Links ist nicht besser als Rechts

Ideologie-Urlaub. Falls mich in Zukunft nochmal jemand fragt, ob ich ein Linker bin, werde ich sagen, ich sei "irgendwie links". So, wie ich Kirchenchrist bin, ohne zu glauben.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Hätte mich vor zwei Jahren jemand gefragt, ob ich ein "Linker" sei, hätte ich ohne Weiteres mit Ja geantwortet. Allerdings ist "links" ein weiter Begriff. Wer links ist, geht vielleicht von der Vorstellung aus, Arbeit müsse Wohlstand für alle Arbeitenden schaffen, vielleicht aber auch davon, der Reichtum einer Gesellschaft müsse allen Bürgern gleichermaßen zugute kommen, unabhängig von ihrer Rolle bei der Schaffung dieses Wohlstandes. Nicht links, sondern spektumsübergreifend, ist in Deutschland das Verständnis, dass es bürgerliche Rechte gibt, die niemandem genommen werden dürfen. Und in etwa spektrumsübergreifend dürfte auch die Auffassung sein, dass eine Gesellschaft gleichberechtigter Menschen, die "auf Augenhöhe" miteinander reden und miteinander (oder gegeneinander) handeln können, ein politisches Ziel sei. Ein Unterschied in der Auffassung könnte darin liegen, dass manche glauben, dieses Ziel sei als mehr oder weniger unveränderlicher Endzustand erreichbar, während andere glauben, es handle sich um ein Ziel, das immer wieder neu anvisiert und immer nur näherungsweise "erreicht" werden könne.

Daran, dass Kapitalisten an einer "Chancengleichheit" auf Wohlstand oder Entwicklung kein Interesse haben, bestehen für mich keine ernsthaften Zweifel. Kapitalismus besteht in der Konzentration von Resourcen auf wenige Schwergewichte - der polypolistische Markt ist eine rein theoretische Spielart der marktwirtschaftlichen Lehre, weit entfernt von der Realität. Aufstiegsförderung wird gelegentlich als politisches Ziel genannt; ein kapitalistisches ist es nicht. Und dass die Konzentration von Resourcen - und politischer Macht bei wirtschaftlichen Unternehmen - die politische Macht tagtäglich überrollt, scheint mir ebenfalls offensichtlich. Trotzdem glaube ich nicht, dass der Kapitalismus "abgeschafft" werden muss. Er darf allerdings kein Gesetzgeber sein. Demokratie ist keine Aktionärsversammlung.

Die Frage, ob der "Links"-Begriff nicht irrelevant sei, ist aber inzwischen auch bei mir angekommen. Dass der Anspruch, "mehr Demokratie zu wagen" oder gleichberechtigten Zugang zu Aufstiegschancen zu schaffen, auch in der Politik längst kein Konsens mehr ist, ändert an meinem Zweifel wenig. Denn den jetzigen Zuständen und Trends gingen mehrere Jahrzehnte hinaus, in denen die Teilnahme und Unterstützung derjenigen gefragt gewesen wäre, die den Nutzen daraus haben sollten. Tatsächlich liefen zumindest in meiner Umgebung während der 1970er Jahre ganz andere Prozesse ab.

Arbeitnehmer waren stolz darauf, ihre Arbeitgeber mit Lohnforderungen zu konfrontieren und dann für einige Pfennige mehr pro Stunde zur Konkurrenz abzuwandern. Dass das eine sehr relative Macht oder "Gleichberechtigung" war, kam ihnen offenbar gar nicht in den Sinn. Dass es außerdem eine sehr wandelbare Situation war, interessierte sie nicht. Und vor ein paar Jahren erklärte mir ein zu relativem Wohlstand gekommener Arbeiter und Sozialdemokrat, der Sozialstaat interessiere ihn nur insofern, als seine Kinder und Enkelkinder davon profitieren sollten. Alles andere sei ihm ziemlich egal. Da er mittlerweile nicht mehr lebt, kann ich ihn nicht fragen, ob er sich als "links" bezeichnet hätte. Solche Signale habe ich häufig wahrgenommen. Ermutigende hingegen - im politischen Sinne - eher selten.

Dass die Situation der 1970er wandelbar war, und dass sie sich seit zwei bis drei Jahrzehnten tatsächlich zunehmend zu Lasten der Arbeitnehmer, Renter, Arbeitslosen, Unterbeschäftigten und Unterbezahlten ändert, führt zu Ängsten und zu Wut. Das wiederum führt auch dazu, dass manche Linke sich nicht klarmachen, dass ein Teil des Wandels damit zu tun hat, dass auch Menschen in anderen Teilen der Welt zu Wohlstand kommen wollen. An einer Regelung der "Klassenbeziehungen", die über Deutschland oder Europa hinausgingen, sind zwar einzelne Linke interessiert, aber längst nicht alle.

