Nervenzusammenbruch in der Mitte des Flusses

Wahlkampf in Taiwan Vor drei Monaten nominierte die KMT ihre Präsidentschaftskandidatin. In drei Monaten ist Wahltag. Die Kandidatin schwächelt, und Funktionäre fürchten um ihre Mandate

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Hung Hsiu-chu (KMT, links) und Tsai Ing-wen (DPP)
Hung Hsiu-chu (KMT, links) und Tsai Ing-wen (DPP)

Bild: SAM YEH/AFP/Getty Images

Es hätte so schön werden können: zum erstenmal oblag es im Juli der Parteibasis der regierenden Nationalistischen Partei Taiwans (KMT), den Präsidentschaftskandidaten zu nominieren. Es war - auf dieser Ebene - eine Premiere, ein neuer kleiner Meilenstein, in der inzwischen jahrzehntealten taiwanischen Demokratisierungsgeschichte. Für die 1911 gegründete KMT (Langform: Kuomintang) ein stolzer Moment.

Natürlich konnte auch eine Kandidatin nominiert werden, aber das sah eher nach einer theoretischen Möglichkeit aus. Zwar ist die heutige KMT nicht mehr die Partei, die von 1912 bis zu ihrer Flucht nach Taiwan 37 Jahre später, 1949, China regiert hatte. Die KMT ist auch nicht mehr das politische Feigenblatt für eine Taiwaner Militärdiktatur, wie sie es von 1949 bis in die 1980er Jahre hinein gewesen war, nach ihrer Flucht vor der Festlandsarmee der KP Chinas auf die Insel. Aber konservativer als die größte Oppositionspartei, die Demokratische Progressive Partei (DPP) ist sie noch allemal.

Anfang des Jahres hätte wohl kaum jemand auf Hung Hsiu-chu getippt, die 67jährige stellvertretende Parlamentspräsidentin. Im April warf sie ihren Hut in den Ring.

Sie war die erste Bewerberin um die Nominierung, und sie blieb die einzige. Die Platzhirsche hatten sich am ersten transparenten Auswahlverfahren der Parteigeschichte gar nicht erst beteiligt.

In einem Interview mit dem taiwanischen Auslandsradio RTI, das am 12. Oktober auf Deutsch gesendet wurde1), machte Peng Chien-wen, Professor an der Kunshan-Universität, "die autoritäre Kultur" der KMT für die Abstinenz der hochrangigen Parteifreunde Hungs verantwortlich. Dass z. B. Vizepräsident Wu Den-yih nicht angetreten sei, führte Peng darauf zurück, dass die Parteigranden es für unschicklich hielten, öffentlich für eine Machtposition eigenes Interesse zu zeigen: sie wollten zur Kandiatur gebeten werden.

Hung aber habe "nichts falsch gemacht", so Peng. Sie habe sich korrekt beworben und sei legal zur Nominierung gelangt.

Ähnlich sah es bereits im Juni das Wochenmagazin "Business Weekly". BW zeichnete das Bild einer Kandidatin, die gar nicht in erster Linie die Nominierung gesucht habe oder unbedingt habe gewinnen gewinnen wollen, sondern die angetreten sei, weil sich ansonsten niemand meldete.

Tatsächlich scheint seit Monaten fast alles auf einen Wahlsieg der oppositionellen DPP-Kandidatin Tsai Ing-wen hinauszulaufen, die ihren zweiten Anlauf auf die Präsidentschaft nach 2012 unternimmt. Eine Kandidatur für die KMT erscheint derzeit wenig erfolgversprechend. Es war wohl nicht nur das - in ihren Augen vielleicht tatsächlich unwürdige - transparente Bewerberverfahren, das die Schwergewichte in der KMT abgeschreckt hatte.

Aber nun ist die Partei nervös geworden. Dass die Präsidentenwahlen für die Regierungspartei verloren sind, scheint bereits mehr oder weniger akzeptiert zu sein. Aber das Ausmaß, in dem Hung in den Meinungsumfragen hinter der oppositionellen DPP-Kandidatin Tsai Ing-wen zurückliegt, könnte auch einen Einbruch der KMT in den ebenfalls früh im nächsten Jahr stattfindenden Parlamentswahlen signalisieren.

