Joachim Gaucks "Gratwanderung" in China

Selektive Wertschätzung Über China lässt sich mit Gauck eher reden als über Russland. Der Grund dafür könnte in seinem Fortschrittsbegriff liegen.

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Präsident, Posterboy, Fotomodell: Gauck in der Tongji Universität in Shanghai
Präsident, Posterboy, Fotomodell: Gauck in der Tongji Universität in Shanghai

Foto: Johannes Eisele/Getty Images

Wer mit Hilfe medialer Berichterstattung Gaucks Chinareise zu rekonstruieren versucht, braucht einen (mutmaßlich) erklärenden oder bezeichnenden Moment als Einstieg. Nehmen wir die Rede des Bundespräsidenten an der Tongji-Universität und den Vorlauf und Nachgang dazu, auf dem Unigelände.

Gaucks Einstimmungsrede ("keynote speech") laut Uni-Bericht, deren MR-Teil die Hochschulleitung pietätvoll und ohne Verlegenheit aus ihrer Berichterstattung wegzensierte, verdient dabei ebenso Beachtung wie seine prominente Begleitung: laut dem selben Bericht war der Parteisekretär der Universität, Yang Xianjin, dieser Begleiter. In Gaucks Rede fand er - zumindest laut Manuskript - gar keine Erwähnung; Universitätspräsident Pei Gang hingegen tauchte gleich in der Einleitung auf.

Überhaupt, die Partei. Gleich zu Beginn seines Aufenthalts, noch vor seinen ersten Begegnungen mit Partei- und Staatschef Xi Jinping und dem Staatsratsvorsitzenden (in etwa Regierungschef) Li Keqiang, besucht Gauck die Zentrale Parteihochschule in Beijing, deren Rektor das ständige Politbüromitglied Liu Yunshan ist: getreu dem Grundsatz der KP China, dass, wer als Ausländer China verstehen wolle, die KP verstehen müsse.

Wer sich - als deutscher Inländer - erinnert, wie besorgt Joachim Gauck vor weniger als anderthalb Jahren auf die Aussicht reagierte, die Linkspartei federführend an der Thüringer Regierung zu sehen, kann sich nur wundern über die kritiklose Unterstützung des deutschen Präsidenten für einen deutsch-chinesischen Jugend- und Akademikeraustausch. Wenn eine demokratisch gewählte Landtagsfraktion als hauptsächliche Regierungsfraktion den Bundespräsidenten derart beunruhigt: ist dann eine Kooperation mit Beijing auf dem Gebiet der Bildung und Erziehung kein Problem? Deutsche Medien, die ihre Aufgabe ernst nähmen, müssten ihn das fragen.

Vielleicht liegt die Antwort in einem Online-Artikel des von chinesischen Dissidenten getragenen Kurzwellensenders "Sound of Hope". Sie zitierte am Sonntag den Präsidenten aus einem Interview, das er 2007 "Radio Free Europe" (RFE/RL) gegeben habe: die kommunistische Diktatur [der UdSSR] sei nicht nur darum abzulehnen gewesen, weil jenes üble System vielen Menschen Schaden zugefügt habe, sondern auch, weil sie eine Zeit des Rückschritts gewesen sei.*)

Tatsächlich hegten chinesische Menschenrechtsaktivisten vor Gaucks China-Besuch große Hoffnungen, so "Sound of Hope": der Menschenrechtsanwalt Mo Shaoping glaube, Gauck sei der Richtige, um der Besorgnis hinsichtlich seiner inhaftierten Kolleginnen und Kollegen nachdrücklich Ausdruck verleihen, weil er beides erlebt habe: politischen Autoritarismus und Demokratie.

Die indirekt parteieigene, außenpolitisch fokussierte Zeitung "Huanqiu Shibao" schrieb in einem Onlineartikel am Dienstag, es gebe unter Dissidenten gewisse "naive Erwartungen" an den deutschen Präsidenten mit seiner ostdeutschen Vergangenheit. Selbst manche westlichen Medien redeten jedoch von einem "Gleichgewicht", das Gauck bei der Pflege chinesisch-deutscher Beziehungen wahren müsse. Huanqiu schloss mit den Worten:



Gaucks persönliche Erfahrungen haben seinen Menschenrechtsbegriff geprägt. Dafür haben wir größtes Verständnis und größten Respekt. Aber Respekt für die politische Wahl, die Chinas Gesellschaft getroffen hat, muss ein wichtiger Inhalt des Selbstrespekts ausländischer Führer sein. Was dies betrifft, so hoffen wir, dass westliche Führer einen Konsens mit uns finden können, und dass die westlichen Diskurseliten unser Festhalten [an unserem Standpunkt] gewissenhaft abbilden werden.