Dabei hätten angeblich "machtlose" Bürger in Deutschland in Einzelfällen durchaus - und immer wieder - Möglichkeiten zum politischen Handeln. Es wäre zum Beispiel eine persönliche, aber auch politische Entscheidung, auf die skandalösen Begleitumstände der Vorbereitungen der Fußball-Weltmeisterschaft 2022 in Katar mit einem Boykott der WM zu reagieren. Für mich ist das eine naheliegende Schlussfolgerung. Aber ich kenne in meinem Familien-, Freundes- und Bekanntenkreis bisher niemanden, der sie ebenfalls ziehen würde.

Und während ich darüber nachdachte, drängte sich mir die Frage auf, ob ich diese Begriffe aus dem politischen Spektrum nicht hoffnungslos überschätze. Die Frage wird gerade zur Vermutung.

Ich rede keinem philosophischen oder religiösen Blickwinkel das Wort, aus dem der Mensch jederzeit von Natur aus wüsste, was gut und was schlecht sei. Es ist ja auch kein Zufall, dass viele Weltanschauungen, spätestens nachdem sie zu einiger Verbreitung gekommen waren, nicht mehr ganz ohne Fußnoten zu diesen Gütebegriffen auskamen. Ein Mensch unterscheidet sich von einem Tier vielleicht durch seine Intelligenz, oder durch die Fähigkeit, mit seinen Händen zu arbeiten und relativ komplexe Zielvorstellungen und Taktiken zu entwickeln. Aber sogar Tiere "machen Politik": sie kooperieren, sie entwickeln und erkämpfen Hierarchien, und sie spielen - als Haustiere - Menschen gegen ihre Artgenossen aus. So, wie Menschen es auch tun. "Linke", "Rechte" und "Unpolitische".
Und Wut über Ungerechtigkeiten führt auch links im politischen Spektrum nicht notwendigerweise zu einem Begriff davon, was gut oder schlecht sei, sondern wer gut oder schlecht sei - oder warum sich die Strukturen ändern müssten, bevor sich das eigene Verhalten ändern könne. Linke Positionen können auch widersprüchlich sein.

Es ist aber nicht so, dass finanzielle Mittellosigkeit in allen Fällen zur persönlichen Ohnmacht führt, oder allenfalls eine Wahl zwischen Pest und Cholera lässt. Dafür, dass sich fast niemand Übertragungen der 1. Bundesliga oder auch der Football League Championship "nehmen lassen" möchte, gibt es unter solchen Umständen keinen wirklich guten Grund - es sei denn, der entsprechende Zeitgenosse bereitet sich selbst gerade auf eine Karriere als Profisporter oder als Sportjournalist vor.

Menschen werden vornehmlich als Konsumenten wahrgenommen, sagt die Soziologin Renata Salecl im "Freitag"-Interview. Manchmal ist es ganz gut, wenn ein Konsument sich auch selbst als Konsument wahrnimmt - allerdings als einer, der nicht notwendigerweise immer zu seinem eigenen, unmittelbaren Nutzen entscheiden muss.

Mir selbst erscheint die bewusste "Weltanschauung" zunehmend unwichtig. Das mag daran liegen, dass sich in meinem Alter längst unbewusstere Einstellungen entwickelt und verfestigt haben. Es liegt sicher auch daran, dass die meisten Menschen in meinem Umfeld, die ich schätze, ganz anders ticken als ich, und dass das an meinem Respekt für sie gar nichts ändert. Für mich zählt nicht, was sie denken oder glauben, sondern was sie tun. Unabhängig von dem, was getwistete Bildungskonzepte und manipulierte Presse- und Informationssysteme mit Menschen machen können, entstehen immer wieder Situationen, in denen ein Mensch - unabhängig vom Bildungsgrad oder vom gesellschaftlichen Status - tatsächlich wissen kann, was gut und was schlecht ist. Mehr noch: es gibt Situationen, in denen er noch nicht einmal Mut braucht, um sich nach dieser Erkenntnis zu richten, und damit Einfluss zu nehmen.

Es gibt dabei allerdings Entweder-Oder-Situationen, in denen die Entscheidung für das eine den Verzicht auf das andere bedeutet. Und falls "links" heißt, freiwillig auf nichts verzichten zu wollen, dann ist das eben links. Aber dann ist links nicht gut.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

JR's China Blog

Ich bin ein Transatlantiker (NAFO)

JR's China Blog

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden