Ein Land, zwei Systeme?

Revolutionskladde 2016 (3) China ist ein konservatives Land. Das drückt sich auch in Begriffen aus: 1923 gab es die erste "Einheitsfront" der KMT und KP China. Für Beijing bleibt sie aktuell

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Tsai Ing-wen am 10. Oktober 2016
Tsai Ing-wen am 10. Oktober 2016

Bild: SAM YEH/AFP/Getty Images

Als im Oktober 2011 die KP Chinas, unter Mitwirkung ihrer Blockpartei Kuomintang (KMT, chinesischer Zweig der in Taiwan unabhängigen Nationalpartei), eine Gedenkveranstaltung zum hundertsten Jahrestag der bürgerlich-nationalistischen Xinhai-Revolution (von 1911) abhielt, interessierten sich die ausländischen Medien vor allem für zwei Angelegenheiten: zum einen dafür, dass der zwischenzeitlich bereits totgesagte vormalige Partei- und Staatschef Jiang Zemin in der ersten Reihe der Veranstaltung anwesend war, und zum zweiten für den taiwanischen Aspekt der Veranstaltung.

Eingebetteter Medieninhalt

Denn eigentlich war die aus der Xinhai-Revolution hervorgegangene Republik China längst Geschichte, und die 1921 gegründete KP China - so der 2011 amtierende Parteichef Hu Jintao - sei

die entschiedenste Unterstützerin, engste Mitarbeiterin und loyalste Nachfolgerin der revolutionären Sache, die Dr. Sun Yat-sen begann [...]

中国共产党人是孙中山先生开创的革命事业最坚定的支持者、最亲密的合作者、最忠实的继承者,不断实现和发展了孙中山先生和辛亥革命先驱的伟大抱负 ...

Das war eine Anmaßung, wenn man bedenkt, dass Sun Yat-sen Mitbegründer - und für den Rest seines Lebens führendes Mitglied - der nationalistischen Kuomintang-Partei (KMT) gewesen war.

Die Volte war nötig, denn wer der gültige Nachfolger Sun Yat-sens ist, der erbt aus Beijinger Sicht auch Taiwan - ein Land, das von 1949 bis 2000 und von 2008 bis 2016 von KMT-Präsidenten regiert wurde, und dessen offizieller, weniger bekannter Name Republik China lautet.

Hu Jintao bewertete die Revolution von 1911 als eine unvollendete:

Die Xinhai-Revolution stürzte die Qing-Dynastie, beendete die autoritäre Monarchie, die China jahrtausendelang regiert hatte, verbreitete demokratische und republikanische Ideen, und führte die gigantischen, tiefen sozialen Veränderungen im modernen China herbei. Wenn die Xinhai-Revolution auch die halbkoloniale und feudale gesellschaftliche Natur des alten China nicht verändern konnte, und auch nicht die elenden Lebensbedingungen des chinesischen Volkes, auch wenn sie die nationale Unabhängigkeit nicht verwirklichen und die geschichtliche Verantwortung für die Befreiung des Volkes nicht erfüllen konnte, so begann sie doch eine absolut wichtige moderne [jindai - damit ist die Zeit von 1911 bis 1949 gemeint] nationale und demokratische Revolution, förderte kraftvoll die geistige Befreiung der chineischen Nation, und öffnete China die Tür zu einem fortschrittlichen Zeitalter, zu einem Pfad der Entwicklung und zur Suche nach einem Weg des Fortschritts.

辛亥革命推翻了清王朝统治,结束了统治中国几千年的君主专制制度,传播了民主共和的理念,以巨大的震撼力和深刻的影响力推动了近代中国社会变革。虽然由于历史进程和社会条件的制约,辛亥革命没有改变旧中国半殖民地半封建的社会性质,没有改变中国人民的悲惨境遇,没有完成实现民族独立、人民解放的历史任务,但它开创了完全意义上的近代民族民主革命,极大推动了中华民族的思想解放,打开了中国进步潮流的闸门,为中华民族发展进步探索了道路。

Aber nach wie vor war am chinesischen Staatshimmel eine zweite Sonne unterwegs - eben Taiwan, die Insel, auf die die KMT nach dem gegen die Kommunisten verlorenen Bürgerkrieg 1949 geflohen war, und die die Republik China erst vier Jahre zuvor (1945) in Besitz genommen hatte.

Der Bevölkerung nach spielte Taiwan nicht im Entferntesten in der Liga der "Volksrepublik" China, und mittlerweile ist auch der ökonomische Status der Insel - verglichen mit China als der zweitgrößten Wirtschaftsnation der Welt - überschaubar geworden.

Das dürfte der hauptsächliche Grund dafür sein, dass Beijings Konzept einer "Ein-China-Politik" sich international weitgehend durchgesetzt hat. Nach Beijinger Lesart ist diese Politik ein Alleinvertretungsanspruch der VR, der auch maßgeblich zu einer weitgehenden diplomatischen Isolation Taiwans ab den 1970er Jahren beitrug.

Dass dies nicht automatisch zu der von Beijing angestrebten "Wiedervereinigung" der Insel mit dem Festland führt, hat mehrere Gründe.

