überlassen, das Scheitern zu erklären.
Option 1: „Große“ Koalition
Ergibt sich die erste Variante, wird die SPD von Anfang an das, was sie in einer solchen Koalition erreicht, öffentlich effektiver darstellen müssen als in den Jahren 2005 bis 2009. Sie wird außerdem aufhören müssen, sich einerseits verdruckst für die Agenda 2010 zu entschuldigen oder sich andererseits defensiv dafür zu rechtfertigen. Demutsgesten der einen oder anderen Art werden in dieser Hinsicht von den Wählerinnen und Wählern nicht goutiert; gerade von denen nicht, die die SPD besonders scharf für die Agenda kritisieren.
Option 2: Tolerierung der Union
Ähnliches gilt für die zweite Variante. Für sie spräche, dass ein mehr oder weniger weit verbreiteter Eindruck, Sozialdemokraten wollten lediglich Pöstchen und Posten, damit entkräftet würde. Hier zeigt sich aber auch die heikle Lage der SPD: ist eine Tolerierung der Union zu wenig, kann Merkel im Bundestag die Vertrauensfrage stellen und diese nach kohlschem und schröderschem Muster verlieren, mit der Folge von Neuwahlen – Bundespräsident Gauck wird kaum anders entscheiden können oder wollen als vor ihm Carl Carstens 1983 und Horst Köhler 2005.
Und die meisten Wählerinnen und Wähler würden für die gescheiterte Regierungsbildung mit großer Wahrscheinlichkeit die SPD verantwortlich machen. „Große Koalition“ war schließlich – laut Meinungsumfragen – aus ihrer Sicht just das Ergebnis, das sie haben wollten.
Option 3: Null-Merkel-Toleranz
Oder die SPD bietet nicht einmal eine Tolerierung an, obwohl sie Ähnliches ja bereits in der vergangenen Legislaturperiode geleistet hat, als die Unions- und FDP-Regierungsfraktionen für europolitische Entscheidungen keine eigene Mehrheit zustande bekamen. Lässt die SPD die Wahlentscheidung vom 22. September allerdings derart kühl an die Küche zurückgehen, werden die Chefs dort das bestimmt nicht gut finden. Das Ergebnis, das die SPD bei baldigen Neuwahlen bekäme, würde mit einiger Wahrscheinlichkeit schlechter ausfallen als eines, das sie nach vier Jahren Koalition mit der Union zu befürchten hätte.
Mut zur Wahrheit
Eins gilt allerdings in jedem Fall: die SPD sollte nach innerparteilicher oder auch öffentlicher Diskussion ins Visier nehmen, was sie an der Agenda 2010 heute wirklich für falsch hält, und beibehalten, was sie wirklich für richtig hält. Auch dafür sollte sie werben. Sie sollte sich dabei nicht nach Meinungsumfragen richten, denn auch diese Art Opportunismus trägt zur Krankheit des politischen Systems bei. Im Übrigen wird keine Partei der Union in absehbarer Zeit das Wasser reichen können, wenn es um – erfolgreiches – Umfallen geht.
Und ebenso gilt: die SPD sollte ungeachtet einer drohenden Abstrafung bei baldigen Neuwahlen inhaltsorientiert verhandeln und ihre Verhandlungsführung der Öffentlichkeit so gut vermitteln, wie sie es kann. Ihre wichtigsten Forderungen muss sie in einem Koalitionsvertrag unterbringen können, wenn es einen Vertrag geben soll.
Dass politische Parteien unter allen Umständen „das Beste aus dem Wählerwillen machen müssen“, ist jedoch ein unbewiesener Slogan. Auch Wähler verdienen gelegentlich eine zweite Chance, sogar, wenn sie sie empört ablehnen. Das würde allerdings etwas erfordern, worüber die SPD letzthin nur in kleinen Dosen verfügt hat: den moralischen Mut, dem Souverän zu sagen, dass etwas nicht geht. Nicht einmal, wenn der Souverän es so haben will.
Vielleicht fallen die Sozialdemokraten dann auch auf 15 Prozent. Aber dafür muss dann entweder die Union alleine, oder zusammen mit einem in letzter Sekunde re-animierten Fünfprozentzombie, das Eurofass auslöffeln, das sie bis zu den Wahlen ungeöffnet vor sich hergeschoben hatte.
Fraglich, ob eine solche unionsgeführte Regierung noch einmal vier Jahre lang durchhielte, ohne dass Neuwahlen fällig würden. Und dafür wären „Schwarz“ oder „Schwarzgelb“ dann alleine verantwortlich.
Sollten sich Neuwahlen ergeben, müsste die SPD noch eine weitere Frage beantworten: schließt sie eine Koalition mit der oder Tolerierung durch die „Linke“ auch danach weiterhin aus, oder will sie zumindest mit jeder aktuellen Bundestagspartei verhandeln? Grundsätzlich gäbe es für die eine wie die andere Entscheidung gute Gründe. Aber es empfiehlt sich, sie vor der Wahl öffentlich zu treffen und sich danach daran zu halten.
Denn nicht jeder, der SPD oder Grün wählt, will auch Rot-Rot-Grün.
» Öffentlicher Raum, 23.09.13
» Etwas mehr links wagen, J. Augstein, 23.09.13
» Neuland statt SPD, 19.08.13
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