Die Welt nach dem 8. November

Neue Realitäten Ist jetzt alles anders als damals? Wird nichts je wieder so sein wie zuvor? Ein Orientierungsversuch am Tag danach

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

In New York bedeuten die ersten Orientierungsversuche: Widerstand
In New York bedeuten die ersten Orientierungsversuche: Widerstand

Foto: PAUL BEATY/AFP/Getty Images)

Der Plattenschrank von Großpapa ist voller Kostbarkeiten. In der Nacht zum Mittwoch Ortszeit griff der alte Mann zu einer Rarität und gab sich demütig:

For those who have chosen not to support me in the past, of which there were a few people, I’m reaching out to you for your guidance and your help so that we can work together and unify our great country.

Die wird er in den nächsten Tagen noch öfter auflegen.

Und seine hauptsächliche Konkurrentin im Wahlkampf um Amerikas höchstes öffentliches Amt schlug ebenfalls Töne an, als ziehe nicht der Gottseibeiuns ins Haus der Unbefleckten Empfängnis ein, sondern just another president:

We have seen that our nation is more deeply divided than we thought. But I still believe in America and I always will. And if you do, then we must accept this result and then look to the future. Donald Trump is going to be our president. We owe him an open mind and a chance to lead. Our constitutional democracy enshrines the peaceful transfer of power. And we don't just respect that, we cherish it.

Vielleicht werden in ein paar Tagen amerikanische Journalisten oder Politiker ihre deutschen K0llegen erstaunt fragen, ob sie nicht wüssten, dass der Wahlkampf nun vorbei sei.

Und wer sich fragt, wie denn Außenminister oder Bundespräsident Frank Walter Steinmeier mit dem zukünftigen US-Präsidenten umgehen wolle, darf sich beruhigen: er wird, wie der Hassprediger selbst, eine neue Platte auflegen. Im Moment sucht er noch.

Nach Obama wird es mehr oder weniger viele neue Realitäten geben - national und international. Vielleicht für das institutionalisierte nordatlantische Bündnis, vielleicht für das informelle westpazifische, vielleicht für die kooperativen zwischenstaatlichen Versuche, die globale Erderwärmung zu bremsen. Man werde als Journalist mächtig zu tun bekommen, befand ein Kommentator der Voice of America, als sich der Wahlsieg Trumps deutlich abzeichnete. Bei jedem bilateralen Treffen, bei jedem Gipfel, wird die Presse nach Anzeichen für dies oder jenes suchen, und nach Löchern in den Wänden, wo Donald Trump sich vielleicht gerade die Hörner abgestoßen habe.

Plus ca change, plus c'est la meme chose.

Noch mehr als für die internationale Politik und Berichterstattung dürfte das für Trumps Anhänger gelten. Denn natürlich bleiben [t]he forgotten men and women of our country vergessen, wenn sie nicht selbst auf sich aufmerksam machen. Wer meint, das dem New Yorker Milliardär überlassen zu können, hat zwar Dampf abgelassen - aber der staut sich schneller wieder auf, als er abgezogen ist.

Auch für Dissidenten wie Chelsea Manning oder Edward Snowden dürfte sich so bald nichts ändern - jedenfalls nicht zum Besseren. Man kann nur hoffen, dass Trump auch im Umgang mit "Amerikas Feinden" eine andere Platte auflegen wird als bisher.

Zweifellos bedeutet der Wahlsieg Trumps eine Verschlechterung für Amerika. Selbst wenn er eine erfolgreiche Wirtschafts-, Sozial- und Bündnispolitik betreiben sollte: bei der Verrohung der Öffentlichkeit hat er neue Maßstäbe gesetzt. Und keiner glaube, nach unten hin sei keine Luft mehr für noch größere Scheußlichkeiten.

Und die "kleineren Übel"? Es seien "alte weiße Männer" gewesen, die Trump gewählt hätten, heißt es jetzt in deutschen Medien. Abgehängte Hinterwäldler und Landeier - unreflektiertes Sauvolk, halt.

Irgendwie klingt das vertraut - nach dem Brexit legten die Progressiven (oder diejenigen, die sich für progressiv hielten) ähnliche Platten auf.