Zum einen besteht ein altes, aber vertraglich nicht erledigtes Bündnis Taiwans mit Amerika, basierend auf dem Taiwan Relations Act.

Und zum anderen handelt es sich bei Taiwan um eine sich schnell entwickelnde Demokratie. Zur Zeit dürfte sich Beijing damit, Hong Kong politisch zu assimilieren, vollkommen ausgelastet fühlen.

Viele Chinesen sehen in Taiwan vor allem eine "abtrünnige Provinz", die zur Not auch mit einem Krieg "zurückgewonnen" werden müsse. Auch die chinesische Führung hat derart viel Glaubwürdigkeit in ihre Machtansprüche investiert, dass sie mit einem Rückzieher - oder mit zu großer Kompromissbereitschaft - in eine fundamentale Glaubwürdigkeitskrise im eigenen Land geraten könnte.

Neben ideologischen Grundsätzen - nicht zuletzt der Einheit Chinas - spielen auch geopolitische Faktoren eine Rolle - Gründe, die nicht nur die politische Klasse und das Militär Chinas beschäftigen, sondern auch viele - insbesondere jüngere - Normalbürger.

Hinzu kommt der Demokratieaspekt - die Tatsache, dass Taiwans Staat demokratisch verfasst ist. Hier gibt es unter chinesischen Taiwan-Interessierten Ansichten, die von denen der politischen Führung abweichen. Während eine zu schnelle "Einheit mit Taiwan", unter der dazu aus Beijing beworbenen Parole "Ein Land, zwei Systeme", die chinesische Führung in Verlegenheit bringen könnte, ist eine Demokratie just das, was manche - wenn nicht die meisten - Bürger gerne hätten.

Und damit stellt sich die Frage, ob ein Land sich zwei parallel existierende, inländische politische Systeme - eine Diktatur und eine Demokratie - tatsächlich "leisten" könnte. Ungleichheiten gibt es zwar in China ohnehin reichlich, sowohl ökonomisch, als auch vom ethnischen Hintergrund her. Aber mit einem politisch autonomen Taiwan würde in der Frage der politischen Macht ein Zweiklassensystem zwischen Han-Chinesen geschaffen.

Eben dies ist der Hauptgrund dafür, dass Hong Kong bis heute sein Parlament und seinen Chief Executive nicht frei wählen kann - Beijing, gemeinsam mit den Eliten vor Ort, schiebt dem einen Riegel vor. Und die Taiwaner haben neben der Tatsache, dass Beijings "Anspruch" auf Herrschaft über sie inakzeptabel wäre, keinen Grund zu glauben, dass eine Verbindung ihrer Eliten mit den chinesischen nicht in Bälde auch die taiwanische Verfassung erledigen würde. Sie stünde, ähnlich wie übrigens die chinesische, nur noch auf dem Papier.

Die Sehnsucht von Chinesen nach Taiwan - soweit demokratisch motiviert - ist insofern kaum mit den Realitäten kompatibel. Taiwan wäre nicht der Hebel, mit dem eine chinesische Demokratiebewegung die politischen Machtverhältnisse auf dem Festland aushebeln oder auch nur spürbar beeinflussen könnte.

Chang Tieh Chi, ein taiwanisch-Hong Konger Publizist, distanziert sich denn auch von einer - in diesem Falle demokratischen - Einheitsfront zwischen VR China und Republik China.

Möglicherweise zu Recht unterstellte er vielen chinesischen Demokratieanhängern eine "romantische" Sicht auf Chiang Ching-kuo, der Taiwan von 1978 bis 1988 als Präsident regierte und unter dessen Schirmherrschaft das von seinem Vater Chiang Ching-kuo Chiang Kai-shek errichtete autokratische System nach und nach zu bröckeln begann.

Die Vorstellung mancher Chinesen, die demokratischen Anfänge Taiwans seien auf Chiangs Initiative erfolgt, seien falsch, so Chang: vielmehr sei Chiang den Demokratieforderungen aus der Öffentlichkeit nach und nach entgegengekommen:

[...] Als Chiang Ching-kuo 1986 beschloss, politische Reformen ins Werk zu setzen, traf er die vernünftigste und am wenigsten verlustreiche Wahl. Im politikwissenschaftlichen Sprachgebrauch wägen autoritäre Herrscher die "Kosten einer Niederschlagung" und die "Kosten der Toleranz" gegeneinander ab, wenn sie einem Reformdruck des Volkes gegenüberstehen. Wenn der politische Reformdruck einen Punkt erreicht hat, an dem die Herrscher ihn nicht mehr ignorieren können, und wenn Unterdrückung beim Machterhalt nicht mehr hilft, werden Herrscher die Opposition mit einiger Wahrscheinlichkeit tolerieren, die Unterdrückung aufgeben, und zur Verlängerung ihres Regimes Reformen durchführen. Genau das passierte in den mittleren und späten 1980er Jahren in Taiwan.

[...] When Chiang Ching-kuo decided to implement political reforms in 1986, he was making the most reasonable, least costly choice. In the parlance of political science, authoritarian rulers would weigh “the cost of a crackdown” and “the cost of tolerance” when faced with pressure for reform from the people. Once the pressure for political reform has reached a point when rulers cannot ignore it anymore and when suppression does not help to maintain power, or in other words, when the cost of tolerance is smaller than the cost of a crackdown, rulers will likely tolerate the opposition, give up cracking down, and implement reform to prolong their regime. This was precisely the situation in Taiwan in the mid and late 1980s.

Changs Fazit:

Man kann sagen, dass Chiang Ching-kuo ein kluger Herrscher war, der angesichts demokratischen Drucks beschloss, nichts gegen den Strom der Zeit zu unternehmen. Das ist ein wichtiger Unterschied zwischen ihm und anderen Diktatoren.

We can say that, Chiang Ching-kuo was a wise ruler who, in the face of democratic pressure, decided not to do something against the tide. This is an important difference between him and other dictators.

Ich verstehe, dass manche Festlandsautoren Chiang Ching-kuo romantisieren, aufgrund eines Verlangens nach einem ähnlichen Führer. Aber wenn sie das tun, analysieren sie Taiwans Geschichte nicht um seiner selbst willen. Sie werden vergeblich auf Reformen warten, wenn sie die wirklichen Gründe nicht verstehen, aus denen manche Herrscher Reformen wählen.

I understand that some mainland authors romanticize Chiang Ching-kuo out of a desire for a similar leader in China. However, when doing so, they are not analyzing Taiwanese history for its own sake. They will be waiting for reform in vain if they don’t understand the real reasons why some rulers choose to reform.

Wenn Chang von Reformen schrieb, bezog er sich auf den Wunsch nach politischen Reformen, in Richtung Demokratie. Reformen hatte es in Taiwan schon lange gegeben - und interessant ist nicht zuletzt die Frage, warum der KMT in Taiwan gelang, woran sie in China gescheitert war.

Sowohl amerikanischer Druck als auch innere KMT-Initiativen, nicht zuletzt getragen von Chiang Ching-kuos und ähnlich gesonnenen Reformern, hatten unter Chiang Kai-sheks Duldung in Taiwan zu einer Bodenreform geführt. Darauf baute Taiwan eine landwirtschaftliche Modernisierung und eine wirtschaftliche Entwicklung auf, die längst OECD-Niveau erreicht hat.

In China war der KMT nicht einmal der erste Schritt - eine Bodenreform - nachhaltig gelungen - ein Argument zugunsten der Rede Hu Jintaos von 1911, der zufolge die KPCh die Nachfolgerin Sun Yatsens sei.

Neben den überschaubaren Verhältnissen in Taiwan - die Chiang-Dynastie regierte dort ja kein Imperium mehr - bestand ein günstiger Faktor für die Bodenreform darin, dass die KMT keine engen Verbindungen zu - geschweige Verfilzungen mit - den örtlichen Eliten hatte. Die Singapurer Zeitung "Lianhe Zaobao" zitierte den taiwanischen Politikwissenschaftler Lee Yeau-tarn mit dem Argument, in China sei die KMT in ein Beziehungsgeflecht mit dem despotischen Landadel [ein etwas komplizierter Begriff - auch nach dem Ende der Monarchie gab es eine ländliche Oberschicht, die ähnlich ausbeuterische und "feudale" Funktionen erfüllte wie ihre Vorgänger der Kaiserzeit - sowohl Gustav Amann als auch der China-Historiker John Fairbanks gingen auf ihre Weise darauf ein] verwickelt gewesen.

Auf Taiwan hatten die KMT-Funktionäre und mitgebrachten Eliten keine großen Probleme damit, örtlichen Interessengruppen rücksichtslos auf die Füße zu treten: es waren ja nicht ihre Leute [zijiren].

So gesehen hatte letztlich die KMT die Vorstellungen Sun Yat-sens - von Nationalismus, Demokratie (oder Volksrecht) und Volkswohlfahrt - im kleinen taiwanischen Rahmen vergleichsweise "loyal" umgesetzt.

Damit übt sie auf viele Festlandchinesen eine - aus Sicht taiwanischer Nationalisten allerdings zweischneidige - Faszination aus. Das drückt sich sowohl in der oben zitierten Widerrede Changs an einen chinesischen Autoren aus, als auch in der Chinapolitik der stärker insular geprägten Demokratischen Fortschrittspartei (DPP), deren seit Mai des Jahres amtierende Präsidentin → Tsai Ing-wen bei ihrem Amtsantritt auf Abstand zu chinesischen Identitätsforderungen bedacht war.

Ihr KMT-Vorgänger im Amt, Präsident → Ma Ying-jeou, hatte das anders gesehen: er betonte zwar Taiwans demokratische Identität, hatte aber keine Probleme damit, wenn Festlandchinesen Chiang Ching-kuo, seinen politischen Mentor, idealisierten. Im Gegenteil: er leistete der Vorstellung, Chiang sei gewissermaßen der Vater der chinesisch-taiwanischen Demokratie gewesen, →gerne Vorschub.

Auch so reklamiert man Sun Yat-sens politisches Erbe - allerdings höchst indirekt.

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