Ma Ying-jeou, noch amtierender Präsident und ehemaliger KMT-Vorsitzender, war über weite Strecken seiner zwei Amtszeiten unpopulär. Dass er überhaupt wiedergwählt wurde, hatte möglicherweise mehr mit der katastrophalen Amtsführung seines DPP-Vorgängers Chen Shui-bian zu tun als mit dem öffentlichen Vertrauen in Ma. Zwar steht Ma nicht unter Korruptionsverdacht wie seinerzeit Chen Shui-bian in seinen letzten Amtsjahren, aber Mas Entspannungs- und Handelspolitik gegenüber der VR China, das Taiwan als "abtrünnige Provinz" betrachtet und auf die Insel Anspruch erhebt, war umstritten und wurde fortwährend argwöhnisch beobachtet. Ein Meilenstein seiner Amtszeit war das mit Beijing abgeschlossene Handelsabkommen ECFA. Ein "Ausverkauf" Taiwans wurde in dem Zusammenhang insbesondere aus politischen Gründen befürchtet.

An diesem Punkt verband sich Hungs Wahlkampf überaus unvorteilhaft mit der Amtsführung ihres Vorgängers. Bekannt für Geradlinigkeit und kantige Auftritte, streute sie kurz nach ihrer Nominierung Salz in Wunden, die die Öffentlichkeit, und auch die KMT, lieber vergessen hätten. Hatten die KMT und Ma Ying-jeou jahrelang mit der Regelmäßigkeit einer tibetischen Gebetsmühle verkündet, für die Beziehungen zur VR China gelte das Konzept "ein China, zwei Ansichten"2), warf Hung nun einen neuen Slogan in die Debatte: "ein China, eine Ansicht". Man wusste nicht so recht, was das heißen sollte, aber man ahnte es, und man bekam Magenkrämpfe. Dass Hung eine chinesische Nationalistin in bester (alter) KMT-Tradition sei (die das "chinesische Festland" allerdings nicht mehr so erobern würde, wie es sich Chiang Kai-shek in den 1970ern noch vorgestellt haben mag), durfte damit für viele Beobachter als geklärt gelten - und niemand fand das öffentlich gut.

Die oppositionelle DPP, deren Kandidatin Tsai als immer wahrscheinlichere Nachfolgerin Mas gilt, hat sich in den vergangenen acht Jahren von einer strikt an einer offiziellen taiwanischen Unabhängigkeit zum Status Quo einer faktischen, aber nicht verkündeten, Unabhängigkeit hinbewegt. Der Grund dafür ist, dass Beijing eine amtliche Unabhängigkeitserklärung als Kriegsgrund wertet. Schon vor vier Jahren erkannte Tsai auch eine besondere Bedeutung der Republik China für Taiwan an. Am 9. Oktober 2011, einen Tag vor dem republikanischen Nationalfeiertag, erkannte sie an, dass die Republik China von Bedeutung für Taiwan sei, auch wenn Taiwan bei der Gründung der Republik nicht zu ihr gehört habe. Das chinesisch-republikanische Konzept entwickelt sich zunehmend zu einem gemeinsamen Nenner von KMT und DPP: eine Republik China, nicht eine Republik Taiwan, soll offenbar die Eigenstaatlichkeit und Souveränität der Insel sichern.

Aus diesem Arrangement war Hung ausgebrochen. Dass sie sich von der KMT zurückpfeifen ließ, trug zwar zur Resterettung des öffentlichen Vertrauens in die KMT bei, schadete aber Hungs persönlicher Glaubwürdigkeit.

Wenn Hung einmal an eine eigene Chance auf die Präsidentschaft geglaubt haben sollte, und nicht nur als pflichtbewusste Parteisoldatin antrat, hat sie diesen Glauben vermutlich mittlerweile verloren. Weitermachen aber wolle sie trotzdem, erklärte sie wieder und wieder. Und fürchteten nicht viele einflussreiche KMT-Funktionäre, dass ihre Abgeordnetenmandate im Parlament in den Sog des Präsidentenwahlkampfes geraten könnten, würden sie Hung vielleicht gewähren lassen. Auch in der KMT ist der erklärte Wille der Basis in einem Nominierungsverfahren kein Fetzen Papier.

Aber nun geht es ans Eingemachte, und Not kennt kein Gebot. Auf einem außerordentlichen Parteitag am Samstag will die Parteiführung die Reißleine ziehen: auf halbem Wege zwischen Nominierung und Wahltag soll Hung die Kandiatur entzogen werden, und alles andere als die Wahl eines neuen Präsidentschaftskandidaten wäre eine enorme Überraschung.

Ob allerdings Hung, ob Parteichef Eric Chu, oder ein anderer KMT-Funktionär am 17. Oktober (neu) nominiert wird: jeder denkbare Kandidat wird von Anfang an beschädigt sein: Hung als beratungsresistente Egomanin (ein Image, mit dem sie nicht unbedingt fair beschrieben ist), und jeder alternative Kandidat als Putschist. Jede Entscheidung kann die KMT, die trotz einer seit rund dreißig Jahren andauernden "Taiwanisierung" immer noch vielen überzeugten "Festländern" eine politische Heimat bietet, in den nächsten Wochen zerreißen.

Nach monatelanger Schlamperei in der Parteiführung ist effizientes Krisenmanagement gefragt. Andauernde Freude an demokratischen Experimenten lassen erste Informationen über das Parteitagsformat nicht mehr vermuten: nach zwei Stunden soll die morgige Sitzung auch schon beendet sein, berichtete die "China Times" am Dienstag. Hung erhalte gerade mal zehn Minuten Rederecht zu Beginn; danach begönnen die kritischen neunzig Minuten, in denen das Zentralkomitee der KMT einen Antrag zum Widerruf der Nominierung Hungs und zur Nominierung des Parteivorsitzenden Eric Chus durchbekommen wolle.

Soll es ein harmonischer Parteitag mit neu geschlossenen Reihen werden, muss das Management noch ein paar kleine Wunder tun: Hungs Anhänger fordern eine geheime Abstimmung. Selbst wenn Hung Hsiu-chu dann abgewählt und Eric Chu als Kandidat gesetzt wird, könnte sein Ergebnis bei den Delegierten so glanzlos ausfallen, dass man genauso gut an der der bisherigen Kandidatin hätte festhalten können.

____________________

1) Taiwan Monitor, Radio Taiwan International, 12.10.2015

2) Den Autor befällt gerade ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit: wie soll man das alles erklären? Vielleicht hilft "Taiwan Heute" mit einer Definition aus dem Jahr 1997 begrifflich weiter. Ob heute jeder KMT-Funktionär das Prinzip genauso erklären würde wie die Website, darf nicht als sicher gelten.

Hung Hsiu-chu (Kurz-Biografisches)

In der Demokratisierung Taiwans spielte Hung Hsiu-chu von Anfang an eine Rolle. Eine schmalzige englischsprachige Biografie auf Englisch auf der Website des taiwanischen Legislativyuans (in etwa gleichbedeutend mit einem Parlament) beschreibt, wie Hung sich 1989 an den ersten parteiinternen Nominierungen der KMT zu den Parlamentswahlen beteiligte - aus töchterlicher Pietät, um die Bedenken ihres Vaters zu zerstreuen, seine Verfolgung durch den "Weißen Terror" durch die Partei habe auch die Karrierechancen seiner Kinder ruiniert.

Hungs Website beschreibt ihre damalige Außenseiterrolle im Vorlauf zu den Parlamentswahlen noch etwas plastischer: ihr Vorgesetzter in der Parteiadministration war mit ihrer Kandidatur nicht einverstanden und stellte sie nicht von der Arbeit frei. Hung hatte also sie nur an Wochenenden Zeit, ihren Wahlkampf zu führen. An Werktagen vertrat sie auf den Veranstaltungen ein Vetter, der zwar nicht für sie reden konnte, dafür aber ihr Plakat hochhielt. Dieser "stille Protest" soll zur gewünschten medialen Aufmerksamkeit für die Kandidatin geführt haben.

Dass KMT-Establishment hat sich mit der konfliktbereiten Parteifreundin über die Jahre arrangiert. Große Fans dürfte sie unter den Platzhirschen der Partei allerdings kaum haben.

Related

Lack of Progress with China, BBC, 27.07.15
Concession Speech, Tsai Ing-wen, 14.01.12

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

JR's China Blog

Ich bin ein Transatlantiker (NAFO)

JR's China Blog

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden