Ist Corbyn ein Premierminister?

Noch ein Hoffnungsträger Corbyn mag gewinnen oder verlieren: was wir heute über die Medien verfolgen, gab es schon oft. Daraus Schlüsse zu ziehen, empfiehlt sich im einen wie im anderen Fall.

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Die Schlacht um die Labour-Parteiführung ist zu Ende. Oder auch nicht: wenn Jeremy Corbyn als Gewinner bekanntgegeben wird, geht sie nämlich weiter. Nach dem Kampf ist vor dem Kampf. Das Labour-Establishment, das vermutlich mittlerweile den Urhebern der Urwahl-Idee die Pest an den Hals wünscht, wird ein ihr nicht genehmes Wahlergebnis nicht auf sich beruhen lassen, und der größere Teil der Presse wird es auch nicht tun. Bevor Corbyns Vorstellungen auch nur in der Labour-Partei verankert sind, werden er und seine Unterstützer lange und klug kämpfen müssen, und Glück brauchen sie dabei außerdem.

Wenig Argumente

Was am Ringen um die Führung auffällt, ist die Seltenheit von Argumenten. Das drückte sich besonders deutlich in einem - kein Link - Blog aus, der Jeremy Corbyn dafür kritisierte, für den iranischen Propagandakanal "Press TV" gearbeitet zu haben. Nachdem die konstruktiver tönende Propaganda versagt hatte, musste das unweigerlich kommen: der gehört nicht zu uns Der gehört zu denen. Die Ironie lag darin, dass der um die Oppositionspartei besorgte Blogger ein Tory war.

Labour werde am Wahltag abgeschlachtet werden, barmte er. Oder schlimmer noch: womöglich würde aufgrund einer jetzt noch nicht absehbaren Katastrophe die regierende Partei (also seine eigene) ins Stolpern geraten und damit den Weg für eine Corbyn-geführte Labour-Partei freimachen.

Das soll nicht heißen, dass es überhaupt keine Argumente gab. Vom Himmel der Elder Statesmen gab zum Beispiel Tony Blair seiner Partei im Juli fünf Handlungsvorschläge, von denen sich eine - die zweite - mit Corbyns erklärten Zielen deckte, und von denen keine Corbyns Zielen erkennbar widersprach:

1. Get thinking about ‘real policy not one liners which make a point’
2. Regain economic credibility
3. Learn from forward thinking Labour councils
4. Develop a dialogue with business about their challenges and needs
5. Work out what a political organisation looks like today

So weit, so konfliktfrei, könnte man meinen. Aber Blair sah das anders. Es könne sich keine Umstände vorstellen, unter denen er Corbyn unterstützen würde, so Blair. Das war kein Widerspruch zu seinen Ratschlägen an seine Partei, denn was Blair der Öffentlichkeit als einen Fünfpunkteplan verkaufen wollte, waren beliebig interpretierbare Sprechblasen. So macht "man" Wahlkampf, und genau davon hat die Basis die Schnauze gestrichen voll.

Aber Corbyn hat ein Problem, selbst wenn er heute zum Parteichef ausgerufen wird. Das Problem liegt nicht im harten Kern, sondern im weiteren Umkreis seiner Unterstützer. Dem Berliner Blogger David Gutensohn zufolge sind es

» vor allem die jungen Brit*innen, bei denen Corbyn einen hohen Stellenwert genießt. Seit Jahren betrachten sie die Partei als eine beliebige Kraft der Mitte und warten sehnsüchtig auf eine neue linke Bewegung. Mit Corbyn an der Spitze scheint ein neuer Weg zurück zu alter Stärke möglich.

Was ist schon unmöglich? Aber immerhin ist Corbyns Weltbild offenbar erstaunlich positiv - sehr viel positiver als das vieler Konservativer. Vielleicht liegt das daran, dass es eine weniger bittere Erfahrung ist, seinen Überzeugungen auch bei relativer Einflusslosigkeit treu zu bleiben, als die Niederlage zu erleiden die darin besteht, seine Überzeugungen kontinuierlich zu verraten, oder erst gar keine zu haben. Corbyns Bestimmtheit macht neugierig darauf, wie eine Corbyn-geführte Regierung aussehen könnte.