Auf dem Gebiet der gewissenhaften Abbildung allerdings geht auf chinesischer Seite selbst nicht viel: die Tongji-Universität betont schon in ihrer Wiedergabe das chinesische Interesse - und das der Studenten - an deutscher Umwelttechnik und Umweltschutzerfahrung. Gaucks ausführliche Beschreibung deutscher Menschenrechtserfahrungen - übrigens ein in China durchaus übliches Verfahren, "die Akazie zu meinen, während man auf den Maulbeerbaum zeigt", fällt im Online-Bericht der Uni vollständig aus.

Es gibt eine Nachrichtenschnittmenge, die in den Medien beider Seiten - in Deutschland und China - Verbreitung findet. Aber sie ist nur das, was nach einer rigorosen Vorauswahl vom tatsächlich Geschehenen (bzw. Gesagten) übrig bleibt.

Gauck also fest unter (KP-)Kontrolle?

Dass denn nun doch nicht. Zwar rührte sich laut Donnerstagsausgabe der "Süddeutschen Zeitung" im Auditorium keine Hand zum Applaus, als Gauck über Menschenrechte sprach. Aber das wäre auch ein bisschen viel verlangt gewesen: so hätte sich schließlich manche hoffnungsvolle Karriere vorzeitig erledigt. Trotzdem werden interessierte Studenten gewusst haben, wen Gauck meinte, als er von denen sprach, die er in Beijing getroffen habe, die gänzlich eigene Wege gehen und der offiziellen Linie im Wege zu stehen scheinen - und die ihn so tief beeindruckt hätten. Einige Momente der Aufmerksamkeit - überhaupt nur des Bemerktwerdens - können von der Staatsmacht isolierten Menschen sehr helfen, wie von Günter Nooke dargestellt:

Was ihm geholfen habe, sagt Nooke, sei die Unterstützung von außen gewesen. Zu wissen, dass es Menschen und Staaten gibt, die einen nicht vergessen haben. Das zu spüren, sagt er, habe Kraft gegeben, Rückhalt, Vergewisserung.



Noch sind Chinas Führer bereit, sich Reden wie die ihres deutschen Gastes anzuhören - bzw., sie zu tolerieren und zu ignorieren. Technologisch hat Deutschland einstweilen viel zu bieten; dafür schaltet man beim Thema Menschenrechte großzügig auf Durchzug, anstatt Anstoß zu nehmen.

Und man selbst weiß der deutschen Seite zu gefallen, wenn es nicht zuviel kostet: Gauck dürfte zu den Politikern gehören, die ihr eigenes Gesicht im Spiegel mit Wohlwollen betrachten - und auch deutsche Normalverbraucher legen viel Wert auf "Gesicht" im Ausland. Das ist keineswegs eine rein amerikanische oder chinesische Obsession.

Kurz: wenn es darum geht, Deutschen - oft sehr wirkungsvoll - den Bauch zu pinseln, bringen chinesische Politiker reichlich Know-how mit:


Deutschland ist bekannt als Land der Philosophen, Wissenschaftler und Musiker,


lobhudelte Anfang 2011 Li Keqiang, damals noch Stellvertreter des Staatsratsvorsitzenden Wen Jiabao, in einem Beitrag für die "Süddeutschen Zeitung", und:


Während Fleiß und Weisheit der Deutschen die Bewunderung der Chinesen genießen, erfreut sich "Made in Germany" wegen hoher Qualität, vorzüglicher Technik und Innovation bei chinesischen Konsumenten großer Beliebtheit. Die Chinesen hegen starke Sympathie für die Deutschen. Während der Expo 2010 in Shanghai haben mehr als vier Millionen Chinesen den deutschen Pavillon besucht, noch mehr Chinesen machten das online oder im Fernsehen. Der erste Preis für die Kategorie Umsetzung des Expo-Themas für den deutschen Pavillon führte dazu, dass die Chinesen Deutschland nun besser verstehen und kennen.

Solche Nettigkeiten ölen die Beziehungen. Und deutsche Weisheiten, die etwas mit Menschenrechten zu tun haben, sind halt Torheiten. Die können ja auch den größten Philosophen mal passieren.

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Note

*) aus der englischsprachigen RFE/RL-Mitschrift vom 27.03.07:

The issue is not simply to delegitimize communism because of the many victims and criminal acts. In this Soviet empire, the wheel of recent political history has been turned backward. All the values that the democratic movement represents in liberal countries -- human rights, civil rights, freedom, autonomy of the law -- has been taken away here. So in the whole postcommunism region, we see a decades-long history of political impotence, arrogance of power, and a consistent failure to legitimize the government though free and fair elections. This has generated a feeling of impotence that we still notice today. 'There's nothing we can do,' says the state's inhabitant. The state's inhabitant is not a citizen, he's a prisoner of the state. This heavy burden has shaped people's mentality. I think that this, aside from the processing of the crimes, is another very important problem.

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Geschrieben von

JR's China Blog

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