Norwegens Nobelkomitee auf dem Holzweg

Friedensnobelpreis 2015 Auch wenn Menschen und Organisationen die Auszeichnung verdienen, kann die Entscheidung falsch sein. Oslo liefert dafür Beispiele

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Der Nobel rollt.
Der Nobel rollt.

Foto: Nicholas Kamm/AFP/Getty Images

2010 erschien in der englischsprachigen Welt ein Buch eines norwegischen Juristen. Fredrik S. Heffermehl hatte sich als Teenager mit seinem anstehenden Einberufungsbescheid auseinandergesetzt und dabei ein anhaltendes Interesse an Friedensbewegungen und Friedensbestrebungen gefasst. Als 2007 der frühere US-Vizepräsidente Al Gore als aussichtsreicher Anwärter auf den Preis genannt (und letztlich auch ausgezeichnet) wurde, horchte Heffermehl auf, und begann seinen Angaben nach, sich mit der Entstehungsgeschichte des Friedensnobelpreises und der Geschichte der Verleihungspraxis auseinanderzusetzen.

Heffermehls Argument lautet darauf, Alfred Nobel habe sein Vermächtnis nicht als interpretierbaren, sondern als bindenden Auftrag für die ausführenden Personen verstanden - bindend mithin für das jeweils amtierende Osloer Nobelkomitee, bzw. bindend für das norwegische Parlament. Eine Darstellung der Heffermehlschen Methodik findet sich hier.

Von Alfred Nobels Auftrag weiche das Nobelkomitee immer wieder ab, indem es die Vorgabe des 1896 verstorbenen Stifters ignoriere, den Preis ausgesprochenen Friedens- und Abrüstungsaktivisten zukommen zu lassen. Eine Interpretation, die auch indirekte Beiträge zum Frieden als preiswürdig im Sinne Nobels interpretiere, werde dem Willen des Stifters nicht gerecht.

So betrachtet wäre auch eine Verleihung an Edward Snowden - so wünschenswert sie jedem Unterstützer der Grundrechte erscheinen mag - kaum im Sinne Alfred Nobels. Wer Frieden wirklich will, müsste als erstes zuhören können. Wer einem Testament nicht die ihm zustehende Beachtung schenkt, darf wohl kaum als zuständig gelten. Er gefährdet langfristig auch die Glaubwürdigkeit des Vermächtnisses: mit der Verleihung an Barack Obama und an die Europäische Union praktizierte das Komitee seine Achtlosigkeit seinem historischen Auftrag gegenüber geradezu exzessiv.

Vor allem aber: die Verantwortlichen stellen sich bis heute keiner öffentlichen Debatte über die Vergabepraxis. Norwegische und internationale Medien berichten zwar gelegentlich über die auftretenden Widerprüche, fordern aber das Komitee und das norwegische Parlament zu keiner echten Erörterung heraus, und schon gar nicht zur Rechenschaftslegung.

Nun ist es für 2015 das Tunisian National Dialogue Quartet geworden. Es steht wohl außer Frage, dass Dialog dem Frieden dienlich ist. Das Problem dieser Entscheidung liegt jedoch darin, dass sie den Friedenscharakter des Preises unzulässig weit auslegt und im gerade gewünschten Sinne interpretiert. Dass mithin die Feier der Jasmin-Revolution, auf die diesjährige Entscheidung hinausläuft, vor allem eine Feier eigener Weltanschauungen und Weltentwürfe ist. Darin liegt wohl das Hauptmotiv für den Holzweg, auf dem der Nobelpreis sich nun schon seit Jahren befindet: es bringt auf die Dauer nichts, mit den Preisen, die man verleiht, vor allem - und noch vor den Preisempfängern - seine eigenen Pläne zu feiern.

Wer einen übernommenen Auftrag nicht hinreichend ernst nimmt und Interessen mit ihm verfolgt, die vom Stifter offensichtlich nicht beabsichtigt waren, verliert auf Dauer seine Glaubwürdigkeit. Wenn die erst einmal im Eimer ist, kann das Nobelkomitee in Oslo niemandem mehr entscheidend helfen - weder den Menschen und Organisationen, die auf seinen bis zum Anschlag ausinterpretierten Listen ganz oben stehen, noch den von Alfred Nobel eigentlich gemeinten.

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Zwei Kritiker des Osloer Komitees - Frederik Heffermehl und Tomas Magnusson - reagieren auf die diesjährige Preisverleihung. Sie verweisen dabei auf eine Liste von "25 geeigneten Kandidaten".

Die Liste allerdings weist ihrerseits Probleme auf: sie enthält nicht nur Kandiaten, deren Arbeit die Autoren als unmittelbar zweckdienlich im Sinne Nobels betrachten, sondern auch solche, die "in einem weiter gefassten Verständnis der Absicht Nobels durch Friedensarbeit mit einem hohen Wert und großer Relevanz zur Realisierung der Brüderlichkeit (abgerüsteter) Nationen leisten" oder "durch neue Ideen und Forschung neue Methoden zur zivilisierten, nicht-gewaltsamen wechselseitigen Beziehung zwischen Völkern ermöglicht, die eine Demilitarisierung internationaler Beziehungen ermöglicht".

Auffallend an dieser Liste: sie hebt vorwiegend, wenn nicht ausschließlich, Kandidaten hervor, die sich (den Beschreibungen der Nominierungsliste nach) gegen westlichen oder westlich initiierten Militarismus, oder gegen die Geheimniskrämerei westlicher Behörden richten, oder als neutrale Handreichungen zur Bewältigung von Konflikten und Konfliktfolgen. Das ergibt ein Bild, das unipolarer ist als die Welt an sich.

Sei es aus einer Versuchung heraus, selbst Agendasetting zu betreiben (das nicht zuletzt ist der Vorwurf an das offizielle Friedensnobelpreiskomitee), sei es aus Anerkenntnis einer Notwendigkeit, nicht nur gerechtfertigte, sondern auch öffentlichkeitswirksame Preise zu vergeben: der Verzicht auf eine enge Auslegung des Nobel-Vermächtnisses ist entweder immer ein Fehler, oder er ist keiner.

Edward Snowden - er ist in der alternativen Kandidatenliste aufgeführt - darf als Beispiel gelten. Bei seiner Nominierung wurde offenbar ignoriert oder übersehen, dass Snowden keineswegs Pazifist ist. Er diente vor über zehn Jahren aus Überzeugung in der US-Army, motiviert von der "Befreiung" Iraks. Was ihn letztlich in seiner Motivation erschütterte, war der verlinkten Darstellung im "Guardian" nicht die Anwendung militärischer Gewalt an sich.

Man mag gelten lassen, dass Snowden sich unter dem Fahndungsdruck amerikanischer Behörden nicht so frei äußern kann, dass ein vollständiges Bild seiner Ansichten möglich wird. Aber allenfalls hätte er auf die Waiting-List der alternativen Kandidatenliste gehört.

In einem Al-Jazeera-Gespräch, auf Youtube veröffentlicht am 07.10.15, bringen es sowohl ein Vertreter des Komitees, Kristian Harpviken, als auch Heffermehl, (unfreiwillig?) auf den Punkt. Harpviken erklärt, ein weiterer Kandidat aus China nach Liu Xiaobo sei zur Zeit nicht denkbar, und zwar auch aus Rücksicht auf die chinesischen Behörden. "... but it is equally inconceivable to give a prize to another dissident in this particular situation ..." (Im Kontext hier), und er übt Kritik daran, dass es in den vergangenen Jahren keinen russischen Dissidenten als Preisträger gegeben habe - "despite the very unfortunate developments we have seen in Russia, I think, underlines that dilemma" (dass bis vor kurzem der Vorsitzende des Komitees gleichzeitig Generalsekretärs des Europarats gewesen sei).

Die Herausforderung für Preisverleihungen scheint darin zu bestehen, den Willen des Stifters zu beachten, ohne dabei unspektakulär werden. Denn natürlich muss eine solche Preisvergabe auch öffentlichkeitswirksam sein. Nur so kann sie für Nobels Ziele werben.

Dank an Lurch für seine »Anregung zum Weiterdenken.

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