Im Über-Statement der Möglichkeiten liegt gleichzeitig Corbyns Problem: er wirkt kompromisslos. Kompromisse aber wird er machen müssen: noch jeder hoffnungsvolle revolutionäre Amtsneuling wurde von den Akten in seinem Schreibtisch gezähmt, und von den Leuten, die ihn dort telefonisch erreichten. Und das nicht erst in der Downing Street, im Weißen Haus oder im Mahlamba Ndlopfu.

Das heißt nicht, dass Corbyn nichts zum Besseren verändern kann - aber das lässt sich auch von Barack Obama sagen: den industriellen Kern des Landes gerettet und eine fast schon undenkbar erscheinende, nun ja, fast universale Krankenversicherung durch die Lobbies und Institutionen geschaukelt. Darum aber ging es nicht bei Obamas Kandidatur, und darum geht es nicht bei Corbyns. Es geht um Sehnsüchte.

Der integre Politiker

Mindestens eine dieser Sehnsüchte ist sehr alt, und sie ist universell. Wang Yangming, ein Neo-Konfuzianer, glaubte an die Möglichkeit der inhaltlichen und zeitlichen Einheit von Wissen und handeln: inhaltlich, indem der Mensch das Richtige tut, und zeitlich, indem er es bereits tut, während er denkt. Es gab für Wang keine zwangsläufige inhaltliche oder zeitliche Schranke zwischen Wissen und Handeln.

Er neige dazu, immer das Beste in den Menschen zu sehen, wurde Corbyn im Juni vom "Guardian" zitiert (hier auf »Deutsch). Betrachtet man diese "Neigung" als "Wissen", wirkt das wie dem neokonfuzianischen Ideal entsprechend. Vielleicht handelt er nicht nach diesem Wissen, sondern mit diesem Wissen.

Aber was den Anhängern als Tugend gilt, fassen ihre Gegner als Laster auf. Jeremy Corbyn setzte sich für "Botschaftsbomber" ein, berichtete am 1. September der konservative "Telegraph":

Jeremy Corbyn led a campaign for the release of two convicted terrorists who were jailed for their part in the car bombing of the Israeli embassy in London and a Jewish charity building.

Jawad Botmeh and Samar Alami were convicted of conspiracy to cause explosions in the UK in 1996, which injured 20 people. They were jailed for 20 years.

Das ist keine gute Presse für einen Mann, der die wichtigste Oppositonspartei führen und vielleicht auch Premierminister werden will. Aber es lohnt sich, genauer hinzusehen. Zum einen hatte Corbyn in der Vergangenheit häufig den richtigen Riecher für juristische Fehlurteile (vergl. den Juni-Artikel des "Guardian", weiter oben verlinkt). Und was im "Skandal" des corbynschen Engagements leicht untergeht, ist eine kritische Lücke der - seinerzeit gleichwohl nachhaltig erfolgreichen - Anklage gegen Botmeh und Alami: dass nämlich geheimdienstliches Material, das auf andere Verdächtige hindeutete, den Verteidigern der Angeklagten nicht bekannt gemacht wurde.

Was letztlich für oder gegen Corbyn den Ausschlag geben wird - als Kandidat für die Parteiführung oder auch für das Amt des Premierministers - ist heute kaum überschaubar. Falls er es aber über die Zielgerade schafft, die seine Anhänger für ihn definiert haben - und die liegt einstweilen an der Haustür zur Downing Street No. 10 -, wird Corbyn nicht nur Fragen stellen können, sondern auch Antworten geben müssen.

Vielleicht sollte er sich bis dahin schon einmal mit Barack Obama und Alexis Tsipras über das Leben vor und hinter jener Zielgeraden unterhalten.

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