Innerster Zusammenhalt einer Zivilisation

Endlosschleife ---

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Vier Bände umfasst Heinrich August Winklers "Geschichte des Westens", für den er am Mittwoch abend den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung erhielt. Da drängt sich die Frage auf, wer, außer der Jury und dem Laudator, das ganze Werk eigentlich gelesen hat1), und inwieweit das für die Anteilnahme der Öffentlichkeit daran von Belang ist.

In einer liebevollen Besucherbeschreibung notiert Annette Riemers, eine Korrespondentin der "Jungen Welt":

Dankbares Publikum findet sich hier allemal, denn genügend Messebesucher sind unkundig genug, den großen Bernhard Schlink mit Peter Krause aus Oebisfelde-Weferlingen zu verwechseln und auf jedem Plakat den nächsten großen Trend der Branche auszumachen. Wenn auch nie alles gekauft oder auch nur angelesen werden kann: Zumindest ein Autogramm von Ranga Yogeshwar wird drin sein müssen.

Der potenzielle Winkler-Leser (→JR) sucht und findet2) eine Leseprobe. Und die enthält, in der Einleitung zum vierten Band, ein Glaubensbekenntnis:

Das Projekt der atlantischen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts war klüger als die in männlichen und rassischen Vorurteilen befangenen Verfasser der ersten Menschenrechtserklärungen. Es bildete immer auch ein Korrektiv zur Praxis des Westens, auf das sich alle berufen konnten, denen einige oder sogar alle Menschenrechte vorenthalten wurden.

Und JR ahnt: hier besteht Aussicht, auf vielen Seiten des Werks zum einen informiert, und auf nicht wenigen davon feierlich, von den Höhen großer Wissenschaft, in seinen Überzeugungen und Ansichten bestätigt zu werden.

Entschieden geht es auch wenige Absätze später weiter:

Solange [die unveräußerlichen Menschenrechte universellen Charakters] nicht weltweit umfassend verwirklicht sind, bleiben die Ideen von 1776 und 1789 ein unvollendetes Projekt. Der Westen gäbe sich selbst auf, wenn er sich mit diesem Zustand abfinden würde.

Winklers Laudator Volker Ullrich interpretiert:

[Winklers] Credo lautet unverändert: Der Westen darf den universalen Anspruch der unveräußerlichen Menschenrechte nicht aufgeben, muss aber auch der Versuchung widerstehen, sein Modell kulturell anders geprägten Gesellschaften aufzuzwingen. Das Beste, was er tun kann, ist, sich immer wieder auf das zu besinnen, was ihn im Innersten zusammenhält: auf jenen Wertekanon, dessen subversive Kraft nach wie vor ungebrochen ist.

Winkler schreibe "eine elegante, menschenfreundliche Prosa", so Ullrich,

Und er versteht es, eine schier erdrückende Stofffülle zu bändigen und die Vielfalt der Aspekte zur meisterlichen Synthese zu bringen. So kann auch ein breites, historisch interessiertes Publikum Gefallen an seiner Darstellung finden, und es ist kein Zufall, dass seine „Geschichte des Westens“ geschafft hat, was Büchern dieser Qualität normalerweise nicht gelingt – nämlich in die Bestsellerlisten vorzustoßen.

Der Propagandaforscher Jacques Ellul äußerte in den 1960er Jahren in einem ausführlichen Nachdenkwerk die Ansicht,

dass Propaganda ein Bedürfnis des modernen Menschen erfüllt, ein Bedürfnis, das in ihm ein unbewusstes Verlangen nach Propaganda hervorruft. Er ist in einer Lage, in der er Hilfe von außen braucht, um seinen Zustand durchhalten zu können."3)

Eine Analyse von Propaganda zeige, dass

sie vor allem erfolgreich ist, weil sie genau einem Bedürfnis der Massen entspricht. Merken wir uns nur zwei Aspekte davon: das Bedürfnis nach Erklärungen und das Bedürfnis nach Werten, die beide größtenteils, wenn auch nicht gänzlich, der öffentlichen Verbreitung von Nachrichten entspringt. Wirkungsvolle Propaganda muss Menschen eine allumfassende Sicht auf die Welt ermöglichen, eher eine Sicht als eine Doktrin. Solch eine Sicht wird vor allem ein allgemeines Panorama von Geschichte, Wirtschaft und Politik umfassen. Dieses Panorama selbst ist die Grundlage für die Kraft von Propaganda, weil sie Rechtfertigung bietet für die Handlungen derer, die Propaganda betreiben. Es geht darum zu zeigen, dass man in die Richtung der Geschichte und des Fortschritts unterwegs ist. Dieses Panorama ermöglicht es dem Einzelnen, allen Nachrichten, die er erhält, die passende Zuordnung zu geben: kritisches Urteilsvermögen auszuüben, bestimmte Tatsachen scharf zu betonen und andere zu unterdrücken, je nachdem, wie sie in das Bezugssystem passen. Dies ist ein notwendiger Schutz dagegen, von Fakten überflutet zu werden, ohne in der Lage zu sein, eine Perspektive herzustellen.4)

Wenn Winkler mit Blick auf das Jahr 2008 schreibt,

Die Welt war wieder multipolar geworden. Die Vereinigten Staaten hatten durch den unter fadenscheinigen Gründen begonnenen Irakkrieg von 2003 ihr moralisches Ansehen weltweit aufs Spiel gesetzt und wichtige europäische Verbündete gegen sich aufgebracht. [...],

dann quantifiziert er zwar das amerikanische "moralische Ansehen" nicht, lässt es aber in Verbindung mit "weltweit" groß aussehen. Und wenn er schreibt, die Bosnienkonferenz in London im August 1992 habe "die Leistung von humanitärer Hilfe auf jede Weise" sicherstellen wollen, "nicht zuletzt deshalb, weil sich nur so der Strom von bosnischen Flüchtlingen nach Mittel- und Westeuropa, vor allem nach Deutschland, eindämmen ließ" (S. 27), dann schlägt das einen Bogen in die deutsch-syrische Gegenwart, ist für den Leser auch einleuchtend, aber bestenfalls mit einigem Aufwand überprüfbar.

In dem Licht, dass ein Massenmensch ohne Propaganda nicht leben könne, taugt es allerdings nicht unbedingt, sich die Autoren auszusuchen, denen man speziell Propaganda vorwerfen will. Elluls Propagandabegriff ist so umfassend, dass es schwierig scheint, Texte zu finden, die ihm nicht entsprächen.

Das Problem des Steckenbleibens bei behaupteten Zusammenhängen hat ein selbst nicht sachkundiger Leser immer bzw. spätestens an dem Punkt, an dem er selbst aus zeitlichen oder persönlicheren Gründen nicht anderswo weiterlesen, recherchieren oder gegenprüfen will oder kann.

Den Zustand erreicht - früher oder später - jeder. Dann hängt er wieder in der von Ellul beschriebenen Endlosschleife.

Aber mit Niveau - vor den Feuilletonisten muss er sich nicht verstecken.

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Notes

1) Ich nicht.
2) im Internet, nicht in Leipzig
3) Für die Browsersuche:
But I think that propaganda fills a need of modem man,
4) Ellul, S. 146 f. Browsersuche:
that it succeeds primarily because it correspond*

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Geschrieben von

JR's China Blog

Ich bin ein Transatlantiker (NAFO)

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