Diskriminierung: wer ist benachteiligt?

Menschenrechte. Pegida löst vielfach Abscheu aus. Aber die Abscheu des Establishments gegenüber verunsicherten Spießbürgern ist selektiv.

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Pegida holt vorurteilsbeladene Menschen dort ab, wo sie stehen. Nicht, um sie von etwas Neuem zu überzeugen, sondern um sie in einem Generalverdacht zu bestätigen, die sie ohnehin schon hegen. Allein mit dieser Methode kann man in Dresden etliche tausend Bürgerinnen und Bürger auf die Straße bringen. Vorausgesetzt, man verleiht weit verbreiteten Befürchtungen hinsichtlich des Islam öffentlichkeitswirksame Worte. Und vorausgesetzt, man appelliert an eine autoritäre Traditionslinie, die allerdings, um mit der geltenden freiheitlichen Verfassung argumentieren zu können, die paradoxe Ansicht vertreten muss, man könne Menschen einer solchen Verfassung unterwerfen.

Überraschend ist es nicht, dass eine so grob wie möglich und so konkret wie nötig definierte Bewegung Zulauf erfährt. Ein erheblicher Teil der Bevölkerung fühlt sich - zu Recht oder Unrecht - diskriminiert. Es gibt eine mehr oder weniger offizielle Sicht darauf, welche Bevölkerungsgruppen diskriminiert werden (und welche nicht), und es gibt eine mehr oder wenige inoffizielle Antworten auf die gleiche Frage. Mit dem Auftreten von "radikalen" Parteien wie der AFD oder den Piraten, mit Podemos oder aber auch mit der Pegida-Bewegung, werden die eher inoffiziellen Sichtweisen zwar noch lange nicht amtlich, aber sie werden öffentlich wahrnehmbar. Sie werden Öffentlichkeit.

Und wenn etwas öffentlich verhandelt wird und sich nicht mehr ignorieren lässt, rücken Befürchtungen wie jene näher, mit der der "Freitag" diese Woche den früheren Barroso-Berater Philippe Legrain zitiert:

"Wenn die Wirtschaft noch weitere ein oder zwei Jahre nicht wächst, dürften die Mächtigen nervös werden. Ein Aufstand ist nicht so weit weg, wie man meinen könnte. Die Regierungen haben offenbar keine Ahnung, was sie machen sollen." ("Der Freitag", 11.12.14, S. 5f.)

Die Regierenden wissen aber auch: es gibt unter Denjenigen, die sich diskriminiert fühlen, überwiegend keine Kohäsion oder Solidarität, die sich nicht durch Kooption aufbrechen ließe.

Und hier zeigt sich das größte Defizit gefühlt oder tatsächlich Benachteiligter: ihnen fehlt ein Maßstab, an dem sie die Eliten - und sich selbst - einigermaßen verlässlich messen können. Sie möchten sich auf den Weg machen, aber ihnen fehlt der Kompass.

Von Menschenrechten ist manchmal die Rede. Dabei sieht aber jede Gruppe in erster Linie ihre eigenen Menschenrechte. Machos, weiß, von gestern, die heute Frauenrechtlerinnen oder Schwulen- und Lesbenvertretern vorwerfen, sie ließen sich von der staatlichen Macht begünstigen, würden sich zu einem erheblichen Teil auch heute wieder gerne in ihre alten "Rechte" einsetzen lassen - zu Lasten der heute angeblich Gepamperten, gerne auch vom Staat.

Und ein vermutlich noch größerer Teil der alt-neuen Begünstigten würde sich an die wiedergewonnene männliche Souveränität zu Lasten anderer sehr schnell - wieder - gewöhnen.

Das wissen die Regierenden. Das zu wissen und damit etwas anfangen zu können ist aus ihrer Sicht Teil ihres Handwerks. Die chinesische Kommunistische Partei, die sich inhaltlich zugunsten der Machtausübung und zu Lasten ihrer ursprünglichen Ideologie in den letzten drei Jahrzehnten kontinuierlich "erneuert" hat, nennt das "soziales Management". Kurzfassung (stark vergröbert bis verzerrt, in meinen Worten ausgedrückt): man muss nicht die Grundrechte Aller wahren. Es genügt, wenn die Mehrheit der Menschen zufrieden ist und sich am Elend einer menschlichen Minderheit nicht stören muss - sei es, weil die Elenden für sie unsichtbar bleiben, sei es, weil das einzige Mitleid, zu dem sie fähig wären, das Selbstmitleid ist.

Es gibt zwischen Ost und West immer noch erhebliche politische Unterschiede. Auch wer die westlichen Länder nicht ohne Einschränkungen als "Demokratien" bezeichnen würde kommt kaum um die Erkenntnis herum, dass ein gewählter Politiker immer noch über eine ganz andere Legitimation verfügt als ein vom Politbüro oder bestenfalls vom Parteitag einer alleinregierenden Partei ernannter.

Aber unter anderen Aspekten bestehen zwischen chinesischen "Kommunisten" und westlichen "Demokraten" gar keine so großen Unterschiede. Weder die einen noch die anderen setzen das Menschenrecht in der Praxis absolut. Jeder findet Gründe, mit denen er den Entzug von Bürgerrechten oder aber auch Folter akzeptabel, tolerierbar oder zumindest "erklärbar" machen will.

Häufig ist das einer breiten - und gar nicht elitären - Öffentlichkeit durchaus vermittelbar.

Das funktioniert mit einer gesellschaftlichen Selbsttäuschung: dass nämlich jede Bürgerin und jeder Bürger in der Lage sei, das eigene Leben selbst in die Hand zu nehmen, mit einem klugen Sinn dafür, die eigenen Interessen mit denen ihrer Mitmenschen in angemessener Weise in ein für alle akzeptables Gleichgewicht zu bringen.

Als Anspruch wäre diese Vorstellung nicht falsch. Als Realitätsbeschreibung aber ist sie völlig daneben. Denn um einer solchen Realität auch nur näherzukommen, müssten Machthaber und Einflussnehmer der Versuchung widerstehen, die als kompetente Zivilgesellschaft hoch gelobte Öffentlichkeit zu »manipulieren.

Millionen Europäer "funktionieren" zwar einwandfrei, so lange sie für ihre Bosse oder für ihre Kunden arbeiten. Sie sind aber unfähig, ihre eigenen Interessen wahrzunehmen - und sie sind außerdem unfähig, die Interessen von Mitbürgern wahrzunehmen, die auf Schutz vor Diskriminierung vielleicht viel mehr angewiesen wären als sie.

Lebenslügen sind Schönwetterwahrheiten. Beginnt der Regen, zerfließen sie in Selbstmitleid.

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