Von viel Reflexion aber zeugt auch derlei Propaganda nicht. Die bösen alten weißen Männer hätten das alleine nie hingekriegt. Irgendwer muss ihnen bei ihren ruchlosen Machenschaften geholfen haben.

Barack Obamas Präsidentschaft hat ihre Errungenschaften: die Rettung des industriellen Kerns Amerikas, eine mehr oder weniger anerkennenswürdige Finanzreform, eine Stärkung mancher Bürgerrechte.

Sie hatte aber auch ihre Schwächen. Dazu gehört die Schwächung der Bürgerrechte, wenn es um die informationelle Selbstbestimmung geht - eine Schwächung allerdings, die von einer Mehrheit der Bevölkerung mitgetragen wird, und sei es duldend - aus Angst vor Teroranschlägen.

Und es gehört dazu, um noch einmal von mangelnder Selbstreflexion zu reden, eine allzu bedenkenlose Bereitschaft vieler Liberaler, sich um das Zentralkomitee Weiße Haus zu scharen, wenn es von Unholden wie etwa Edward Snowden "angegriffen" wurde.

Das wisse man ja alles schon, und es sei zum Teil außerdem unwahr, beschwerte sich Bob Cesca im "Daily Banter". Michael Moynihan warnte im "Daily Beast" vorsichtshalber schon einmal davor, Snowden "zum Gott zu erheben". (Nicht zu reden von Julian Assange, der in der ecuadorianischen Botschaft in London "ein wütendes und asketisches Leben" führe - noch so ein wütender weißer Mann.)

Und sicherheitshalber - viel hilft viel - noch einen ordentlichen Schlag Rufmord obendrauf:

Edward Snowden, ein 29jähriger früherer CIA-Mitarbeiter und zur Zeit ein Auftragnehmer der Regierung, hat Nachrichten von NSA-Programmen geleakt, die enorme Mengen an Information über von Millionen Amerikanern geführte Telefongespräche, Emails und andere Dateien ausländischer Ziele und ihrer amerikanischen Verbindungen enthalten. Dafür preisen ihn manche, darunter mein Kollege John Cassidy, als Helden und Whistleblower. Er ist weder das eine noch das andere. Er ist vielmehr ein pompöser Narzisst, der ins Gefängnis gehört.

Edward Snowden, a twenty-nine-year-old former C.I.A. employee and current government contractor, has leaked news of National Security Agency programs that collect vast amounts of information about the telephone calls made by millions of Americans, as well as e-mails and other files of foreign targets and their American connections. For this, some, including my colleague John Cassidy, are hailing him as a hero and a whistle-blower. He is neither. He is, rather, a grandiose narcissist who deserves to be in prison.

So kann Liberalismus nicht gut funktionieren, und linker Liberalismus schon gar nicht.

Die letzte Schimäre, der der superkluge urbane Liberalismus in weiten Teilen aufsaß, war die von der "weggeworfenen Stimme" für Drittkandidaten. Aber auch hier gilt eine neue Realität: Clinton hat verloren.

Da hätten ihre Wähler durchaus auch Jill Stein →wählen können, sofern ihnen Clintons fischig riechende Kandidatur stank. Der Griff zu einer vergleichsweise konstruktiven alternativen Kandidatin wäre der überzeugendste Aufruf zur Reform der Demokratischen Partei gewesen, den man hätte starten können. Das Ausfüllen des Wahlzettel ist nicht nur ein Appell - es ist eine Tat, die mehr bewegen kann als tausend Worte.

Obamas Präsidentschaft war ein Fortschritt. Ihn zu wählen, gab es viele gute Gründe, sowohl 2008 als auch 2012. Aber es taugt nichts, so "klug" wie ein Politiker sein zu wollen, oder sich in einer völlig unübersichtlichen Umwelt in Taktierereien zu verlieren, mit denen selbst Profis manchmal überfordert sind.

Das Wort Wahl kommt von Wählen - nicht von "Ausschlussverfahren". Wählen soll man, was man für das Beste hält, und nicht das angeblich "kleinere Übel".

Nicht alles ist schlecht am 8. November 2016. Amerika, und wir, können aus dem Tag lernen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

JR's China Blog

Ich bin ein Transatlantiker (NAFO)

JR's China Blog

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden